Urteil des BSG vom 24.04.2014

BSG: Schulausbildung vor Vollendung des 17. Lebensjahres, unterbliebene Korrektur eines bindenden Feststellungsbescheides nach Erlass eines inzwischen bestandskräftig gewordenen Rentenbescheides

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 24.4.2014, B 13 R 3/13 R
Schulausbildung vor Vollendung des 17. Lebensjahres - unterbliebene Korrektur eines
bindenden Feststellungsbescheides nach Erlass eines inzwischen bestandskräftig gewordenen
Rentenbescheides
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12.
Dezember 2012 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt höhere Altersrente unter Berücksichtigung von Anrechnungszeiten
wegen Schulausbildung im Zugunstenverfahren.
2 Für den 1941 geborenen Kläger wurden mit Bescheid vom 8.2.1989 die im
Versicherungsverlauf enthaltenen Daten für Zeiten bis 31.12.1982 verbindlich nach § 1325
Abs 3 RVO festgestellt, darunter elf Monate Schulausbildung vor Vollendung des 17.
Lebensjahres und 35 Monate Hochschulausbildung (insg 46 Kalendermonate). In der
Rentenauskunft vom 8.9.1997 wurden Zeiten vor Vollendung des 17. Lebensjahres nicht
mehr als Schulausbildung erwähnt.
3 Dem Kläger wurde ab 1.6.2001 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach
Altersteilzeitarbeit iHv 2708,69 DM monatlich gewährt (bestandskräftiger Bescheid vom
29.3.2001). Auch hierbei wurden Zeiten vor Vollendung des 17. Lebensjahres nicht als
Schulausbildung ausgewiesen ("keine Anrechnung").
4 Im November 2005 beantragte der Kläger die Neufeststellung seiner Altersrente unter
Berücksichtigung von 46 Kalendermonaten für Anrechnungszeiten mit Schul- und
Hochschulausbildung; er wies auf Urteile des BSG vom 30.3.2004 (B 4 RA 36/02 R - SozR
4-2600 § 149 Nr 1) und des Bayerischen LSG vom 10.8.2005 (L 13 R 4204/03) hin. Die
Beklagte lehnte den Überprüfungsantrag ab (Bescheid vom 20.9.2007). Ein Anspruch auf
Rücknahme des Altersrentenbescheids vom 29.3.2001 bestehe nicht, da zum Zeitpunkt der
Rentenbewilligung Anrechnungszeiten wegen Schulausbildung nur noch ab Vollendung
des 17. Lebensjahres hätten berücksichtigt werden können (§ 58 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB VI).
Aus dem Feststellungsbescheid vom 8.2.1989 könne der Kläger keine höhere Altersrente
herleiten. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom
14.1.2008), ebenso das Klage- und Berufungsverfahren (Urteile des SG München vom
23.4.2009 und des Bayerischen LSG vom 12.12.2012). Das LSG hat zur Begründung seiner
Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Zwar sei der Altersrentenbescheid vom
29.3.2001 nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 30.3.2004 - B 4 RA 36/02 R -
SozR 4-2600 § 149 Nr 1) zur Bindungswirkung von Vormerkungsbescheiden teilweise
rechtswidrig. Da die Schulzeiten vor Vollendung des 17. Lebensjahres infolge einer
Gesetzesänderung (§ 58 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB VI idF des Wachstums- und
Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 25.9.1996, BGBl I 1461) rentenrechtlich
nicht mehr hätten berücksichtigt werden dürfen, hätte die Beklagte den
Feststellungsbescheid vom 8.2.1989 insoweit spätestens im Altersrentenbescheid nach §
149 Abs 5 S 2 SGB VI aufheben müssen. Allein deshalb sei der bestandskräftige
Altersrentenbescheid aber nicht nach § 44 SGB X zurückzunehmen. Denn bis auf den
entgegenstehenden Feststellungsbescheid sei der Altersrentenbescheid recht- und
verfassungsmäßig ergangen (Hinweis auf BVerfGE 117, 272 = SozR 4-2600 § 58 Nr 7;
Senatsurteil vom 13.11.2008 - B 13 R 77/07 R - Juris). Insbesondere sei die
Gesamtleistungsbewertung (§§ 72, 74 SGB VI, Hinweis auf Senatsurteil vom 19.4.2011 - B
13 R 27/10 R - BSGE 108, 126 = SozR 4-2600 § 74 Nr 3) unter Berücksichtigung von
beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten zutreffend berechnet worden.
5 Aus § 44 Abs 1 SGB X könne der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung eines günstigeren
Altersrentenbescheids herleiten. Diese Norm diene allein der Verwirklichung der
materiellen Gerechtigkeit. Der Kläger sei aus dem Restitutionsgedanken von § 44 SGB X
nur so zu stellen, als hätte die Verwaltung von vornherein richtig entschieden (Hinweis auf
BSGE 85, 151, 159 = SozR 3-2600 § 300 Nr 15; BSGE 62, 143, 146 = SozR 5750 Art 2 § 28
Nr 5). Die Beklagte sei bei Erteilung des Altersrentenbescheids verpflichtet gewesen, die
aktuelle Gesetzeslage zugrunde zu legen (Hinweis auf Senatsurteile vom 13.11.2008 - B 13
R 43/07 R - und - B 13 R 77/07 R - beide in Juris). Ein Vertrauen in den Fortbestand des
Feststellungsbescheids sei mit Eintritt der Bestandskraft des Altersrentenbescheids
entfallen (Hinweis auf Bayerisches LSG vom 24.5.2011 - L 6 R 332/10; Steinwedel,
DAngVers 1989, 372, 374; aA Bayerisches LSG vom 17.12.2009 - L 14 R 916/08).
Unanfechtbare Verwaltungsentscheidungen seien nur ausnahmsweise durch eine neue
Sachentscheidung zu ändern. Dies entspreche auch dem Verfassungsrecht (Hinweis auf
BVerfGE 20, 230, 235; BVerfGE 117, 302, 315 = SozR 4-8100 Art 19 Nr 1 RdNr 32). Der
Kläger habe versäumt, fehlerhaftes Handeln der Beklagten innerhalb der geltenden
Anfechtungsfristen geltend zu machen. Diesem Ergebnis stehe auch nicht das Urteil des
BSG vom 30.3.2004 (B 4 RA 36/02 R - SozR 4-2600 § 149 Nr 1) entgegen.
6 Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 64 SGB VI.
Die Höhe seiner Altersrente sei unzutreffend berechnet worden (Hinweis auf BSG vom
30.3.2004 - B 4 RA 36/02 R - SozR 4-2600 § 149 Nr 1). Er beruft sich auf schutzwürdiges
Vertrauen aus dem bindenden Feststellungsbescheid vom 8.2.1989. Da eine Aufhebung
des Feststellungsbescheids nicht mehr möglich sei, hätte die Beklagte die dort
festgestellten Zeiten für Schulausbildung bei der Rentengewährung berücksichtigen
müssen. Im Übrigen sei die Neuregelung von § 58 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB VI (idF des WFG)
eine unzulässige Verkürzung seiner Rentenanwartschaft. Hierzu sei ein Verfahren vor dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anhängig (47505/10). Ein Verstoß
gegen Art 1 des Zusatzprotokolls Nr 1 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten (vom 20.3.1952, BGBl II 1879 bzw vom 17.5.2002, BGBl II 1072,
Eigentumsschutz) sei nicht ausgeschlossen, sodass die Ruhendstellung des Verfahrens
geboten sei. Jedenfalls liege auch eine Rechtsbeeinträchtigung aus Art 3 GG und Art 14
GG vor.
7 Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Dezember 2012 und des
Sozialgerichts München vom 23. April 2009 aufzuheben und die Beklagte unter
Abänderung des Bescheids vom 20. September 2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 14. Januar 2008 zu verpflichten, unter Rücknahme des
Altersrentenbescheids vom 29. März 2001 die Altersrente des Klägers unter
Berücksichtigung der Zeiten der Schul- und Hochschulausbildung entsprechend dem
Bescheid vom 8. Februar 1989 in Höhe von insgesamt 46 Monaten zu
berücksichtigen und zu bewerten.
8 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
9 Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Bei Erlass des
Altersrentenbescheids vom 29.3.2001 habe sie die Zeiten der Schul- und
Hochschulausbildung dem geltenden Recht entsprechend berücksichtigt. § 44 Abs 1 S 1
SGB X sei dahin auszulegen, dass die begehrte Sozialleistung aus materiell-rechtlichen
Gründen zu Unrecht vorenthalten worden sein müsse. Hierfür beruft sie sich auf
Rechtsprechung des BSG (vom 22.3.1989 - 7 RAr 122/87 - SozR 1300 § 44 Nr 38; vom
10.12.1985 - 10 RKg 14/85 - SozR 5870 § 2 Nr 44). Für eine Ruhendstellung des
Verfahrens bestehe kein Anlass.
Entscheidungsgründe
10 Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet.
11 I. Der Senat sieht sich an einer Sachentscheidung nicht gehindert. Die Voraussetzungen
für die Ruhendstellung des Verfahrens (§ 202 SGG iVm § 251 ZPO; vgl BSG SozR 1750 §
251 Nr 1) liegen mangels übereinstimmender Anträge nicht vor (vgl dazu Keller in Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, 10. Aufl 2012, Vor § 114 RdNr 4 mwN). Auch wenn der Kläger
die Ruhendstellung für geboten hält, hat die Beklagte dem widersprochen. Es kommt auch
keine Aussetzung des Verfahrens nach § 114 Abs 2 SGG in Betracht. Der Hinweis des
Klägers auf ein vor dem EGMR anhängiges Verfahren zu Anrechnungszeiten wegen
Ausbildung (47505/10) reicht hierfür nicht aus. Den Urteilen des EGMR kommt lediglich
eine begrenzte materielle Rechtskraft zu, die nach Art 46 EMRK nur für die an dem
Verfahren beteiligten Vertragsparteien verbindlich gilt (vgl BVerfGE 111, 307, 320).
Angesichts der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Frage der Anrechnung
von Schulzeiten ab Vollendung des 17. Lebensjahres und zur rentenrechtlichen
Neubewertung der ersten Berufsjahre (vgl die Nachweise unter II.2.b) besteht kein Grund
für eine Aussetzung des Verfahrens.
12 II. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 20.9.2007 in
Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.1.2008, mit dem die Beklagte es abgelehnt
hat, den Altersrentenbescheid vom 29.3.2001 teilweise, soweit es um die
Berücksichtigung von Anrechnungszeiten für Schulausbildung geht, zurückzunehmen und
dem Kläger unter Zugrundelegung von Anrechnungszeiten wegen Schulausbildung vor
Vollendung des 17. Lebensjahres höhere Altersrente zu gewähren. Die Ablehnung ist zu
Recht erfolgt. Dem Kläger steht keine höhere Rente zu, als ihm mit Altersrentenbescheid
vom 29.3.2001 unter Berücksichtigung der dortigen Anrechnungszeiten wegen Ausbildung
bewilligt worden ist.
13 Einzig denkbare Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 44 SGB X in Bezug
auf den bestandskräftigen Altersrentenbescheid. Das LSG ist zutreffend von einer
kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG;
vgl dazu BSG SozR 4-2600 § 149 Nr 1 RdNr 13 zitiert nach juris) ausgegangen. Die
zulässige Klage ist jedoch nicht begründet.
14 Gemäß § 44 Abs 1 S 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar
geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im
Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem
Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb
Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.
Der in Abs 1 nicht ausdrücklich geregelte Anspruch auf eine Rücknahme mit Wirkung für
die Zukunft ergibt sich aus § 44 Abs 2 S 1 SGB X. Der bestandskräftige
Altersrentenbescheid vom 29.3.2001 ist insofern ein nicht begünstigender Verwaltungsakt,
als er nicht die jetzt begehrte höhere Altersrente unter Berücksichtigung weiterer
Anrechnungszeiten gewährt. In dieser Hinsicht verlangt der Kläger die Rücknahme eines
rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts, durch den Sozialleistungen iS von
§ 44 Abs 1 SGB X zu Unrecht nicht in der begehrten Höhe erbracht worden seien (vgl
BSGE 55, 87, 88 = SozR 1300 § 44 Nr 4; BSG SozR 1300 § 44 Nr 38 S 107).
15 Die Voraussetzung (§ 44 Abs 1 S 1 SGB X), dass bei Erlass des Altersrentenbescheids
das Recht unrichtig angewandt worden sein muss, ist jedoch nicht erfüllt. Selbst wenn der
Altersrentenbescheid allein wegen der unterbliebenen Aufhebung des bindenden
Vormerkungsbescheids objektiv rechtswidrig ergangen ist (1.), kann der Kläger die
Rücknahme des Altersrentenbescheids weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft
verlangen, weil dieser bei seinem Erlass der materiellen Rechtslage entsprach (2.). Auch
aus Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes folgt nichts anderes (3.). Verfassungsrecht
steht dem nicht entgegen (4.).
16 1. Das Recht war bei Erlass des Altersrentenbescheids vom 29.3.2001 insoweit unrichtig
angewandt worden, als die Beklagte es versäumt hatte, nach § 149 Abs 5 S 2 SGB VI (idF
vom 16.12.1997, BGBl I 2970) den Vormerkungsbescheid vom 8.2.1989 spätestens "im
Rentenbescheid" aufzuheben, soweit es um Anrechnungszeiten wegen Schulausbildung
vor Vollendung des 17. Lebensjahres ging. Im Vormerkungsbescheid vom 8.2.1989 waren
- von insgesamt 46 Monaten mit Schul- und Hochschulzeiten - elf Monate vor Vollendung
des 17. Lebensjahres als sog Ausfallzeiten anerkannt worden. Der Begriff
Anrechnungszeit ist in § 58 SGB VI (idF des Rentenreformgesetzes vom 18.12.1989, BGBl
I 2261 mit Wirkung vom 1.1.1992 ) an die Stelle des Begriffs der vormaligen
"Ausfallzeit" getreten (§ 300 Abs 4 S 2 SGB VI; vgl auch BSG SozR 3-2600 § 252 Nr 2 S
9; SozR 4-2600 § 149 Nr 1 RdNr 15 zitiert nach juris). Unerheblich ist auch, dass der
Vormerkungsbescheid nach § 1325 Abs 3 RVO vor Inkrafttreten des SGB VI am 1.1.1992
ergangen ist. § 1325 Abs 3 S 1 und 2 RVO (idF vom 19.12.1986, BGBl I 2586)
entsprechen der Vorschrift des § 149 Abs 5 S 1 und 3 SGB VI (idF vom 16.12.1997, BGBl I
2970).
17 Sinn und Zweck eines Vormerkungsbescheids ist es, bereits im Vorfeld eines
Leistungsfeststellungsverfahrens für den Fall einer zukünftigen Rentengewährung
verbindlich Klarheit über das Vorliegen oder das Nichtvorliegen der tatbestandsmäßigen
Voraussetzungen für die Berücksichtigung von rentenrechtlich relevanten Zeiten zu
schaffen (stRspr, vgl BSGE 56, 165, 171 f = SozR 1300 § 45 Nr 6; BSGE 58, 49, 51 =
SozR 1300 § 45 Nr 15). Der Vormerkungsbescheid, der ein Verwaltungsakt mit
Dauerwirkung ist, stellt rechtserhebliche Tatbestände verbindlich fest mit der Folge, dass
diese Zeiten im Leistungsfall grundsätzlich zu berücksichtigen sind (stRspr, vgl nur BSG
SozR 4-2600 § 149 Nr 1 RdNr 16 zitiert nach juris mwN). Hingegen ist die abschließende
Entscheidung über die Anrechnung und Bewertung dieser Zeiten nicht Gegenstand des
Vormerkungsbescheids (vgl § 149 Abs 5 S 3 SGB VI; BSG SozR 3-2200 § 1325 Nr 3 S 6).
18 Da der Vormerkungsbescheid nicht aufgehoben worden war und sich auch nicht durch
Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt hatte (§ 39 Abs 2 SGB X; vgl dazu BSG SozR 4-
2600 § 149 Nr 1 RdNr 18 zitiert nach juris), waren die dort enthaltenen Regelungen im
Hinblick auf ihren Rechtscharakter und den zeitlichen Umfang für die Beteiligten bindend
(§ 77 SGG) geworden (vgl BSG aaO; ferner Senatsurteil vom 6.5.2010 - B 13 R 118/08 R -
Juris RdNr 16).
19 Dem standen auch nicht die später erfolgten Gesetzesänderungen zur Berücksichtigung
von Ausbildungs-Anrechnungszeiten entgegen (hier durch § 58 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB VI idF
des WFG zum 1.1.1997). Vielmehr stellt § 149 Abs 5 S 2 SGB VI klar, dass auch bei
Gesetzesänderungen die mit der materiellen Rechtslage nicht mehr übereinstimmenden
Feststellungen im Vormerkungsbescheid über Tatbestände von rentenrechtlicher
Relevanz mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben sind (vgl Senatsurteile vom
6.5.2010 - B 13 R 118/08 R - Juris RdNr 16; vom 13.11.2008 - B 13 R 43/07 R - Juris RdNr
16; ferner BSG SozR 4-2600 § 149 Nr 1 RdNr 20 zitiert nach juris). Die Aufhebung des der
geänderten Gesetzeslage nicht mehr entsprechenden Vormerkungsbescheids aber hatte
die Beklagte versäumt. Allerdings hat sie die aktuelle materielle Gesetzeslage bei
Erteilung des Altersrentenbescheids zutreffend umgesetzt (vgl dazu noch unter 2.b).
20 2. Wie der Konflikt zwischen den beiden - sich hinsichtlich der Anrechnungszeiten wegen
Schulausbildung entgegenstehenden - bestandskräftigen Bescheide zu lösen ist, ergibt
sich aus § 44 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB X im Fall der Rücknahme des Verwaltungsakts für
die Vergangenheit bzw nach § 44 Abs 2 S 1 SGB X mit Wirkung für die Zukunft. In
Anwendung dieser Vorschrift genügt die fehlerhaft unterbliebene Aufhebung des
Vormerkungsbescheids allein nicht, um einen Anspruch des Klägers auf Rücknahme des
Altersrentenbescheids und Gewährung einer höheren Altersrente unter Berücksichtigung
der im Vormerkungsbescheid festgestellten Zeiten der Schulausbildung vor Vollendung
des 17. Lebensjahres begründen zu können.
21 a) Während der Wortlaut von § 44 Abs 1 S 1 Halbs 2 SGB X ("und soweit deshalb
Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind") einen Zusammenhang zwischen
der unrichtigen Rechtsanwendung bei Erlass des Verwaltungsakts (hier: unterlassene
Anwendung von § 149 Abs 5 S 2 SGB VI) und dem Nichterbringen der begehrten
Sozialleistung (hier: höhere Altersrente) herstellt, setzt § 44 Abs 2 S 1 SGB X keinen
solchen Zusammenhang voraus (zum Verhältnis von § 44 Abs 1 zu Abs 2 SGB X, vgl
BSGE 61, 184 = SozR 1300 § 44 Nr 26 mwN). Es wäre jedoch nicht folgerichtig, nach
materiellem Recht nicht zustehende Sozialleistungen zwar nicht für die Vergangenheit,
jedoch mit Wirkung für die Zukunft (ab dem Überprüfungsantrag) zu gewähren (vgl
Steinwedel, DAngVers 1989, 372, 373 f). Daher ist insofern eine einheitliche Auslegung
und Anwendung beider Normen geboten.
22 § 44 SGB X soll dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns Geltung
verschaffen und der Verwaltungsbehörde zur Herstellung materieller Gerechtigkeit die
Möglichkeit eröffnen, Fehler, die im Zusammenhang mit dem Erlass eines
Verwaltungsakts unterlaufen sind, zu berichtigen. Hierbei soll nach dem Willen des
Gesetzgebers dessen Rücknahme nur dann in Betracht kommen, soweit eine erneute
Überprüfung der Sach- und Rechtslage ergibt, dass die Behörde zu Ungunsten des
Antragstellers falsch gehandelt hat (vgl BT-Drucks 8/4022 S 82). Ansonsten soll der
Verwaltungsakt bestehen bleiben. Nicht Sinn und Zweck des Zugunstenverfahrens kann
es daher sein, dem Antragsteller mehr zu gewähren, als ihm nach materiellem Recht
zusteht (so BSG SozR 1300 § 44 Nr 38 S 108; vgl Steinwedel in Kasseler Kommentar
Sozialversicherungsrecht, Stand September 2013, § 44 SGB X RdNr 40 ff; ders in
DAngVers 1989, 372, 374). Hierfür lässt sich zudem der Restitutionsgedanke anführen,
der § 44 SGB X allgemein zugrunde liegt (vgl BSGE 62, 143, 146 = SozR 5750 Art 2 § 28
Nr 5 S 13). Nicht zuletzt verfolgt diesen Zweck auch die Regelung des § 48 Abs 3 SGB X,
die verhindern soll, dass die zu hohe Leistung, die durch einen Fehler entstanden ist,
durch eine Veränderung zugunsten des Betroffenen immer noch höher wird; dh materielles
Unrecht soll nicht weiter wachsen (vgl BSG SozR 1300 § 44 Nr 38 S 108 unter Hinweis
auf BSGE 63, 259 = SozR 1300 § 48 Nr 49 und SozR 1300 § 48 Nr 51; vgl auch BSGE
104, 213 = SozR 4-1300 § 44 Nr 20, RdNr 15). Nach diesen Maßstäben lag im Zeitpunkt
der Erteilung des Altersrentenbescheids vom 29.3.2001 ein der materiellen Rechtslage
widersprechender Altersrentenbescheid nicht vor.
23 b) Der Altersrentenbescheid vom 29.3.2001 war im Zeitpunkt seiner Erteilung materiell
recht- und verfassungsmäßig ergangen. Nach § 58 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB VI (idF des WFG)
sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen der Versicherte nach dem vollendeten 17.
Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht hat. Von dieser am
1.1.1997 (durch das WFG) in Kraft getretenen Rechtsänderung war bei Erlass des
Altersrentenbescheids vom 29.3.2001 auszugehen (§ 300 Abs 1 SGB VI). Auf dieser
Rechtslage hatte die Beklagte auch bereits die zutreffende Rentenauskunft vom 8.9.1997
erteilt.
24 Die Vorschrift des § 58 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB VI (idF des WFG), die - im Gegensatz zum
früheren Recht - nur noch solche Zeiten einer Ausbildung als rentenrechtlich erhebliche
Ausbildungszeiten anerkennt, die nach Vollendung des 17. Lebensjahres absolviert
wurden, ist verfassungsgemäß. Entgegen der Ansicht des Klägers handelt es sich nicht
um eine unzulässige Verkürzung seiner Rentenanwartschaft. Der Senat hat sich der
Entscheidung des BVerfG vom 27.2.2007 angeschlossen, mit der es über die im WFG
enthaltene rentenrechtliche Neubewertung der ersten Berufsjahre entschieden hat
(BVerfGE 117, 272 = SozR 4-2600 § 58 Nr 7) und verweist zur Vermeidung weiterer
Wiederholungen auf seine Urteile vom 13.11.2008 (B 13 R 43/07 R; B 13 R 77/07 R - die
Verfassungsbeschwerde gegen das letztere Urteil wurde nicht zur Entscheidung
angenommen: BVerfG vom 7.4.2010 - 1 BvR 718/09).
25 Im Ergebnis hat die Beklagte daher zu Recht 32 Monate an Hochschulausbildung als
beitragsfreie Zeiten (§ 54 Abs 1 Nr 2 SGB VI) und die Zeiträume, in denen neben der
Hochschulausbildung eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt worden ist, als
beitragsgeminderte Zeiten (§ 54 Abs 1 Nr 1b SGB VI) berücksichtigt. Gegen die
Berechnung seiner Altersrente im Übrigen hat sich der Kläger nicht gewandt, und es ist
auch nicht ersichtlich, dass diese unzutreffend erfolgt sein könnte (zur
Gesamtleistungsbewertung nach §§ 72, 74 SGB VI bei schulischen Ausbildungszeiten
nach § 58 Abs 1 S 1 Nr 4 SGB VI idF des WFG vgl Senatsurteil vom 20.10.2010 - B 13 R
23/10 R - Juris; BSG SozR 4-2600 § 72 Nr 3).
26 3. Entgegen der Rechtsansicht des Klägers kann er sich auch nicht auf Vertrauensschutz
berufen.
27 a) Es ist bereits fraglich, ob die Regelung des § 149 Abs 5 S 2 SGB VI (idF vom
16.12.1997, BGBl I 2970) auf Vertrauensschutz abzielt. Sie stellt eine spezielle
Verfahrensvorschrift des Rentenrechts dar und verdrängt § 48 SGB X (vgl BSG vom
30.3.2004 - B 4 RA 36/02 R - SozR 4-2600 § 149 Nr 1 RdNr 20 zitiert nach juris); die
vereinfachte Aufhebung der festgestellten Daten des Versicherungsverlaufs im Fall
nachträglich eingetretener Gesetzesänderungen lässt sie sogar ohne Anhörung nach § 24
SGB X zu (vgl Kohl in GK-SGB VI, Stand April 2009, § 149 RdNr 64 ff). Damit regelt die
Norm gerade Ausnahmen von der Anwendung vertrauensschützender Vorschriften (§§ 24,
48 SGB X; vgl Steinwedel, DAngVers 1989, 372, 374). Um den durch § 149 Abs 5 S 2
SGB X entstehenden Verwaltungsaufwand gering zu halten, ist den
Rentenversicherungsträgern die Möglichkeit eingeräumt worden, die an sich durch jede
Rechtsänderung bedingte Pflicht der Aufhebung von änderungsbedürftigen
Vormerkungsbescheiden auch noch im Rentenbescheid mit Wirkung für die
Vergangenheit zu treffen (vgl BT-Drucks 13/8994, Zu Art 4, Zu Nr 1b , S 69). Diesem
Erfordernis ist selbst dann noch Genüge getan, wenn eine solche Regelung während
eines laufenden Widerspruchsverfahrens gegen den Rentenbescheid oder im
Widerspruchsbescheid selbst geschieht (vgl Senatsurteil vom 13.11.2008 - B 13 R 77/07
R - Juris RdNr 19, 22) bzw in einem gesonderten Bescheid getroffen wird (Senatsurteile
vom 6.5.2010 - B 13 R 118/08 - Juris RdNr 16; vom 13.11.2008 - B 13 R 43/07 R - Juris
RdNr 17).
28 b) Jedenfalls kann der Kläger nach Eintritt der Bestandskraft (§ 77 SGG) des
Altersrentenbescheids vom 29.3.2001 keinen Vertrauensschutz aus der Bindungswirkung
des Feststellungsbescheids vom 8.2.1989 mehr herleiten. Denn spätestens bei Erlass
dieses Bescheids musste er davon ausgehen, dass die hierin getroffenen Feststellungen
zu seinen Ausbildungs-Anrechnungszeiten rechtsverbindlich werden, wenn er sich nicht
mit dem zulässigen Rechtsbehelf des Widerspruchs dagegen zur Wehr setzt. Hiervon hat
der Kläger allerdings keinen Gebrauch gemacht. Selbst dann aber hätte die Beklagte, wie
oben erörtert, den entgegenstehenden Feststellungsbescheid noch im
Widerspruchsbescheid aufheben können (§ 149 Abs 5 S 2 SGB VI). Der Kläger kann
jedoch im Verfahren nach § 44 SGB X nicht besser gestellt werden, als hätte er fristgerecht
Widerspruch eingelegt (so bereits BSG vom 27.3.1984 - SozR 1200 § 34 Nr 18 S 70 für
einen Anhörungsfehler).
29 Im Übrigen war dem Kläger nicht erst seit Erlass des Altersrentenbescheids vom
29.3.2001 bekannt, dass die Schulzeiten vor Vollendung des 17. Lebensjahres
abweichend von den Feststellungen des Vormerkungsbescheids bei der
Rentenbewilligung nicht mehr berücksichtigt werden würden. Dies war ihm bereits mehr
als drei Jahre (im September 1997) vor Erteilung des Rentenbescheids durch eine der
materiellen Rechtslage entsprechende unverbindliche Rentenauskunft (§ 109 Abs 1 SGB
VI) mitgeteilt worden.
30 c) Diesem Ergebnis steht auch nicht Rechtsprechung anderer Senate entgegen. Der 14.
Senat des BSG (Urteil vom 28.5.1997 - 14/10 RKg 25/95 - SozR 3-1300 § 44 Nr 21 S 42 ff)
und der 9. Senat (Urteil vom 4.2.1998 - B 9 V 16/96 R - SozR 3-1300 § 44 Nr 24 S 56 f;
ähnlich bereits Urteil vom 8.3.1995 - 9 RV 7/93 - Juris RdNr 17) halten § 44 Abs 1 S 1 SGB
X - abweichend von dem og Grundsatz, dass es nicht Sinn des Zugunstenverfahrens sei,
dem Antragsteller mehr zu gewähren, als ihm nach materiellem Recht zustehe - auch dann
für (entsprechend) anwendbar, wenn die Rechtswidrigkeit eines bestandskräftig
gewordenen Widerrufs- bzw Rückforderungsbescheids allein auf der Verletzung von
vertrauensschützenden Vorschriften beruht (dieser Rspr folgend: Schütze in von Wulffen,
8. Aufl 2014, SGB X, § 44 RdNr 7; Merten in Hauck/Noftz, Stand Dezember 2012, SGB X,
K § 44 RdNr 50; Rüfner in Wannagat, Stand Mai 2002, SGB X, § 44 RdNr 26 f; Baumeister
in jurisPK-SGB X, 2013, § 44 RdNr 73; zur Darstellung des Meinungsstands vgl
Senatsurteil vom 1.7.2010 - BSG SozR 4-2600 § 48 RdNr 43 ff).
31 Der Senat kann weiterhin offenlassen, ob er dieser Rechtsprechung folgt. Denn eine
Konstellation, in der sich der Kläger auf Vertrauensschutz berufen kann, liegt - wie oben
ausgeführt - nicht vor. Anders als in den vom 14. und 9. Senat entschiedenen Fällen geht
es dem Kläger um das Vorenthalten einer Sozialleistung (§ 44 Abs 1 S 1, Abs 2 S 1 SGB
X in direkter Anwendung). Er hat keine Vertrauensposition wegen langjährig zu Unrecht
bezogener Sozialleistungen erworben, die ihm durch einen Aufhebungsbescheid mit
Wirkung für die Zukunft entzogen bzw durch Aufhebungs- und Erstattungsbescheid mit
Wirkung für die Vergangenheit darüber hinaus auch zurückgefordert worden waren,
sodass erheblich werden könnte, ob Vertrauensschutzvorschriften ein eigenständiger
materieller Rechtsgrund für den Weiterbezug unter Verstoß gegen das materielle
Leistungsrecht bewilligter Sozialleistungen sind (so aber die Konstellationen in den
Urteilen des 9. Senats vom 8.3.1995 - 9 RV 7/93 - und vom 4.2.1998 - B 9 V 16/96 R -
SozR 3-1300 § 44 Nr 24 S 54 sowie des 14. Senats vom 28.5.1997 - 14/10 RKg 25/95 -
SozR 3-1300 § 44 Nr 21 S 38 f). Denn der Kläger hat nie ihm materiell nicht zustehende
Leistungen erhalten. Schließlich liegt auch keine Abweichung vom Urteil des 4. Senats
vom 30.3.2004 (B 4 RA 36/02 R - BSG SozR 4-2600 § 149 Nr 1) vor. Dort ging es nicht um
die Rücknahme eines bestandskräftigen rechtswidrigen Rentenbescheids, sodass der
Anwendungsbereich des § 44 SGB X von vornherein nicht betroffen war. Eines
Anfrageverfahrens nach § 41 SGG bedarf es nicht.
32 4. Dieses Ergebnis ist auch mit höherrangigem Recht vereinbar. Wie der Senat bereits
entschieden hat (Senatsurteil vom 7.2.2012 - BSGE 110, 97 = SozR 4-5075 § 3 Nr 2, RdNr
27) gehört zu den tragenden Prinzipien des Rechtsstaats der Grundsatz, dass nach
Abschluss eines Verfahrens durch unanfechtbare Entscheidung allenfalls ausnahmsweise
eine neue Entscheidung in der Sache möglich ist. Demgemäß ist die öffentliche Gewalt
von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, rechtswidrige Verwaltungsakte ohne Rücksicht
auf ihren formellen Rechtsbestand auf Antrag oder von Amts wegen zu beseitigen (vgl
BVerfGE 20, 230, 235; BVerfGE 117, 302, 315 = SozR 4-8100 Art 19 Nr 1 RdNr 32).
Vielmehr hat der Gesetzgeber bei der Regelung der Rechtsbeständigkeit unanfechtbarer
Verwaltungsakte zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem Grundsatz der
(materiellen) Gerechtigkeit abzuwägen. Über das hiernach verfassungsrechtlich Gebotene
ist der Gesetzgeber mit der am 1.1.1981 in Kraft getretenen Regelung von § 44 Abs 1 SGB
X bereits hinausgegangen (vgl Senatsurteil aaO, RdNr 28 mwN).
33 Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.