Urteil des BSG vom 04.06.2014

BSG: Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Bekanntgabe von Verwaltungsakten, Anhörungspflicht

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 4.6.2014, B 14 AS 2/13 R
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Grundsicherung für Arbeitsuchende - Bekanntgabe
von Verwaltungsakten - Anhörungspflicht - Wirkung der Vermutungsregelung über die Vertretung
anderer Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 26. April
2012 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das
Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1 Streitig ist die Aufhebung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) hinsichtlich des Zeitabschnitts vom 1.1.2006 bis
30.4.2006.
2 Der Kläger zu 1 und seine im Februar 2004 und im Februar 2006 geborenen Kinder, die
Klägerin zu 2 und die frühere Klägerin zu 3, bilden zusammen mit seiner früheren Partnerin
und jetzigen Ehefrau, der Mutter der Kinder und früheren Klägerin (im Folgenden: E.), eine
Bedarfsgemeinschaft, die seit dem Jahr 2005 Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts nach dem SGB II vom beklagten Jobcenter bezieht. Aufgrund eines
Fortzahlungsantrags der E. wurden der Bedarfsgemeinschaft mit Bescheid vom 17.10.2005
für den Zeitraum von November 2005 bis April 2006 Leistungen bewilligt, die sich der Höhe
nach zwischen 678,12 Euro und 923,86 Euro bewegten. Mit einem mit "Änderung"
überschriebenen Bescheid vom 17.11.2005 wurden für Januar 2006 923,86 Euro, für
Februar 2006 910,26 Euro und für März bis April 2006 jeweils 797,36 Euro bewilligt. Mit
"Änderungsbescheiden" vom 3.5.2006, 21.9.2006 und 29.3.2007 wurden der
Bedarfsgemeinschaft für die Monate Januar bis April 2006 jeweils niedrigere Leistungen als
zuvor, der zweiten Tochter jedoch mit Bescheid vom 3.5.2006 erstmals Leistungen bewilligt,
die sich dann jeweils erhöhten. Die höchsten Zahlungen wurden allen Klägern zuerkannt
durch den zuletzt genannten Bescheid vom 29.3.2007 in Höhe von 482,98 Euro für Januar
2006, von 353,64 Euro für Februar, von 175,09 Euro für März 2006 und von 606,46 Euro für
April 2006. Die Bescheide waren an die E. adressiert, die auch mit Schreiben vom 3.5.2006
zu einer Überzahlung infolge der Anrechnung von Einkommen angehört wurde. Sie habe
vom 1.1.2006 bis 30.4.2006 Arbeitslosengeld II in Höhe von 1988,19 Euro zu Unrecht
bezogen. Die E. erhob am 19.5.2006 Widerspruch gegen den Änderungsbescheid vom
3.5.2006, "woraus eine Nachzahlung von 1988,18 Euro resultiere". Auf den Widerspruch
folgten die beiden Änderungsbescheide vom 21.9.2006 und vom 29.3.2007, die jeweils
eine teilweise Abhilfe enthielten. Der Widerspruch der E. wurde mit Widerspruchsbescheid
vom 21.5.2007 "nach Erteilung der Änderungsbescheide vom 21.9.2006 und vom
29.3.2007" zurückgewiesen.
3 Mit einem an die E., den Kläger zu 1 sowie an die E. als gesetzliche Vertreterin der Klägerin
zu 2 gerichteten Erstattungsbescheid vom 21.4.2008 forderte der Beklagte unter
Bezugnahme auf die Änderungsbescheide von der E. überzahlte Leistungen in Höhe von
742,76 Euro, von dem Kläger zu 1 in Höhe von 707,35 Euro und von der Klägerin zu 2 in
Höhe von 360,58 Euro zurück. Über die Widersprüche dagegen ist noch nicht entschieden.
4 Das Sozialgericht (SG) hat im anschließenden Klageverfahren, das von den Eltern und den
beiden Kindern geführt wurde, durch Urteil vom 26.11.2008 unter Abänderung der
genannten Änderungsbescheide und des Widerspruchbescheids den Beklagten verurteilt,
der E. sowie den Klägern unter Anrechnung der bisher gezahlten Leistungen höhere, aber
unter dem Bescheid vom 17.11.2005 liegende Leistungen zu zahlen. Im Übrigen ist die
Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen worden. Die E. hat ihre Berufung
zurückgenommen und das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Kläger, in der
diese - nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 1.6.2010 (B 4 AS 89/09 R -
SozR 4-4200 § 11 Nr 29) zur Berücksichtigung von Zuschlägen als Einkommen - nur noch
die Feststellung der Unwirksamkeit der Änderungsbescheide in der Gestalt des
Widerspruchbescheids beantragt haben, zurückgewiesen (Urteil vom 26.4.2012). Zwar
seien die angefochtenen Bescheide nur an die E. adressiert gewesen, da diese aber eine
der gesetzlichen Vertreter der minderjährigen Kinder sei, genüge dies für eine Bekanntgabe
diesen gegenüber (§§ 37, 39 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch ). Gegenüber dem
Kläger zu 1 sei, auch wenn die Vermutungswirkung des § 38 SGB II nicht greifen sollte, ein
etwaiger Bekanntgabemangel zumindest geheilt worden. Nach § 9
Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) gelte ein Schriftstück als in dem Zeitpunkt
zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen sei. Der Kläger zu
1 habe die Änderungsbescheide in diesem Sinne tatsächlich erhalten.
5 Gegen dieses Urteil wenden sich die Kläger mit ihrer vom erkennenden Senat
zugelassenen Revision. Sie rügen ihre unterlassene Anhörung nach § 24 SGB X, die
mangelnde Bekanntgabe (§ 37 SGB X) der Bescheide, insbesondere gegenüber dem
Kläger zu 1, sowie deren fehlende Bestimmtheit nach § 33 Abs 1 SGB X.
6 Die Revision der - früheren - Klägerin zu 3 ist in der mündlichen Verhandlung vor dem
Senat zurückgenommen worden.
7 Die Kläger beantragen,
das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 26. April 2012 aufzuheben, das Urteil
des Sozialgerichts Gotha vom 26. November 2008 zu ändern sowie den
Änderungsbescheid des Beklagten vom 29. März 2007 in Gestalt des
Widerspruchbescheids vom 21. Mai 2007 aufzuheben.
8 Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
9 Der Beklagte hält das Urteil des LSG für zutreffend, alle Bescheide seien hinsichtlich der
Anhörung, der Bekanntgabe sowie der Bestimmtheit rechtmäßig, etwaige Mängel seien
jedenfalls geheilt worden.
Entscheidungsgründe
10 Die Revision der Kläger ist zulässig (§§ 160, 164 Sozialgerichtsgesetz ) und im
Sinne der Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an das LSG auch begründet (§
170 Abs 2 Satz 2 SGG). Über die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide kann nicht
abschließend entschieden werden, weil es dazu an ausreichenden Feststellungen seitens
des LSG bezüglich einer Anhörung fehlt. Zudem ist eine Zurückverweisung auch in Bezug
auf die Klägerin zu 2 notwendig, weil das LSG - aus seiner Sicht zu Recht - Feststellungen
zu den Ansprüchen der Kläger der Höhe nach unterlassen hat.
11 1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die von den Klägern begehrte Aufhebung des
Urteils des LSG bzw Änderung des Urteils des Sozialgerichts (SG) sowie die Aufhebung
des letzten, günstigsten Abhilfe-(Änderungsbescheids) vom 29.3.2007 in Gestalt des
Widerspruchbescheids vom 21.5.2007. Die vorangegangenen Änderungsbescheide vom
3.5.2006 und vom 21.9.2006 sind durch diesen letzten Änderungsbescheid vom
29.3.2007, der den Klägern die jeweils höchsten Leistungen bewilligt hat, ersetzt worden
und sind damit erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X).
12 Gegen diesen Bescheid haben sich die Kläger nach dem wahren Kern ihres Begehrens
(vgl § 106 Abs 1 SGG) mit einer Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) als statthafter
Klageart gewandt. Die Aufhebung der angefochtenen Bescheide hatten die Kläger auch
bereits vor dem SG beantragt und lediglich vor dem LSG auf dessen Anraten ihren Antrag
auf die (unzulässige) Feststellung der Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide
umgestellt. Da gemäß § 123 SGG das Gericht über die von einem Kläger erhobenen
Ansprüche entscheidet, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein, muss nach
dem tatsächlichen Begehren der Kläger, das diese in der mündlichen Verhandlung
bestätigt haben, von der Fortgeltung des ursprünglich gestellten Anfechtungsantrags
ausgegangen werden. Im Rahmen dieses Antrags ist die Rechtmäßigkeit des
angegriffenen Verwaltungsakts sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht zu
prüfen. Aufgrund fehlender Feststellungen des LSG kann jedoch nicht beurteilt werden, ob
der Kläger zu 1 vom beklagten Jobcenter anzuhören war (dazu unter 2.). Allerdings ist der
Bescheid weder wegen fehlender Bekanntgabe (dazu unter 3.) noch mangender
Bestimmtheit (dazu unter 4.) rechtswidrig.
13 2. Es kann nicht abschließend entschieden werden, ob der Kläger zu 1 neben der E.
gesondert anzuhören war. Nach § 24 Abs 1 SGB X ist vor Erlass eines Verwaltungsakts,
der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die
Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Bei belastenden Verwaltungsakten, also
solchen, die gegenüber dem vorherigen Zustand eine ungünstigere Regelung enthalten,
ist grundsätzlich anzuhören, denn die Anhörungsvorschriften sollen nach ihrem Sinn und
Zweck vor Überraschungsentscheidungen schützen und das Vertrauen in die Verwaltung
stärken (vgl BT-Drucks 7/868, S 28). Als eingreifender Verwaltungsakt in dem genannten
Sinne sind auch Bescheide zu verstehen, die neben einer Begünstigung im Vergleich zum
vorherigen Rechtszustand weniger günstigere Regelungen enthalten (vgl Siefert in: von
Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 24 RdNr 9).
14 Da die Änderungsbescheide vom 3.5.2006, vom 21.9.2006 sowie im hier maßgeblichen
Bescheid vom 29.3.2007 im Vergleich zum ursprünglichen Bescheid vom 17.11.2005
jeweils ungünstigere, wenn auch sich kontinuierlich verbessernde Leistungsbewilligungen
enthielten, ist grundsätzlich von einer Anhörungspflicht auszugehen.
15 a) Hinsichtlich der Klägerin zu 2 ist ein Anhörungserfordernis jedenfalls dadurch gewahrt
worden, dass die E. im Ergebnis mit dem Schreiben vom 3.5.2006 nicht nur zu der
beabsichtigten Rückforderung, sondern inzident auch zu den Änderungen im Vergleich
zum Ausgangsbescheid angehört worden ist. Sie hat dementsprechend Widerspruch
eingelegt und dieser hat in den nachfolgenden Änderungsbescheiden seinen
Niederschlag gefunden. Da die minderjährige Klägerin zu 2 zumindest auch durch die E.,
ihre Mutter, gesetzlich vertreten wird, reichte das an die E. gerichtete Schreiben als
Anhörung der Klägerin zu 2 aus (BSG Urteil vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE
108, 289, 293 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 24).
16 b) Ob der Kläger zu 1 nach den genannten Grundsätzen hier anzuhören war oder ob eine
der in § 24 Abs 2 SGB X ausdrücklich normierten Ausnahmen von der grundsätzlichen
Anhörungspflicht greift, kann wegen mangelnder tatsächlicher Angaben im Urteil des LSG
nicht festgestellt werden.
17 aa) In Betracht kommt die Ausnahmevorschrift des § 24 Abs 2 Nr 3 SGB X, wonach von
einer Anhörung abgesehen werden kann, wenn von den tatsächlichen Angaben eines
Beteiligten, die dieser in einem Antrag oder einer Erklärung gemacht hat, nicht zu seinen
Ungunsten abgewichen werden soll. In diesem Fall ist der Zweck des rechtlichen Gehörs
durch die eigenen Angaben des Betroffenen erfüllt, ob die beabsichtigte Entscheidung der
Behörde den Beteiligten im Ergebnis belastet oder begünstigt, ist im Rahmen von § 24
Abs 2 Nr 3 SGB X unerheblich (s Siefert in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 24
RdNr 27). Dass der Kläger zu 1 in dem genannten Sinne selbst tatsächliche Angaben
gegenüber dem Beklagten gemacht hat, ist nicht erkennbar. Die Angabe durch den
Betroffenen ist aber grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen der genannten
Ausnahmevorschrift (vgl BSG SozR 3-1300 § 24 Nr 12: Ausnahme von der
Anhörungspflicht bei Rückforderung überzahlter Vorschüsse nach Maßgabe der
Einkommensangaben eines Betroffenen). Hierzu werden im wieder aufgenommenen
Berufungsverfahren weitere Feststellungen zu treffen sein.
18 Soweit der Kläger zu 1 sich gegenüber dem Beklagten tatsächlich nicht selbst geäußert
hat, kommt eine Zurechnung der Mitteilung durch die E. zu den aufgetretenen
Änderungen, insbesondere der Geburt der früheren Klägerin zu 3, des Einkommens des
Klägers zu 1 oder des Zuflusses von Mutterschaftsgeld nur in Betracht, wenn sie die
Erklärungen zur Überzeugung des LSG mit dem ausdrücklichen Willen und Wissen für
den Kläger zu 1 so gemacht hat, als habe er die Erklärungen iS von § 24 Abs 2 Nr 3 SGB
X selbst abgegeben. Hierzu bedarf es aber ebenfalls weiterer Feststellungen des LSG.
Keine Zurechnungswirkung entfaltet dagegen insoweit die Vertretungsfiktion nach § 38
Abs 1 SGB II (dazu sogleich unter cc).
19 bb) Ebenfalls einschlägig kann die in § 24 Abs 2 Nr 5 SGB X geregelte Ausnahme von der
Anhörungspflicht sein. Danach kann eine Anhörung entfallen, wenn lediglich
einkommensabhängige Leistungen den geänderten Verhältnissen angepasst werden
sollen. Dies setzt jedoch voraus, dass es sich um Einkommen des Klägers zu 1 handelt;
soweit solches Einkommen ihm gegenüber die angefochtene Aufhebungsentscheidung
trägt, bedurfte es einer zusätzlichen Anhörung durch den Beklagten dazu nicht, weil der
Kläger zu 1 über diesen Zufluss in eigener Person Kenntnis hatte. Feststellungen dazu
fehlen jedoch.
20 cc) Sollte das LSG zu dem Ergebnis kommen, dass der Beklagte unter keinem der
genannten Gesichtspunkte von der Anhörung des Klägers zu 1 absehen konnte, ist
jedenfalls die Heilung eines etwa bestehenden Anhörungsmangels im
Widerspruchsverfahren gemäß § 41 Abs 1 Nr 3 iVm Abs 2 SGB X vorliegend nicht
ersichtlich. Das Widerspruchsverfahren ersetzt die förmliche Anhörung, wenn den bis
dahin nicht ausreichend angehörten Beteiligten Gelegenheit gegeben wird, sich zu den für
die Entscheidung erheblichen Tatsachen sachgerecht zu äußern (vgl Schütze in von
Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 41 RdNr 15 mwN). Das würde voraussetzen,
dass dem Kläger zu 1 selbst Gelegenheit gegeben wurde, sich zu den
entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern, was vorliegend nicht erkennbar ist.
21 Die Heilung eines etwaigen Anhörungsmangels über § 38 Abs 1 SGB II kann
grundsätzlich ebenfalls nicht angenommen werden. Zwar wird die in der genannten
Vorschrift geregelte Bevollmächtigung eines Leistungsberechtigten, Leistungen für die mit
ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu beantragen und entgegenzunehmen,
dahingehend ausgelegt, dass diese vermutete Bevollmächtigung alle
Verfahrenshandlungen erfasst, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der
Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Anspruchs dienen (grundlegend
BSG Urteil vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1,
RdNr 29). Zu diesen Verfahrenshandlungen zählt auch die Einlegung eines Widerspruchs
(vgl dazu nur Link in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 38 RdNr 23 und 25), jedoch kann die
angenommene Bevollmächtigung in § 38 Abs 1 SGB II sich nur auf die Vornahme im
Grundsatz begünstigender Handlungen beziehen ("Leistungen … zu beantragen und
entgegenzunehmen"). Im Hinblick auf das Widerspruchsverfahren ist durch § 38 Abs 1
SGB II daher grundsätzlich nur die Einlegung des Widerspruchs zur Verhinderung der
Rechtskraft eines Bescheids gedeckt. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn der Kläger
zu 1 sich die Ausführungen der E. im Widerspruchsschreiben ausdrücklich zu eigen und
deutlich gemacht hätte, dass das Vorbringen der E. auch in seinem Sinne umfassend und
abschließend war und aus seiner Sicht Ergänzungen nicht notwendig waren.
22 3. Die angegriffenen Bescheide sind aber ungeachtet der Frage einer erforderlichen
Anhörung insofern rechtmäßig, als das Erfordernis der ordnungsgemäßen Bekanntgabe
eines Verwaltungsakts gemäß § 37 SGB X als formelle Voraussetzung für das
Wirksamwerden des Bescheids vorliegend gewahrt ist. Eine wirksame Bekanntgabe ist zu
bejahen, wenn die Behörde willentlich dem Adressaten vom Inhalt des Verwaltungsakts
Kenntnis verschafft und der Adressat zumindest die Möglichkeit der Kenntnisnahme hat.
Die Bekanntgabe setzt somit eine zielgerichtete Mitteilung des Verwaltungsakts durch die
Behörde voraus (siehe nur Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 37
RdNr 3a, 9). Richtet sich ein Verwaltungsakt an mehrere Beteiligte oder sind mehrere von
ihm betroffen, so wird er jedem Einzelnen gegenüber erst zu dem Zeitpunkt wirksam, zu
dem er ihm bekannt gegeben wird (BSG Urteil vom 21.7.1988 - 7 RAr 51/86 - BSGE 64,
17, 22 = SozR 1200 § 54 Nr 13), wobei die Möglichkeit der Kenntnisnahme zwingend,
aber auch ausreichend ist (vgl Engelmann, aaO, § 37 RdNr 4 und 9 mwN). Daraus folgt,
dass weder die zufällige Kenntnisnahme der Beteiligten vom Inhalt des Verwaltungsakts,
etwa durch Mitteilung seitens eines Dritten, noch durch eine spätere Akteneinsicht im
Gerichtsverfahren für eine wirksame Bekanntgabe ausreichen (vgl BSG Urteil vom
14.4.2011 - B 8 SO 12/09 R - BSGE 108, 123 = SozR 4-3500 § 82 Nr 7, RdNr 12).
23 a) Die genannten Wirksamkeitsvoraussetzungen sind hinsichtlich der Klägerin zu 2 erfüllt.
Selbst wenn man von einer gemeinschaftlichen Vertretungsberechtigung der
minderjährigen Klägerin durch den Kläger zu 1 und ihre Mutter, der E., ausgeht, konnte die
Bekanntgabe der streitgegenständlichen Bescheide in zulässiger Weise allein an E.
erfolgen. Im Hinblick auf die Bekanntgabe von Verwaltungsakten gegenüber
Minderjährigen hat der Senat unter Heranziehung des Zustellungsrechts des Bundes (§ 6
Abs 3 VwZG) bereits entschieden, dass die Bekanntgabe gegenüber einem gesetzlichen
Vertreter genügt (BSG Urteil vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R - BSGE 102, 76 = SozR 4-
4200 § 9 Nr 7, RdNr 21). Dass die Bekanntgabe an lediglich einen Elternteil ausreichend
ist, wurde in der Folgezeit auch in einer weiteren Entscheidung des Senats bestätigt (BSG
Urteil vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr
25).
24 b) Soweit von der Bekanntgabe andere Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs 3
SGB II) betroffen sind, ergeben sich Besonderheiten, die auch für die
Bekanntgabevoraussetzungen von Bedeutung sind. Vorliegend ist im Ergebnis von einer
wirksamen Bekanntgabe auch gegenüber dem Kläger zu 1 auszugehen, auch wenn die
Vermutungsregelung des § 38 SGB II für die Zurechnung von Aufhebungs- und
Erstattungsbescheiden nicht greift.
25 aa) Nach § 38 Abs 1 Satz 1 SGB II wird vermutet, dass ein Leistungsberechtigter, der
einen Antrag auf Leistungen stellt (§ 37 Abs 1 SGB II), bevollmächtigt ist, Leistungen nach
dem SGB II auch für die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zu
beantragen und entgegenzunehmen. Daraus folgt, dass der auf Antrag eines
erwerbsfähigen Leistungsberechtigten erteilte Bescheid diesem für alle Mitglieder der
Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II bekannt gegeben werden kann. § 38 Abs 1
SGB II ist dahingehend auszulegen, dass die vermutete Bevollmächtigung alle
Verfahrenshandlungen erfasst, die mit der Antragstellung und der Entgegennahme der
Leistungen zusammenhängen und der Verfolgung des Anspruchs dienen (vgl oben unter
2 b) cc)). Aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität und Verwaltungsprozessökonomie
soll verhindert werden, dass die Verwaltung sich bei der Bewilligung von Leistungen trotz
des Einzelanspruchs jedes Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft (stRspr seit BSG vom
7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 12) stets an
jeden einzelnen wenden muss.
26 Die Grenze der Wirkung des § 38 Abs 1 SGB II wird aber bei Verwaltungsakten gesehen,
die eine belastende Entscheidung beinhalten, insbesondere also bei Aufhebungs- und
Erstattungsbescheiden (vgl Link in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 38 RdNr 46; Kallert in
Gagel, SGB II, 52. Ergänzungslieferung 2014, § 38 RdNr 19; Aubel in jurisPK-SGB II, 3.
Aufl 2012, § 38 RdNr 31). Da § 38 Abs 1 SGB II nichts an der materiellen
Leistungsberechtigung ändert, stellt die Frage, wem gegenüber die Aufhebung eines
Bewilligungsbescheids in welchem Umfang erfolgen kann und von wem die Erstattung
von zu Unrecht gewährten Leistungen verlangt werden kann, eine Frage des materiellen
Rechts dar (s Aubel, aaO, § 38 RdNr 31). Daher muss grundsätzlich die Bekanntgabe
eines inhaltlich auch an die übrigen Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft gerichteten
Aufhebungs- und Erstattungsbescheids gegenüber dem jeweils betroffenen Mitglied der
Bedarfsgemeinschaft erfolgen. Die Bekanntgabe gegenüber dem erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen, der die Leistungen beantragt hat, wirkt also nicht automatisch auch
gegenüber den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft (es sei denn, es handelt sich
um die minderjährigen Kinder des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, vgl oben 3a), denn der
Vorschrift des § 38 SGB II kann die Vermutung für die Existenz einer generellen und
uneingeschränkten Vollmacht nicht entnommen werden (Udsching/Link, Aufhebung von
Leistungsbescheiden im SGB II, SGb 2007, 513, 516).
27 Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass E. zwar für die gesamte
Bedarfsgemeinschaft Leistungen beantragen und entgegennehmen sowie auch
Widerspruch einlegen konnte. Soweit aber der streitgegenständliche Änderungsbescheid
auch belastende Anteile enthielt und insoweit eine Aufhebung vorheriger
Leistungsbewilligungen erfolgt ist, konnte eine Bekanntgabe ihr gegenüber nicht
automatisch auch gegenüber den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft wirken, es
sei denn, es handelte sich - wie bei der Klägerin zu 2 - um eines ihrer minderjährigen
Kinder. Im Grundsatz mussten die Änderungsbescheide neben der E. auch dem Kläger zu
1 gesondert bekannt gegeben werden.
28 bb) Auch wenn § 38 SGB II für die Zurechnung von belastenden Verwaltungsakten im
Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft grundsätzlich nicht gilt, schließt dies nicht aus, dass
eine Bekanntgabe nach allgemeinen Grundsätzen erfolgen kann. Eine Bekanntgabe an
ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft, das nicht als Vertreter derselben nach § 38 SGB II
auftritt, erfordert nach den oben dargestellten Voraussetzungen einen Bekanntgabewillen
der Behörde ihm gegenüber sowie zumindest die Möglichkeit der Kenntnisnahme dieses
anderen Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft von dem Verwaltungsakt. Der
Bekanntgabewille der Behörde ist anzunehmen, wenn die Behörde zielgerichtet den
Bescheid dem Regelungsadressaten über den vermuteten Vertreter nach § 38 SGB II als
(vermeintlichen) Empfangsbevollmächtigten bekanntgibt und sich aus dem Inhalt des
Bescheids eindeutig schließen lässt, wer Adressat und von der Entscheidung betroffen
sein soll (Udsching/Link, Aufhebung von Leistungsbescheiden im SGB II, SGb 2007, 513,
516). Weitere Voraussetzung für eine Bekanntgabe ist, dass das von der Regelung
betroffene Mitglied der Bedarfsgemeinschaft die Möglichkeit der Kenntnisnahme dadurch
erlangt hat, dass der Verwaltungsakt so in seinen Machtbereich gelangt ist, dass es von
dem Schriftstück Kenntnis nehmen und diese Kenntnisnahme nach den allgemeinen
Gepflogenheiten auch von ihm erwartet werden kann (so bereits
Bundesverwaltungsgericht , Urteil vom 11.5.1960 - V C 320.58 -, BVerwGE 10,
293; Fortführung in Beschluss vom 22.2.1994 - 4 B 212/93 -; vgl auch Bundesfinanzhof
, Urteil vom 9.12.1999 - III R 37/97 -, BFHE 190, 292; s dazu Engelmann in von
Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 37 RdNr 4 ff mwN). Dann liegt kein Fall einer
unwirksamen zufälligen Kenntnisnahme vor. Erst recht gilt der Zugang als erfolgt, wenn er
tatsächlich stattgefunden hat.
29 Dem Kläger zu 1 sind die Änderungsbescheide nach den vorgenannten Grundsätzen
bekannt gegeben worden. Zum einen ist der Wille des Beklagten, die geänderten
Leistungsbescheide über die E. auch zielgerichtet dem Kläger zu 1 bekannt geben zu
wollen, daraus ersichtlich, dass bereits im Verfügungssatz alle Adressaten mit Namen und
Geburtsdaten aufgeführt sind, sodass es keine Zweifel geben kann, wer inhaltlich von der
Entscheidung betroffen sein sollte. Eine Bekanntgabe ist im Übrigen - offenkundig durch
die Weiterleitung durch die E. - gegenüber dem Kläger zu 1 jedenfalls spätestens zu dem
Zeitpunkt erfolgt, zu dem er seinen Rechtsanwalt konsultierte und nach den
Feststellungen des LSG die hier in Streit stehenden Änderungsbescheide Gegenstand der
Unterredung gewesen sind, die schließlich in die Beauftragung zur Führung des
vorliegenden Rechtsstreits mündete. Aufgrund dieser wirksamen Bekanntgabe der
umstrittenen Bescheide auch gegenüber dem Kläger zu 1 kann es vorliegend
dahingestellt bleiben, ob und in welcher Weise eine Heilung eines etwaigen
Bekanntgabemangels erfolgen kann (vgl dazu Udsching/Link, Aufhebung von
Leistungsbescheiden im SGB II, in SGb 2007, 513 ff).
30 4. Der angefochtene Änderungsbescheid ist auch inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 33
Abs 1 SGB X). Das Bestimmtheitserfordernis bezieht sich sowohl auf den Verfügungssatz
(BSG Urteil vom 23.3.2010 - B 8 SO 2/09 R - SozR 4-5910 § 92c Nr 1 RdNr 11) als auch
auf den Adressaten eines Verwaltungsakts (BSG Urteil vom 16.5.2012 - B 4 AS 154/11 R -
SozR 4-1300 § 33 Nr 1 RdNr 16). Es verlangt, dass der Verfügungssatz eines
Verwaltungsakts nach seinem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei ist und den
Betroffenen bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen
Empfängers in die Lage versetzt, sein Verhalten daran auszurichten (näher BSG Urteil
vom 17.12.2009 - B 4 AS 20/09 R - BSGE 105, 194 = SozR 4-4200 § 31 Nr 2, RdNr 13
mwN). Zur Erfüllung der genannten Voraussetzungen genügt es, wenn aus dem gesamten
Inhalt eines Bescheids einschließlich der von der Behörde gegebenen Begründung
hinreichende Klarheit über die Regelung gewonnen werden kann. Ausreichende Klarheit
besteht selbst dann, wenn zur Auslegung des Verfügungssatzes auf die Begründung des
Verwaltungsakts, auf früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte oder
auf allgemein zugängliche Unterlagen zurückgegriffen werden muss (BSG vom
29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 26).
31 a) Das Bestimmtheitserfordernis hinsichtlich des Adressaten der Verwaltungsakte ist hier
gewahrt. Den jeweiligen Änderungsbescheiden lässt sich eindeutig entnehmen, welche
Adressaten betroffen sind. Dafür ist nicht nur das Adressfeld maßgeblich, in dem die E.
genannt wird, sondern die Bestimmung des oder der Adressaten kann sowohl durch den
Text im Verfügungssatz als auch durch die Begründung des angefochtenen Bescheids
erfolgen (so BSG Urteil vom 16.5.2012 - B 4 AS 154/11 R - SozR 4-1300 § 33 Nr 1 RdNr
17). Vorliegend ergibt sich - wie ausgeführt - bereits aus dem Verfügungssatz, dass neben
der E. der Kläger zu 1, die Klägerin zu 2 und die zweite Tochter, die frühere Klägerin zu 3,
von den Bescheiden betroffen und damit Adressaten dieser sind.
32 b) Ebenso ergeben sich keine Bedenken gegen die Bestimmtheit der Verfügungssätze in
dem Änderungsbescheid, weil sich daraus und aus den vorangegangenen
Änderungsbescheiden klar und unzweideutig erkennen lässt, dass sämtliche Mitglieder
der Bedarfsgemeinschaft angesprochen und mit Ausnahme der früheren Klägerin zu 3
ihnen gegenüber Leistungsbewilligungen teilweise aufgehoben werden. Nicht nur sind
alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft bereits im Verfügungssatz namentlich benannt,
vielmehr werden auch die eingetretenen Änderungen jeweils in bestimmter, zahlenmäßig
benannter Höhe geregelt. Aus der gegebenen Begründung war für die Empfänger ohne
Weiteres zu erkennen, dass Einkommen angerechnet wurde und sich damit der
monatliche individuelle Leistungsanspruch auf einen konkreten Betrag verringerte. Es
kommt insoweit nach den dargelegten Grundsätzen nicht allein auf die Überschrift
"Änderung" an, sondern auf den Gesamtzusammenhang der Änderungsbescheide mit
Bezug auf die ursprüngliche Leistungsbewilligung vom 17.10.2005 und den
Änderungsbescheid vom 17.11.2005 sowie auf die in den Änderungsbescheiden vom
3.5.2006, vom 21.9.2006 und vom 29.3.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
21.5.2007 gegebene Begründung und durchgeführte Berechnung. Insoweit ist auch der
allgemeine Hinweis dahingehend, dass für den Fall, dass Leistungen zu Unrecht erbracht
worden seien, noch geprüft werde, inwieweit diese zurückzuzahlen seien, nicht zu
beanstanden. Damit wird lediglich angekündigt, dass ggf noch ein Erstattungsbescheid
folgen wird, dessen Rechtmäßigkeit dann wiederum gesondert zu prüfen ist.
33 5. Ob der Änderungsbescheid vom 29.3.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
21.5.2007 im Übrigen materiell-rechtlich rechtmäßig ist, kann mangels weiterer
Feststellungen zu den Ansprüchen der Kläger, insbesondere der Feststellung der Bedarfe
und der Frage, ob und ggf bei wem Einkommen oder Vermögen zu berücksichtigen ist,
nicht beurteilt werden, weil das LSG seine Prüfung allein auf die formelle Rechtmäßigkeit
beschränkt und aus seiner Sicht folgerichtig zu den materiellen Voraussetzungen eines
Leistungsanspruchs nichts ausgeführt hat.
34 Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.