Urteil des BSG vom 23.10.2007

BSG: gerichtshof für menschenrechte, gerichtshof der europäischen gemeinschaften, eugh, egmr, freizügigkeit der arbeitnehmer, behandlung im ausland, schutz der familie, gesundheitswesen

Bundessozialgericht
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Kassel, den 23. Oktober 2007
Medieninformation Nr. 34/07
zur 39. Richterwoche des Bundessozialgerichts
Anlässlich
der Eröffnung der 39. Richterwoche konnte der Präsident des
Bundessozialgerichts
Dr. h.c. Matthias v o n W u l f f e n
zahlreiche Gäste begrüßen, unter ihnen den Parlamentarischen Staatssekretär im
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Franz T h ö n n e s
Stefan G r ü t t n e r
Stadt Kassel
Thomas-Erik J u n g e
Die Richterwoche steht unter dem Thema
"Europa".
S i e wird sich mit den Wechselwirkungen zwischen dem Gemeinschaftsrecht und der
innerstaatlichen Rechtsordnung befassen. Einen weiteren thematischen Schwerpunkt bildet
die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur EMRK.
Referenten:
Richter am Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften, Luxemburg: "Der Einfluss des nationalen Rechts und der Rechtsprechung
Europäischen
Gerichtshof
für
Menschenrechte";
Stellvertretender Direktor Deutsche Sozialversicherung, Bruxelles: "Wohin treibt Europa?";
, Richter am Bundessozialgericht: "Die Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs aus der Warte der Sozialgerichtsbarkeit";
Sozialrecht
und Verwaltungsrecht, Hochschule Neubrandenburg: "Schutz vor
Benachteiligungen
im
deutschen
Sozialrecht
nach
den
europäischen
Gleichbehandlungsrichtlinien und ihrer Umsetzung";
,
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt: "Was bringt die EGV 883/2004?".
Präsident
Dr. h.c. v o n W u l f f e n
Rechts und damit des nationalen Rechts weiter zugenommen hat; aber das Verhältnis von
europäischem Recht zum nationalen Recht ist keine Einbahnstraße. Namentlich die
Tatsache, dass nationale Richter zugleich auch Gemeinschaftsrichter sind, sollte diese
selbstbewusst daran erinnern, auf die europäische Rechtsordnung Einfluss zu nehmen.
Die Richterwoche wurde eröffnet durch den Vortrag von
Dr. h.c. Renate J a e g e
Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Straßburg.
Thesen der Referenten zur Richterwoche
Dr. Hans-Jürgen Kretschmer
Prof. Dr. Thomas von Danwitz
Richter am Gerichtshof der
Europäischen Gemeinschaften
Luxemburg/Köln
Der Einfluss des nationalen Rechts und der Rechtsprechung der Gerichte
der Mitgliedsstaaten auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts
Im Rahmen einer Standortbestimmung wird zunächst der Beitrag der mitgliedsstaat-
lichen Gerichte bei der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts analysiert und das
Verhältnis zwischen dem Gerichtshof und den gemeinschaftlichen Gerichten ver-
deutlicht: Die mitgliedsstaatlichen Gerichte haben die Erst- und Regelungszuständig-
keit für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Daraus resultiert zugleich ihre
besondere Verantwortung, das Gemeinschaftsrecht einerseits und die qualitativen
Anforderungen der nationalen Rechtsordnungen andererseits einer sinnvollen Lösung
zuzuführen.
Der Vortrag beschäftigt sich sodann mit dem Einfluss des mitgliedsstaatlichen Rechts
und der Rechtsprechung der mitgliedsstaatlichen Gerichte auf das Gemein-
schaftsrecht. Dabei gilt die besondere Aufmerksamkeit der wachsenden Bedeutung
der wertenden rechtsvergleichenden Methodik und ihrer Anwendung durch den
Gerichtshof. Das Ergebnis ist eine dreifache Schlussfolgerung:
- Der Rückgriff auf das mitgliedsstaatliche Recht ist ein notwendiger und bedeut-
samer Bestandteil der Rechtsprechung des Gerichtshofes.
- Die Rechtsfortbildung muss sich im Bereich der allgemeinen Rechtsgrundsätze
allerdings auf den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts beschränken.
- Auf gemeinschaftlicher Ebene erlangen die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine
eigenständige Kontur, die bei ihrer Anwendung auf dem Gebiet der Mitgliedsstaaten zu
beachten ist.
Der Vortrag widmet sich schließlich einer Analyse des gemeinschaftlichen Recht-
sprechungsdialoges nach Art. 234 EG als Möglichkeit der Einflussnahme mitglieds-
staatlicher Gerichte. Das Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und den Mitglieds-
staaten ist in dem Bereich bereits von "viel Licht und wenig Schatten" geprägt. Insoweit
werden Möglichkeiten zur Verbesserung der Zusammenarbeit aufgezeigt.
Abschließend wird ein Ausblick auf die künftigen Herausforderungen der gemein-
samen Rechtsentwicklung und die Bedeutung des arbeitsteiligen und konstruktiven
Miteinanders im Rahmen der vertraglich bestimmten Zuständigkeitsverteilung
gegeben.
Dr. Jens Meyer-Ladewig
Ministerialdirigent a.D.
Wachtberg
Deutsche Erfahrungen mit dem Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte
Thesen
1. Deutschland hat die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950
früh, nämlich 1952 ratifiziert; sie trat 1953 in Kraft. Erst 25 Jahre später, 1978, ist das
erste Urteil ergangen, mit dem der EGMR eine Konventionsverletzung durch
Deutschland festgestellt hat. Es handelte sich um den Fall König
1
wegen der
überlangen Dauer eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens.
2. Deutschland zählt zu den größeren Lieferanten des EGMR. Von jetzt etwa 90 000
anhängigen Beschwerden entfallen auf Deutschland etwa 4000, das damit auf Rang 7
steht (Rang 1 Russland mit 20 000). Bei den Eingängen nahm Deutschland 2006
Rang 8 ein mit 2200 Beschwerden von insgesamt etwa 50 000. Das Bild ist ganz
anders, wenn man die Zahl der Beschwerden je 10 000 Einwohner rechnet :
Deutschland steht mit 0,19 weit hinten auf der Rangliste (an der Spitze Slowenien mit
6,69, gefolgt von Tschechien mit 2,42 und Moldau mit 1,44).
3. Trotz der zahlreichen Eingänge ist die Zahl der gegen Deutschland ergangenen
Urteile verhältnismäßig niedrig (insgesamt seit 1953 70 Feststellungen einer
Konventionsverletzung). Damit steht Deutschland auf Rang 18. Zu bedenken ist dabei
nicht nur die große Bevölkerungszahl sondern auch die frühe Ratifizierung in
Deutschland. Die geringe Zahl hat ihren Grund darin, dass das deutsche Grundgesetz
nach dem Zweiten Weltkrieg die neusten Entwicklungen berücksichtigt hat, aber auch
in dem guten Funktionieren der deutschen Justiz. Die Verfassungsbeschwerde an das
Bundesverfassungsgericht ist ein wirksames Filterinstrument.
4. In den deutschen Fällen ging es häufig um die Dauer der gerichtlichen Verfahren
(in 33 der genannten 70 Fälle Verletzung von Art. 6 I). Weitere Fallgruppen sind die
Folgen von Nazi-Zeit, Mauerbau und Wiedervereinigung, die Fälle betrafen z.B. offene
Vermögensfragen, Mauerschützen, NS‑Zwangsarbeit und Rentenüberleitung, weiter
familienrechtliche Fälle, in denen es meistens um Umgangs- und Sorgerecht ging, und
ausländerrechtliche Fälle wegen Auslieferung, Ausweisung und Abschiebung.
Aufsehen erregt hat der Fall Caroline von Hannover gegen Deutschland
2
, in dem es
um den Schutz der Privatsphäre nach Art. 8 EMRK ging.
5. Die Dauer gerichtlicher Verfahren ist damit zwar geringer als in anderen Ländern,
aber auch in Deutschland eine Achillesferse. Die Fälle, in denen der EGMR deswegen
eine Verletzung von Art. 6 I festgestellt hat, betrafen alle Gerichtszweige mit Ausnahme
der Finanzgerichtsbarkeit, die nicht unter Art. 6 fällt. Sie betrafen auch Verfahren vor
dem Bundesverfassungsgericht.
6. Die Durchschnittsdauer ist bei uns in der Regel unproblematisch, es gibt aber
immer wieder Ausreißer.
7. Für die Sozialgerichtsbarkeit hat der EGMR in drei Fällen eine Verletzung wegen
der Dauer festgestellt, sie betrug 7, 10 und 12 Jahre. Zwei weitere Fälle kommen dazu,
in denen nach dem früheren System das Ministerkomitee des Europarats entschieden
hat.
8. Eine Konventionsverletzung ist aber in anderen Fällen auch bei kürzeren Lauf-
zeiten festgestellt worden, z.B. bei 3 Instanzen deutlich mehr als 4 Jahre oder mehr als
5 oder als 6 Jahre. Es kommt auf die Umstände an. Dabei ist zu bedenken, dass der
EGMR die Entschuldigung der Überlastung grundsätzlich nicht gelten lässt und bei
Sachverständigenbeweis verlangt, dass das Gericht alles zur Beschleunigung
Notwendige veranlasst. Terminsverlegungen und insbesondere Aussetzungen
müssen gut begründet werden und dürfen nicht unverhältnismäßig sein, auch wenn
der Kläger sie beantragt. Eine Nichtbearbeitung wegen Aktenversendung muss durch
Anfertigung von Kopien vermieden werden. Sozialprozesse sind wegen ihrer
Bedeutung für die Partei häufig besonders eilbedürftig.
9. Art. 13 EMRK verlangt, dass in den Konventionsstaaten ein wirksamer
Rechtsbehelf auch gegen überlange Verfahrensdauer gegeben sein muss. In dem
Urteil Sürmeli gegen Deutschland
3
hat der EGMR festgestellt, dass es einen solchen
Rechtsbehelf bei uns nicht gibt. Eine Untätigkeitsbeschwerde wird nur vereinzelt
anerkannt, was wegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur
Rechtsmittelklarheit immer seltener geschieht. Auch der 1. Senat des BSG hat kürzlich
entschieden, dass sie nicht gegeben ist.
10. Die vom 4. Senat des BSG
4
entwickelte Lösung einer
Nichtzulassungsbeschwerde, in der nicht dargetan werden muss, dass die
angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel der überlangen Dauer beruht,
wird keine ausreichende Lösung sein können.
11. Der Entwurf des BMJ eines Gesetzes über eine Untätigkeitsbeschwerde ist vom
EGMR begrüßt worden. Er kann bei Untätigkeit des Gerichts zur Beschleunigung
beitragen. Wenn das Verfahren allerdings schon über die nach Art. 6 I EMRK
zulässige Dauer anhängig war, muss Schadensersatz vorgesehen werden und zwar
auch für Nichtvermögensschaden. Geschieht das nicht, kann der Betroffene weiter
Beschwerde beim EGMR einlegen.
12. Die EMRK in der Auslegung durch den EGMR ist in Deutschland unmittelbar
geltendes Recht. Das wird von den Gerichten vereinzelt noch verkannt, wie der Fall
Görgülü
5
gezeigt hat, in dem das Bundesverfassungsgericht viermal Entscheidungen
eines OLG aufheben musste
6
.
13. Das Bundesverfassungsgericht hat in der ersten Görgülü-Entscheidung die
Verpflichtung der deutschen Gerichte unterstrichen, die EMRK und die
Rechtsprechung des EGMR zu beachten, d.h. zu befolgen. Zu begrüßen ist, dass
nunmehr ein Verstoß auch mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann.
Leider hat das Bundesverfassungsgericht mit dieser Entscheidung nicht nur Klarheit
geschaffen, sondern mit unnötigen einschränkenden Bemerkungen auch Unsicherheit.
Das ist auch im Ausland aufmerksam verfolgt worden.
14. Die deutschen Erfahrungen mit dem EGMR sind positiv. Es versteht sich, dass es
Kritik an einzelnen Entscheidungen gibt. Die Erfahrung zeigt, dass Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit empfindlich sind und immer wieder gegen Angriffe verteidigt
werden muss, dass rechtsstaatliche Grundsätze auch in Demokratien gefährdet sein
können, z.B. bei der Terrorismusbekämpfung. Es ist beruhigend zu wissen, dass es in
Straßburg ein Gericht gibt, das Grenzen setzt und über die Einhaltung der Konvention
wacht.
Wie findet man Entscheidungen des EGMR im Internet ?
Dokumentationssystem des EGMR
www.echr.coe.int
- case law – hudoc : alle Entscheidungen auf Englisch und/oder
Französisch.
Zum Suchformular : am einfachsten ist der Zugang, wenn man die
Beschwerdenummer kennt (Application Number). Bei „Case Title“ kann der Name des
Beschwerdeführers eingegeben werden (bei Vereinigungen Name in der jeweiligen
Sprache), diese Eingabe genügt im Allgemeinen, bei „Respondent State“ die
Bezeichnung des beklagten Staates in Englisch oder Französisch, also z.B. Germany.
Sie können aber auch nach Datum suchen.
Fundstellenverzeichnis deutscher
Übersetzungen
soweit
vorhanden
unter
www.egmr.org
(Dr. Breuer, Uni Potsdam)
Für weitere Informationen unter
Internetseite des BMJ www.bmj.bund.de - Themen – Menschenrechte –
EGMR
wichtige
Urteile
und
Verfahren,
dort
auch
Rechtsprechungsberichte
Urt. v. 28.6.1978, NJW 1979, 477
2 Urt. v. 24.6.2004, NJW 2004, 2647
3 Urt. v. 8.6.2006, NJW 2006, 2389
4 Beschluss v. 12.12.2005, SGb 2006, 553
5 Urt. des EGMR v. 26.2.2004, NJW 2004, 3397
6 vgl. insbes. BVerfG v. 14.10.2004, 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407
Günter Danner M.A.; Ph.D.
Stellvertretender Direktor
Deutsche Sozialversicherung, Brüsse
Abstract:
Einwirkungen der EU auf das deutsche Gesundheitswesen zwischen
Dauerreform,
Wachstumshoffnungen und Subsidiaritätsgebot
Es war und ist gelegentlich schick, unser Gesundheitssystem pauschal negativ zu
bewerten. Kleine und kleinste Details ausländischer Systeme finden entsprechend
hohe Beachtung. Dies ist um so erstaunlicher, als dabei das Zusammenspiel der
Faktoren oft nicht mehr interessiert. Zweifeln am Eigenen, oft weit über das gesunde
Maß hinaus ist geradezu eine deutsche Lust. Es gibt kaum einen EU Staat mit mehr
Kommissionen und Diskussionsrunden zum eigenen System als bei uns. Bedauer-
licherweise bedient die Politik das eigentliche Problemfeld mehr als häufig im Lichte
durchaus sachfremder Interessen. Wachstumshoffnungen, Senkungsvorstellungen der
im EU Vergleich nicht immer wettbewerbsfördernden Arbeitskosten überwiegen dabei
deutlich. Dabei fehlt es nicht an klassischen gesundheitsökonomischen Zu-
kunftsherausforderungen. Allerdings wirkt sich der unterschiedliche Zeithorizont zwi-
schen Systemwirkung einer Gesetzesreform und Legislaturperiode hier zweifelsohne
nachteilig aus. Manch eine Reform schließlich soll der Öffentlichkeit die Handlungs-
willigkeit und Entschlossenheit der Verantwortlichen qua Gesetzgebung demonstrie-
ren. Die Inhalte sind dann oft reine Nebensache. Deutschland steht vermutlich erst-
mals in seiner jüngeren Sozialgeschichte am Scheideweg zwischen real sozialfinan-
zierter Versorgung und dem Abdriften in die Mangelwelten anderer EU Modelle. Der
massenweise Abmarsch jüngerer Ärzte in reine Staatssysteme - eine Konsequenz
offenbar nicht mehr marktfähiger Arbeitsbedingungen und fehlender ökonomisch-
wissenschaftlicher Perspektiven - mag vorübergehend durch das „Nachrücken“ aus
den östlichen EU Welten kompensierbar sein - fruchtbringend und zukunftsstimulie-
rend ist diese Entwicklung gewiss nicht. Die Relevanz dieser Entwicklungen rechtfer-
tigt einen Blick ins Detail. Noch wäre es nicht zu spät um sachgerecht sozialökono-
misch zu handeln. Einmal mehr ist „nach der Reform“ auch ein „vor“ der Reform. Ob es
den bisweilen heillos zerstrittenen Akteuren am Gesundheitswesen jedoch gelingt,
rasch eine vertrauensstiftende Argumentationsplattform zu finden, mag jeder geneigte
Leser für sich selbst beantworten. Fakt ist jedenfalls, dass klassische Politlager nicht
mehr so wie früher existieren und Systemstandards „garantieren“. Mit der großen
Koalition wurden neue Wege der Machterhaltung beschritten, die es als vermutlich
einzige Konfiguration ermöglichen, Wahlen zu verlieren und Ämter zu behalten. Im
Interesse aller Betroffenen am Gesundheitswesen und der großen sozialpolitischen
Tradition des deutschen Modells mit seinen „relativ“ höheren Freiheitsgraden wäre die
Zeit zum Handeln wohl gekommen. „Europa“ wirkt mehr und mehr ein und überlässt
der nationalen Regierung die Rolle des Vermittlers oft wenig willkommener sozialer
Botschaften an die so nur national wirksamen Wähler. Wer weiß schon, wie was von
wem in Brüssel tatsächlich entschieden wird? Dennoch ist der Einfluss stetig
wachsend.
Als zentraler Akteur des nationalen Gesundheitswesens steht das Krankenhaus in
mehrfacher Hinsicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dies geht weit über den Aus-
gabenanteil für stationäre Krankenhauspflege als Anteil an den Gesamtausgaben des
Systems hinaus und umfasst unter Einbeziehung der Finanzierungsmodi, der
Einkaufs- und Vergabepraktiken sowie sämtlicher ökonomischer Bezüge dessen ge-
samte Aktivitäten. Bislang unbestritten ist das Krankenhaus zwar Teil des national
„geregelten“ Gesundheitsmarktes, aber ebenso gut Akteur zu europarechtlich oft
komplizierten Bedingungen. Neue Einflüsse reichen dabei über die Schlagwörter
„Beihilferecht“, „Wettbewerb“ und „Dienstleistungserbringung“ hinaus. Sein Schicksal
ist dennoch nicht von demjenigen des flankierenden Sozial- und Wertsystems zu
trennen. Wächst dementsprechend der Sparzwang auf das System in toto, so sind die
Krankenhäuser rasch in der ersten Linie der Betroffenen. Ergänzend treten eher
nationale Parameter hinzu. Dazu zählen u.a. die Veränderungen in der Vergütung mit
dem Ziel eines den Preis beeinflussenden Wettbewerbs, die Konkurrenz der
Trägerschaft - privatökonomisch, öffentlich-rechtlich oder frei-gemeinnützig - sowie der
Aktivitätenkatalog. Letzteres meint vorwiegend die hochkomplexe Differenzierung
zwischen Akutversorgung oder Rehabilitation. Letztere findet mangels sozial-
rechtlicher Entsprechung in vielen EU-Staaten keine Anknüpfungspunkte. In Zeiten
einer Wertestandardisierung nach Art der „Offenen Methode der Koordinierung“ (OMK)
ein nicht eben geringes Risiko. Im Zuge der europarechtlichen Entwicklungen ist die
grenzüberschreitende Nachfrage unter gewissen Prämissen regelhaft ambulant und,
zustimmungsbedürftig, auch stationär möglich. In ihrem Entwurf für eine neue
Richtlinie zu Gesundheitsdienstleistungen sieht die Kommission das Hospital in einer
zentralen Position. Gerade unter regionalpolitischen Aspekten ist das Krankenhaus
zudem als essentieller Teil der lokalen Daseinsfürsorge ein Politikum sui generis. An
Konflikten fehlt es hierbei keineswegs: Der politisch als die logische Folge von EU-
seitig geförderten Wachstumsbemühungen betrachtete allgemeine Sparzwang im
Sozialen prägt die nationalen Reformagenden. Dabei erfährt das deutsche
Gesundheitswesen oft eine pauschal negative Bewertung gerade aus den eigenen
Reihen, bzw. der nationalen Politik, die ihm so oft ganz und gar nicht zusteht. Statt
eines „Markenzeichens für den „Gesundheitsstandort Deutschland“ ‑ einfach auf den
Horizont eines Bundeslandes herunter zu brechen - vermitteln wir oft Zweifel,
Uneinigkeit der Akteure, selbst in einem Lager, teilweise kleinkrämerische
Stellungskämpfe. Derweil läuft der europäische Entnationalisierungsprozess,
weitgehend unbemerkt, seinen ebenfalls nicht stets geraden Weg. Statt „Subsidiarität“
soll künftig mehr „Dialog“ - eigentlich immer eine feine Sache - dafür sorgen, dass es
morgen weniger Tabuzonen supranationalen Handelns gibt, als heute.
Ein Blick ins Detail lohnt sich für nahezu jeden, der im Gesundheitswesen Verant-
wortung trägt. Nur mit einer neuen Strategie und über traditionelle Lagergrenzen
hinweg dürfte sich die besondere Qualität Deutschlands auch für die berechenbare
Zukunft zumindest erhalten lassen. Allerdings mit einer Politik neuen Stils und anderer
Qualitäten.
Im Zeitalter einer entfesselten Globalisierungsdiskussion wirken die national in großer
Vielgestalt angestellten Bemühungen zur Zukunftssicherung des Sozialschutzes nicht
immer überzeugend. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die auf die Zukunft des
Sozialschutzes Einfluss nehmen zeigen sich dabei, insbesondere durch ihr
Abgekoppeltsein vom Nationalstaat, der traditionellen Ebene sozialpolitischen Han-
delns, von nachhaltiger Wirkung. Im Dilemma zwischen Tradition und Moderne sucht
der Sozial- und Gesundheitsschutz in Gänze eine neue gesellschaftliche Legitimation
und zugleich neue Antworten auf zahlreiche essentielle ökonomische Fragen. Auf
EU‑Ebene gibt es derzeit kein Mandat um konstruktions- und ablauftechnische Fragen
des Sozialschutzes ohne Konsens der Mitgliedstaaten zu regeln. Zudem wurde gerade
in jüngster Zeit die „deutsche Neigung“ zu „Subsidiarität“ vom Kom-
missionspräsidenten kritisch bewertet. Im Prinzip ist diese schwach begründete
Brüsseler Zuständigkeit durchaus vorteilhaft, da eine Strukturharmonisierung derzeit
nur auf dem kleinsten gemeinsamen makroökonomischen Nenner möglich wäre.
Schon früher, in der Divergenz zwischen Griechenland und Deutschland ein unmög-
liches Unterfangen, wird eine solche Umstrukturierung durch die laufende EU-Er-
weiterung vollends unrealistisch. Schon ohne die Türkei sind mit Rumänien und Bul-
garien durchaus problematische sozialrechtliche Realitäten mit dabei. Andererseits
besteht durch die strukturelle Unterschiedlichkeit und die höchst verschiedenen rela-
tiven Grade an Großzügigkeit der einzelnen nationalen Systeme die Gefahr eines
Wettlaufes nach unten mit dem Ziel der Schaffung optimaler Standortbedingungen für
Direktinvestitionen zur Behebung der nach wie vor prekären Arbeitsmarktlage in
nahezu allen EU-Staaten. Ebenfalls könnte das zahlenmäßige Übergewicht von
Staatslösungen in den heutigen Mitgliedstaaten ein falsches Beispiel für nationale
Politikformulierung im Gesundheitsbereich geben. Zugleich fehlt es an erkennbaren
Konzepten, wie die Durchlässigkeit und Vernetzbarkeit der verschiedenen Systeme
anders als in der traditionellen Art auf Grundlage u.a. der Verordnung 1408/71 EWG
(u.a. Rechtsgrundlage des Auslandsberechtigungsscheines E 111) gelingen soll. Die
ebenso beliebte wie regelhaft irreführende Vorgehensweise, sich genehme Be-
standteile eines anderen nationalen Gesundheitsmodells als Beispiel zu suchen,
verkennt die Problematik, die mit einer völligen Neudefinition des „Sozialen“ einher-
gehen dürfte. Überdies leben und wirken andere Systeme eben nicht aus Einzelphä-
nomenen, sondern als vernetzte Welten in einem oft historisch bestimmten Kontext.
Bestimmte Erscheinungsformen der Versorgungslandschaft in Deutschland sind so
kaum andernorts anzutreffen: dazu zählt die Wahlmöglichkeit des Patienten aus dem
Kreis der Vertragsärzte, der direkte Zugang zu höheren Versorgungsformen, ja die so
genannte „doppelte“ Facharztebene schlechthin. Derlei gibt es in keinem Staats-
modell. Auch das mit einiger Propaganda zu Jahresbeginn 2006 in die „Wettbewerb-
lichkeit“ der Kostenträger entlassene niederländische Modell verzichtet auf entspre-
chende Reformschritte und bleibt dem klassischen GP-Modell weitgehend treu. Durch
staatliche Einmaltransferzahlungen von Wartelisten zunächst befreit, wird sich auf
Sicht zeigen, wie die Finanzierung der Leistungen dauerhaft ohne Prämiensprünge
gelingen kann. Einen nicht eben unbedenklichen Vorbildcharakter könnte dieser
Systemtyp dadurch erlangen, dass er bei hohem Gleichheitspostulat (Fonds-
finanzierung) spürbare Kopfprämien als zusätzliches Refinanzierungsinstrument offen
einführt. Ähnliches ist in nuce zumindest auch im jüngsten deutschen Reformwerk
angelegt, wenngleich sich die Politik davor hütet, ihren Wählerinnen und Wählern
ergänzende Kopfpauschalen von rund 100 Euro monatlich anzubieten. Grundsätzliche
Systemveränderungen könnten im Zuge der immer unrastiger werdenden nationalen
Reformleidenschaft kurzfristiger verwirklicht werden, als man dies zunächst annehmen
möchte. Erste Tendenzen für „mehr Brüssel“ durch die Hintertür sind unverkennbar.
Brüssel, verstanden als Gemeinschaftsebene und vertreten vor allem durch die
Kommission, greift vermehrt, direkt und indirekt in das nationale gesundheits- und
sozialpolitische Geschehen ein. Die in der Öffentlichkeit nicht durchgängig bekannte
„Lissabon-Strategie“ mit ihren vordringlich wachstumsorientierten und
sozialstaatskritischen Ansätzen fördert zumindest die nationale Neigung, die
Kostendiskussion im Gesundheitswesen unter dem Blickwinkel der so genannten
„Lohnnebenkosten“ zu führen. Deren nachhaltige Absenkung führe, nach herrschender
Lesart, geradezu direkt zu so bislang trotz erstaunlicher Gewinnentwicklung in vielen
Branchen nicht nachweisbaren Einstellungen.
Soziale Sicherung und Staatsdominanz
In den meisten EU-Staaten, so auch geradezu modellhaft in Großbritannien und
Schweden, herrschen im Gesundheitswesen staatsnah betriebene Modelle mit Man-
gelsteuerung, d.h. künstlicher „Verbilligung“ durch Nachfrageversagen, vor. Dabei
werden alle denkbaren Nachfragevarianten, die „objektive“ ebenso wie die patienten-
oder anbieterausgelöste Form, unterdrückt. Der Erhalt der Mangelsteuerung setzt die
Verfügbarkeit bestimmter Zwangsmittel voraus. Nicht von ungefähr kämpfen insbe-
sondere solche EU-Gesundheitssysteme nachhaltig gegen jede Öffnung, die Warte-
listen erhalten möchten oder müssen. Zu diesem Länderkreis zählen die klassischen
Staaten mit Gesundheitsdiensten und weitgehend abhängig beschäftigten Anbieter-
strukturen ebenso wie die vermutlich eher scheinliberalen Niederlande. Gelänge es
den dort auf Listen wartenden Patienten, tatsächlich einmal im Zuge der Übertragung
der EU-Freiheiten auf dieses Marktsegment ihre Bedürfnisse durch Auslandsnachfrage
in eigener Zeitregie befriedigen zu können, so wäre eine Konfliktsituation gegeben.
Dies ist im laufenden Jahr durch das EuGH-Urteil in der Rechtssache „Watts“ eindeutig
passiert. Zwar vermag der NHS noch das Wissen um die dort eröffneten individuellen
Patientenansprüche auf administrative Bewertung der jeweiligen Wartesituation auf
wenige Personen zu begrenzen, doch dürfte dies nicht dauerhaft gelingen. Im EU-
Umfeld hat Staatsdominanz, etwa im Bereich des Gesundheitswesens, keineswegs für
mehr Gerechtigkeit gesorgt. Im Gegenteil ist festzustellen, dass dort, wo die
Mangelsteuerung besonders ausgeprägt ist, wie etwa Großbritannien, mit einem Anteil
von rund 12% privat versicherten Personen eine Tendenz zur Zwei-Klassen-
Versorgung erkennbar wird. Dabei ist auch im Privatnachfragebereich, ein Blick in die
üblichen britischen Privatpolicen und ihre teilweise strengen Kostenbegrenzungen
macht das deutlich, von „Freiheit“ und Großzügigkeit nicht durchgängig die Rede.
Binnenmarkt und Wettbewerblichkeit
Das gesellschaftliche Vorhalten eines breitenzugänglichen Gesundheitssicherungs-
systems der Spitzenqualität für jedermann ist eine soziale Kulturleistung und entzieht
sich in ihrer ethischen Dimension einer vollständigen Ökonomisierbarkeit. Ebenfalls
verkannt wird die aus unterschiedlichen Ursachen resultierende stetige Verteuerung
der Versorgung. Von Fehlallokationen einmal abgesehen, speist sich dieser Prozess
primär aus einem Zusammenwirken aus wissenschaftlich-technischem Fortschritt in
Diagnose und Therapie sowie dem zunehmenden Lebensalter und möglicherweise
auch einem im Vergleich zu früheren Zeiten veränderten Verhältnis zum Kranksein.
Der Gesundheitsmarkt ist bei allen Unvollständigkeiten immerhin der größte nationale
Submarkt überhaupt. Er stellt zugleich standorttreu eine Vielzahl von hoch qua-
lifizierten Arbeitsplätzen. Auch die in der vorwiegend von Kommastellen geprägten
offiziellen Diskussion sollte die moralisch-ethische Komponente angemessen zum
Tragen kommen, die eine Gesellschaft dazu bewegt, eine Teilhabe an hochwertiger
Versorgung im Wege von sozialen Mechanismen sicherzustellen. Die Wege dorthin
sind jedoch überaus umstritten: Meinen die einen, es genüge einmal mehr das Ge-
schehen „dem Markt“ zu überlassen, so verweisen Kritiker dieser Einstellung darauf,
dass nur durch breite Nachfragebefähigung der Gesundheitsmarkt sozial verschränkt
existieren kann. Ein lediglich an individueller Kaufkraft ausgerichtetes Angebot wäre
rasch mangels verstetigter Nachfrage sich nach Drittweltart selbst überlassen.
Weder flächendeckendes Selbstzahlertum, noch eine quantitativ der Breitenabsiche-
rung auch nur in Ansätzen entsprechende PKV-Fähigkeit der zu versichernden Per-
sonenkreise sind realistisch. Der seit einigen Jahren zu beobachtende politische
Reformkurs „Wachstum versus Sozialschutz“ hat bislang die erwarteten Wunder am
Arbeitsmarkt nicht geleistet. In vernetzter Form dürfte er jedoch auf Sicht schon
mangels politischer Gegenkräfte seinen gestalterischen Einfluss behalten. Am Ende
eines solchen Prozesses läge die Vermutung nahe, dass die politisch gewünschten
Ergebnisse, wenn sie schon nicht eo ipso eintreten wollen, per definitionem be-
schlossen werden. Dies ist in so genannten Staatsbewirkungsmodellen eine ver-
gleichsweise einfache Übung. Der Staat hat hier alle Machtmittel als Gesetzgeber,
Haushaltsherr, Dienstgeber der Leistungserbringer und Beschwerdestelle in eigener
Sache in der Hand. Dem Versicherten bleibt der gar nicht so unwillkommene Ausweg
in die Selbstzahlung oder fallweise noch zugängliche Angebote der Privatassekuranz;
wenn derartige Dinge nicht, wie in Schweden, aus Gründen der „politischen
Gerechtigkeit“ außerhalb des Versorgungssystems verboten werden. Umso verwun-
derlicher muss die aktuelle deutsche Reform erscheinen, die unter dem strategischen
Ziel einer - wie auch immer ‑ zu bewertenden „Senkung der Lohnnebenkosten“ zu
gesetzlich verfügten Beitragserhöhungen greift. Gleichfalls soll der „Wettbewerb“ u.a.
dadurch gestärkt werden, dass seinen Akteuren die Finanzautonomie weitgehend
genommen wird. Steuerfinanzierung - als Gerechtigkeitslösung gepriesen ‑ wird heute
versprochen, morgen gekürzt und - im Fall der Finanzierung mitversicherter Kinder ‑
gar auf einen Zeitpunkt nach der anstehenden Wahl gestreckt. Wo bitte wären heute
oder morgen solcherart „verbriefte“ Ansprüche notariell abzusichern?
Bedauerlicherweise schweigt das seitenstarke Entwurfswerk auch beredt, wenn es um
solche Schicksalsfragen geht, die sich beim Paradigmenwechsel am
Beschäftigungsmarkt und bei der demografischen Entwicklung stellen. Stattdessen
wird die dem politischem Tageskalkül wesentlich ausgesetzte Steuerfinanzierung des
akuten Beschaffungs- und Bewirkungsgeschehens als Allheilmittel empfohlen. Einmal
abgesehen davon, dass nahezu alles im Gesundheitswesen im neuen System teurer
würde, droht die Gefahr, dass es für die Mehrheit der Bevölkerung auch schlechter
wird. Wie schließlich die Koalitionäre die mit der Fondseinführung 2009 verbundenen
Beitragssatzsprünge im Wahljahr ihrer ohnehin schon irritierten Wählerschaft
vermitteln möchten, ist völlig offen. Neben Absurdem enthält das Reformwerk auch
durchaus beachtliche Elemente. Systemtechnisch zeigt jedoch die Vergangenheit,
dass solche Insellösungen in einem nicht stimmigen Ganzen kaum etwas bewirken
können. Es ist geradezu rätselhaft, dass ein solches gesetzgeberisches Ausloten
gemeinsamer theoretischer Positionen sich eigentlich widersprechender Lager samt
dem fragwürdigen Produkt dann auch noch zur „Chefsache“ gemacht wurde.
Stattdessen hätte sich staatsmännisches Handeln profilieren können, wenn im Lichte
höherer Verantwortlichkeiten ein gesetzgeberischer Hybride ggf. hätte gestoppt
werden können. Politische Gemeinsamkeiten als ungeordnete Zufallsmengen helfen
eben nicht, wenn das handlungsleitende strategische Interesse nicht mehr erkennbar
ist. Vermutlich begrenzte sich die „Chefsache“ auf den anzustrebenden partei- und
lagertaktischen Formelkompromiss. Nicht das „Was“, sondern das „Ob“ stand bei
dieser Reform im Vordergrund.
An und für sich ist Gesundheitspolitik in nahezu allen EU-Staaten nicht eben durchweg
politische „Chefsache“ und nur selten geeignet, Wahlsiege zu garantieren. Dies
unterstreicht die Gefahren, die sich für das System aus einer wesentlichen oder aus-
schließlichen Steuerfinanzierung ergäben. Im Wettlauf mit die Staatsfinanzen for-
dernden „übergeordneten“ Prestigeprojekten im Spektrum zwischen Militäreinsätzen
am Hindukusch, im Kongo oder zusätzlichen Finanzopfern für Brüsseler Scheinhar-
monie wären die Prognosen eher ungünstig. Ähnliches gilt für Strukturreformen, bei
uns und andernorts oft verstanden als Schatzsuche nach neuen Finanzquellen weit-
gehend abgekoppelt vom sozialmedizinischen Bewirkungsziel. Entsprechend vielfältig
und teilweise wirkungsarm ist die durch partielle politische Anstrengungen ausgelöste
regelmäßige Suche nach reformfähigen Teilaspekten. Der unterschiedliche
Wirkungshorizont zwischen einer Legislaturperiode und makroökonomischen Ein-
griffen in ein hochkomplexes Allokationssystem tut ein Übriges um nachhaltige politi-
sche Erfolge rar sein zu lassen. Statt heikler Definitionen des moralischen Wertes von
Behandlung erfolgt dann eine Neuauflage des Modellbaus bei der Finanzbewirkung.
Jeder darf Vorschläge machen, von der zwangsläufigen Verbindung zum Ver-
sorgungsziel und der letztendlichen Rationierungsverantwortung wird diskret ge-
schwiegen. Derlei Abstrakta sind zudem „koalitionsfähig“ - jeder darf sich einbringen.
Werte und die Bestimmung von Versorgungsgrenzen hingegen gelten als vermintes
Feld.
Europa für die Patienten?
Soziale Sicherungssysteme werden sich zukünftig vermehrt danach fragen lassen
müssen, ob der für sie getriebene Aufwand sich für den Einzelnen tatsächlich auszahlt.
Kriterien wie beispielsweise „Verfügbarkeit“, „Qualität von Leistungen“ und „In-
novationsvermögen“ können dabei eine Betrachtung ersetzen, die vorwiegend auf den
Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP fixiert ist und somit Deutschland nicht eben
durchweg positiv bewertet. „Performanz“, vielleicht auch „Wahloptionen für Patienten“
im Sinne des gelegentlich viel strapazierten „patient empowerment“ werden somit
neben einem theoretischen Gerechtigkeitspostulat ein wahrscheinliches Kriterium zur
objektiven Bewertung solcher gesellschaftlicher Anstrengungen. Mit einem Mehr an
Wettbewerblichkeit in allen Lebensbereichen geht vermutlich ein gesellschaftlicher
Wertewandel einher, der hohe Effizienz und eine klar nachweisbare vorteilsstiftende
Wirkung höher bewertet als das weitgehend abstrakt formulierte Gleichheitsideal eines
staatlichen Gesundheitsdienstes, das zudem Gerechtigkeitsdefizite auslöst. In keinem
EU-Mitgliedstaat, nicht einmal in Großbritannien, ist jedoch eine
Komplettderegulierung bestehender Steuerungselemente und ordnungspolitischen
Leitvorstellungen mit dem Ergebnis wahrscheinlich, dass der kranke Mensch als
„unvollständiger Marktteilnehmer“ in Eigenregie auf Suche nach ihm ökonomisch
möglicher Bedürfnisbefriedigung gehen muss. Konsequenterweise wird ein
wesentlicher Teil der heute in allen Gesundheitswesen anzutreffenden Ordnungs- und
Steuerungselemente bestehen bleiben müssen. Die Suche nach „best practice“
Lösungen, d.h. auch nach einer stringent verbesserten Zielführung der immerhin nicht
unbeträchtlichen investierten Mittel, dürfte an Bedeutung gewinnen. Im Konzert der
EU-Gesundheitssysteme steht Deutschland mit seinen - trotz aller Einwirkungen und
Mängel ‑ noch immer relativ höheren Freiheitsgraden ziemlich allein. Im Lichte der sich
abzeichnenden neuen EU-Politik einer „offenen Koordinierung“ nationaler
Politikformulierung sind gerade in einem selbstverwalteten Modell alle Akteure gefragt,
an der Formulierung geeigneter Benchmarks mitzuwirken. Die Außenwirkung unseres
Gesundheitswesens wird ganz wesentlich davon bestimmt, welche
Schlüsselbotschaften vermittelt werden. Selbst wenn wir das jüngste WHO-Ranking
getrost niedriger bewerten können als vielleicht geschehen, sind bei uns Allokations-
und Strukturmängel unübersehbar. Die auf alle Marktakteure einwirkenden
strukturellen Veränderungszwänge berühren jeden Einzelnen, teilweise mit großer
Vehemenz. Wenn es gelingen soll, das deutsche Gesundheitswesen im Unterschied
zum EU-Schnitt staatsfern zu erhalten, sind erhebliche gemeinsame Anstrengungen
der verschiedenen Beteiligten unumgänglich. Unterbleibt dies, so laufen auch wir
Gefahr, aus Einigungsunvermögen der unmittelbar Betroffenen den Staat zur
Problem“lösung“ im Anordnungs- und Rechtssetzungsweg zu bewegen. Gerade das
Beispiel Frankreichs zeigt, dass eine solche Entwicklung ernsthaft niemandem, weder
dem Kranken noch dem Arzt oder dem Krankenhaus, wirklichen Gewinn brächte.
Deutschland braucht neben Schnittmengen gemeinsamer Interessen und ergebnis-
orientierter Reformbereitschaft ebenfalls mehr Mut, eigene Besonderheiten geschickt
und effizient in das Binnenmarktgeschehen einfließen zu lassen. Gelingt dies, so
könnte unser System ‑ die jüngsten Patientenentsendungen aus Norwegen zeigen
dies ‑ für manche und manches im Ausland Vorbild sein. Dazu bedarf es nachhaltiger
eigener Überlegungen und Anstrengungen. Statt eines oft unwilligen Muster-
schülertums in Brüssel ‑ man mag es zwar nicht, möchte aber doch gelobt werden ‑
wären kristallklare eigene Positionen dringend erforderlich. Dies gilt für die Mehr-
ebenenstrategie der Kommission im Bereich Gesundheitspolitik/ Sozialschutz/ Ge-
sundheitsmarkt ebenso, wie für die Bewahrung noch vorhandener relativ höherer
Freiheitsgrade des deutschen sozialen Gesundheitswesens im Vergleich zum EU
Durchschnitt. Mit der jüngsten - so ungewöhnlichen - Kritik am Subsidiaritätsbegriff
verbinden sich neue Brüsseler Vorstellungen über Mitgestaltungsbereiche, die ei-
gentlich national zu regeln sind. Der nunmehr vorliegende Entwurf einer neuen
Richtlinie für Gesundheitsdienstleistungen gehört in eben diese Kategorie. Mit den
Bereichen „gemeinsame Prinzipien in allen EU Systemen“, der Definition der An-
spruchsgrundlagen inländischer Patienten auf Behandlung im Ausland und dem
weitgefassten Bereich der EU Gesundheitskooperation werden alle Bereiche ange-
sprochen, die künftig systemgestaltend bedeutsam sind. Mit der, auch bei uns als
scheinbarer Schutz vor weiteren EuGH Urteilen gern verteidigten neuen Richtlinie -
käme sie denn ‑ wäre Brüssel eigentlich an allen künftigen nationalen Systemfragen
beteiligt. Wo bleibt da die Subsidiarität? Ginge es nur darum, inländischen Patienten
Rechte gegen ihr eigenes nationales System zu verbriefen, so ist eine Richtlinie kaum
erforderlich. Deutschland regelt dies im SGB V ohne Grauzonen. Zusätzliche
Verknüpfungen ‑ etwa in bestehende Koordinierungsvorschriften - wären ebenso als
weniger „politische“ Ebene denkbar, als es eine Richtlinie ist. An verschiedenen
Stellen des Textes wird auch von viel weitergehenden Systemdeterminanten, etwa der
finanziellen Nachhaltigkeit, gesprochen. Da zeigt sich, worum es eigentlich gehen
dürfte. Übrigens dürfte der EuGH weiterhin Einzelfallentscheidungen in umfassender
Auslegung der EU-Rechtsmasse vornehmen. Auch hier wäre also eher wenig
gewonnen.
[1] Der Verfasser ist Referent des Vorstandes der Techniker Krankenkasse in Hamburg und Stv.
Direktor der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung in Brüssel. Der Beitrag gibt
seine persönliche Meinung wieder.
Dr. Hans-Jürgen Kretschmer
Richter am Bundessozialgericht
Die Rechtsprechung des EuGH aus der Warte der
Sozialgerichtsbarkeit
Zusammenfassung
1. Die sozialrechtliche Rechtsprechung des EuGH steht 2007 erneut im
Blickfeld, obwohl sie schon bei der Richterwoche des Jahres 2000 behandelt
wurde: Sowohl die Sozialgerichtsbarkeit als auch der EuGH können auf über
50 Jahre Rechtsprechung zurückschauen; seit 2000 sind für das deutsche
Sozialversicherungssystem bedeutende Urteile ergangen, es wurde seither
aber auch erneut zT massive Kritik am EuGH geübt. Vor allem lohnt eine
Betrachtung des EuGH aus der sozialrichterlichen Arbeit und den dabei
gemachten Erfahrungen heraus.
2. Der EuGH hatte - anders als die Sozialgerichtsbarkeit - oft keine detaillierten
normativen Regeln anzuwenden und konnte auch nicht an frühere
Entscheidungs-Traditionen anknüpfen. Er nimmt auf dieser Grundlage für
sich in Anspruch, den europäischen Integrationsprozess voranzutreiben. Die
Wahrnehmung dieser Aufgabe ist "undankbar", weil der Vorw u r f zu
weitgehender Rechtsfortbildung ‑ zumal bei fortschreitendem Primärrecht ‑
vorprogrammiert ist. Die Existenz des EuGH bedeutet zugleich einen
"Souveränitätsverlust" für die Sozialgerichtsbarkeit. Vor dem Hintergrund,
dass die europäische Einigung in erster Linie auf die Herstellung einer
"Wirtschaftsgemeinschaft" abzielt, besteht zudem die Gefahr, dass die vom
deutschen Sozialrecht gewünschte "möglichst sozialstaatlich" orientierte
Auslegung gegenüber der gebotenen "möglichst europafreundlichen"
(marktorientierten) Auslegung auf der Strecke bleibt. Das Problemfeld wird
dadurch abgemildert, dass der EuGH von einem Kooperationsverhältnis mit
den national e n Gerichten und der Verpflichtung zur "loyalen
Zusammenarbeit" ausgeht.
3. Die Sozialgerichtsbarkeit hat den EuGH herkömmlich in erster Linie
wahrgenommen als Institution zur Konkretisierung der Rechte von
Wanderarbeitnehmern. Das richterliche Haupttätigkeitsfeld lag und liegt ganz
überwiegend in der Beschäftigung mit der EWGV 1408/71 (künftig EGV
883/2004), uä. Erst seit den 1990er Jahren sind auch in der
Sozialgerichtsbarkeit Fälle entschieden worden, die deutlicher machten,
dass das europäische Primärrecht hier ebenfalls allein entscheidend sein
kann. Dies kam vor allem zum Ausdruck in dem in der Kohll/Decker-
Rechtsprechung hervorgehobenen Recht der Versicherten, aufgrund der EG-
rechtlichen "passiven Dienstleistungsfreiheit" Krankenbehandlung in
anderen Mitgliedstaaten in Anspruch nehmen zu dürfen.
4. Bei der Zahl der Vorabentscheidungsersuchen nimmt Deutschland
bezogen auf alle Mitgliedstaaten den Spitzenplatz ein: Von den 5.765
Ersuchen der Jahre 1953 bis 2006 waren 1.542 = 26,7% solche deutscher
Gerichte (2006: 30,7%). Die deutschen Vorlagen stammten bis Ende 2006 zu
1/3 von Bundesgerichten, doppelt so viele also aus der 1. und 2. Instanz. Das
BSG ist - nach dem BFH - im Vergleich mit anderen Bundesgerichten
überdurchschnittlich vertreten.
5. Wenngleich Bundesgerichte bei Zweifeln über die Auslegung oder Gültigkeit
von EG-Recht zur Vorlage verpflichtet sind, ist eine (fort-)bestehende EG-
rechtliche Problematik bisweilen nicht einfach zu erkennen. Es gibt sicher
mehr Urteile, in denen begründet wird, weshalb nicht vorgelegt zu werden
brauchte, als Vorlagebeschlüsse. Die Nichtvorlage kann aber sogar eine
Haftung des Mitgliedstaats für offenkundig falsche Anwendung von EG-Recht
auslösen.
6. Das deutsche Sozialversicherungssystem ist in den letzten Jahren über alles
durch die Rechtsprechung zur Festbetragsfestsetzung bei Arzneimitteln und
zum Risikostrukturausgleich europarechtlich "gestärkt" worden; dies verdient
es, für das Sozialrecht trotz aller gegen den EuGH vorgebrachten Kritik
hervorgehoben zu werden.
7. Im Rahmen der auf die Sozialgerichtsbarkeit zukommenden künftigen EG-
rechtlichen Streitgegenstände dürften Spannungsfelder auftreten zwischen:
· richterlicher Rechtsfortbildung und Achtung von Gesetzgebungs-
befugnissen
· Rechten aus der EU-Bürgerschaft sowie primärrechtlichen
Diskriminierungsverboten einerseits und Sekundärrecht andererseits
· Inanspruchnahme von EG-Rechten und "Missbrauch"
· Sozialleistungsträger-Privileg und EG-Wirtschaftsrecht.
8. Während die personelle Zusammensetzung des EuGH (1 Richter je
Mitgliedstaat, auf 6 Jahre befristet - verlängerbar - entsandt) unter
Repräsentations-
und
Unabhängigkeitsgesichtspunkten
keine
Vorbildfunktion für Deutschland haben kann, könnte die Wahl des EuGH-
Präsidenten aus der Mitte seiner Richter ein Denkanstoß für künftige
Änderungen des deutschen Gerichtsverfassungsrechts sein, um der Selbst
verwaltung in der Justiz stärkeren Ausdruck zu verleihen.
9. Wie schon von Heinze bei der Richterwoche des Jahres 2000 gefordert (SGb
2001, 160), sollte auch aus heutiger Sicht noch einmal die Schaffung von
Fachkammern beim EuGH angedacht werden, ua für das Recht der sozialen
Sicherheit; das Gegenargument der Gefahr der Uneinheitlichkeit der
Rechtsprechung überzeugt bei inzwischen 27 EuGH-Richtern nicht.
10. Wenn auch das deutsche Rechtsschutzsystem einen Generalanwalt nach
dem Vorbild des EuGH nicht zulässt, könnte daran gedacht werden, für die
Sozialgerichtsbarkeit ebenfalls eine Institution einzuführen, die dem
"Vertreter des öffentlichen Interesses" in der Verwaltungsgerichtsbarkeit
nachgebildet ist.
11. Der Umgang des EuGH mit Kläger-Namen bei der Urteils-Veröffentlichung
bleibt für die Sozialgerichtsbarkeit angesichts des deutschen Verständnisses
von Sozialdatenschutz gewöhnungsbedürftig. Im Einzelfall sollte erwogen
werden, schon im deutschen Vorlagebeschluss den Kläger-Namen zu
anonymisieren.
12. Die EuGH-Urteilsbegründungen stehen wegen ihrer Kürze weiter in der
Kritik. Für eine bessere Akzeptanz der Rechtsprechung wäre eine größere
Argumentationstiefe hilfreich, vor allem, wenn weitreichende Richtungs-
Entscheidungen getroffen werden.
Hinweis zur EuGH-Rechtsprechung im Internet: http://eur-lex.europa.eu/JURISIndex.do?
ihmlang=de (ab 1954) sowie http://curia.europa.eu/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=de (ab
17.06.1997)
Prof. Dr. jur. habil. Felix Welti
Sozialrecht und Verwaltungsrecht
Hochschule Neubrandenburg
Schutz vor Benachteiligungen im deutschen Sozialrecht nach den
europäischen Gleichbehandlungsrichtlinien und ihrer Umsetzung
Der Schutz besonders definierter Gruppen vor Benachteiligung ist ein altes Thema des
Rechts und auch des Sozialrechts. Durch die europäische Integration hat es neue
Impulse bekommen und die Rechtsquellen sind ergänzt worden. Dass Be-
nachteiligungsschutz in den Kontext der Europäischen Integration gestellt wird, ist
nicht zufällig, sondern fügt sich in die Entwicklung vom Binnenmarkt zur Europäischen
Gesellschaft. Der Europäische Bürgerstatus soll durch den Schutz vor Be-
nachteiligungen wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EGV) und wegen der Merk-
male Rasse und ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion, Weltanschauung, Behin-
derung, Alter und sexuelle Orientierung (Art. 13 EGV) durch die Mitgliedstaaten und in
der Gesellschaft definiert sein. Dabei beeinflusst der Benachteiligungsschutz auch die
fortbestehenden primären Kompetenzbereiche der Mitgliedstaaten in der Sozial- und
Gesundheitspolitik.
Rechtsquellen des Benachteiligungsschutzes im deutschen Sozialrecht sind das eu-
ropäische Primär- und Sekundärrecht mit den Richtlinien 2000/43, 2000/78, 2002/73,
2004/113 und 2006/54, das deutsche Verfassungsrecht, das Allgemeine Gleichbe-
handlungsgesetz (AGG), die sozialrechtlichen Generalklauseln § 17 Abs. 1 Nr. 4
SGB I, § 33c SGB I und § 19a SGB IV sowie zum Teil die Behindertengleichstel-
lungsgesetze.
Im Europäischen Primärrecht ist Art. 13 EGV der Ausdruck eines durch Art. 21 der
Charta der Grundrechte positivierten europäischen Rechtssatzes. Die Gemeinschaft
wendet ihn im Rahmen ihrer Kompetenzen an.
Im deutschen Verfassungsrecht sind die besonderen Gleichheitssätze wegen der
Merkmale Geschlecht, Rasse, Heimat und Herkunft, Religion und Weltanschauung
sowie Behinderung in Art. 3 Abs. 3 GG sowie der vom BVerfG entwickelte gleich-
heitsrechtliche besondere Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) zu beachten. Der
allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in der neueren Rechtsprechung des
BVerfG gewährt einen verstärkten Schutz von unveränderlichen Merkmalen und sol-
chen Merkmalen, die den in Art. 3 Abs. 3 GG positivierten Merkmalen gleichkommen.
Davon sind auch Alter und sexuelle Orientierung erfasst.
Das AGG ist von seinen Verfassern explizit zur Umsetzung der europäischen Gleich-
behandlungsrichtlinien geschaffen worden. Dennoch rückt es durch den Umset-
zungsakt nicht in die Rolle höherrangigen Rechts. Deutsches Recht, das den Gleich-
behandlungsrichtlinien entgegensteht, ist weiterhin an diesen sowie am Verfassungs-
recht zu messen. Das AGG ist in den Bereichen Sozialschutz und Gesundheitswesen
vor allem für die Rechtsbeziehungen zwischen Leistungsberechtigten und Lei-
stungserbringern sowie ergänzend auch für die Rechtsbeziehungen zwischen Lei-
stungsträgern und Leistungserbringern relevant. Die sozialrechtlichen Generalklauseln
beeinflussen die Rechtsanwendung im Ermessensbereich und bei unbestimmten
Rechtsbegriffen. In eindeutigen Fällen kann aus § 33c SGB I eine Nichtanwendbarkeit
entgegenstehenden benachteiligenden Rechts gefolgert werden. Neue Rechte können
durch § 33c SGB I und § 19a SGB IV nicht begründet werden.
Mögliche Anwendungsfälle des Benachteiligungsschutzes im Sozialrecht sind ge-
setzliche Differenzierungen, namentlich Altersgrenzen für Sozialleistungen und für
Leistungserbringer sowie die Differenzierung von Sozialleistungen bei Ehe und
Lebenspartnerschaft. Doch verbleiben den Mitgliedstaaten und dem Gesetzgeber noch
Spielräume zur Gestaltung. Anwendungsfälle in der Rechtsanwendung können die
Ermessensleistungen der Arbeitsförderung und der Leistungen zur Teilhabe, die
Konkretisierung von Gesundheitsleistungen durch die gemeinsame Selbstverwaltung
und der benachteiligungsfreie Zugang zu Leistungserbringern sein.
Prof. Dr. Maximilian Fuchs
Katholische Universität
Eichstätt-Ingolstadt
Was bringt die VO (EG) Nr. 883/2004?
Grenzüberschreitende Arbeitsmigration, aber auch Grenzübertritte, die aus touristi-
schen und anderen Motiven bedingt sind, sind seit langem ein Problem dessen, was
wir als die notwendige Koordination von Sozialrecht zwischen den Mitgliedstaaten der
EU bezeichnen. Koordination hat die Aufgabe, zu verhindern, dass grenzüber-
schreitende Tätigkeiten und Aktivitäten, die unter dem Aspekt der Freizügigkeit der
Arbeitnehmer, aber auch der Wahrnehmung von Niederlassungs- und Dienstlei-
stungsfreiheit wünschenswert sind, zu Nachteilen im Bereich der sozialen Sicherheit
führen.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass eine der ersten Rechtsquellen, die
die seinerzeitige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft geschaffen hat, den Bereich
der Koordinierung der sozialen Sicherheit betroffen hat (VO (EWG) Nr. 3 und 4). Im
Jahre 1971 wurde die bis heute geltende VO (EWG) Nr. 1408/71 und die dazugehörige
VO (EWG) Nr. 574/72 verabschiedet. Sie hat versucht, die immer umfassenderen
Aufgaben und Notwendigkeiten der Koordinierung wahrzunehmen. Sie musste im
Laufe der Zeit immer wieder modifiziert und ergänzt werden. Insbesondere musste der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Rechnung getragen werden. Schon
in der Mitte der 90er Jahre wurde klar, dass langfristig eine Revision dieses
Koordinationswerkes notwendig war. Es gab zahlreiche Versuche, die aber letztlich
nicht zum Erfolg führten. Von daher war es vielleicht eine glückliche Konstellation,
dass die EU-Erweiterung zum 1. Mai 2004 heranrückte. Unter diesem Druck haben die
Mitgliedstaaten zu einem Kompromiss in Form der schließlich verabschiedeten VO
(EG) Nr. 883/2004 gefunden. In Anlehnung an das, was man einmal über das Sozial-
gesetzbuch gesagt hat, kann man vielleicht auch hier die Formel von der
(Neu‑)Kodifikation bei begrenzter Sachreform benutzen. In quantitativer Hinsicht
konnte die Zahl der Vorschriften nur von 98 auf 91 reduziert werden. Bei zahlreichen
Einzelmaterien wurden geringfügige Neuerungen vorgenommen, zum Teil die
Rechtsprechung des EuGH übernommen, zum Teil aber auch bewusst davon
abweichende Lösungen eingeführt. Die weitestreichenden Lösungen sind im Bereich
des Risikos der Arbeitslosigkeit und bezüglich der Familienleistungen zu verzeichnen.
Das endgültige Inkrafttreten der VO (EG) Nr. 883/2004 ist davon abhängig, dass die
notwendige Durchführungsverordnung verabschiedet wird. Das wird noch etliche
Schwierigkeiten mit sich bringen. Man hat den Eindruck, dass etliche Mitgliedstaaten
die Verabschiedung der Durchführungsverordnung benutzen, um Lösungen durch-
zusetzen, die bei der Verabschiedung der VO (EG) Nr. 883/2004 noch nicht erreichbar
waren.