Urteil des BSG vom 18.02.2010

BSG: gesetzliche vermutung, freibetrag, leistungsfähigkeit, heizung, verfügung, deckung, krankenversicherung, miteigentumsanteil, rente, arbeitsmarkt

Bundessozialgericht
Urteil vom 18.02.2010
Sozialgericht Reutlingen S 9 AS 2396/05
Landessozialgericht Baden-Württemberg L 7 AS 5473/07
Bundessozialgericht B 14 AS 32/08 R
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. März 2008
aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht
zurückverwiesen.
Gründe:
I
1
Streitig ist ein Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld II (Alg II).
2
Die 1954 geborene Klägerin wohnt mit ihrer 1920 geborenen Mutter in einem im Eigentum der Mutter stehenden Haus
und pflegt sie. Die Mutter bezieht eine Rente in Höhe von 1300 Euro monatlich. Leistungen nach dem Elften Buch
Sozialgesetzbuch werden nicht gewährt. Die Klägerin beteiligt sich an den Kosten für den Unterhalt des Hauses nicht;
insbesondere zahlt sie keine Miete.
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Die Klägerin ist zusammen mit ihrem Lebensgefährten Miteigentümerin eines (nicht mit Verbindlichkeiten belasteten)
Grundstücks mit einer Fläche von 972 qm, das mit einem Einfamilienhaus bebaut ist. Der Lebensgefährte bewohnt
das Haus allein. Den Verkehrswert des Hausgrundstücks hat die Klägerin mit 193 700 Euro angegeben; es sei jedoch
eine Wertminderung eingetreten, weil nach 29 Jahren Renovierungsbedarf bestehe. Daneben verfügte die Klägerin im
hier streitigen Zeitraum über drei Lebensversicherungen.
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Nachdem ein zum 1.1.2005 gestellter Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ohne Erfolg
geblieben war, beantragte die Klägerin am 23.3.2005 bei der Beklagten erneut Leistungen nach dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) und machte geltend, ihr Vermögen sei unter den Freibetrag gesunken. Sie habe eine
Lebensversicherung in Höhe von 3385 Euro aufgelöst, hiervon 1498 Euro für dringende Instandhaltungsarbeiten an
ihrem eigenen Haus eingesetzt und den Rest für ihren Lebensunterhalt verbraucht. Antrag und Widerspruch blieben
ohne Erfolg (Bescheid der Agentur für Arbeit Balingen vom 28.4.2005; Widerspruchsbescheid der Beklagten vom
13.7.2005). Die Klägerin verfüge über verwertbares Vermögen in Höhe von 105 477,05 Euro, das den Freibetrag von
10 750 Euro übersteige. Dabei seien Lebensversicherungen in Höhe von 8627,37 Euro sowie der Miteigentumsanteil
mit einem Wert von 96 849,68 Euro zu berücksichtigen.
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Das Sozialgericht (SG) Reutlingen hat die dagegen erhobene Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 19.10.2007).
Die hiergegen gerichtete Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 13.3.2008
zurückgewiesen. Die Klägerin sei gemäß § 9 Abs 1 Halbs 2 SGB II nicht hilfebedürftig, weil sie die erforderliche Hilfe
von ihrer Mutter, mit der sie nicht in Bedarfsgemeinschaft lebe, tatsächlich erhalte. Die Verwendung der Rente ihrer
Mutter zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts sowie das in Anspruch genommene kostenfreie Wohnen stellten
zwar kein Einkommen der Klägerin im Sinne des § 9 Abs 1 Halbs 1 SGB II dar. § 9 Abs 1 SGB II enthalte in Halbs 2
aber einen eigenständigen und unmittelbaren Subsidiaritätsgrundsatz, wie er auch in § 2 Abs 1 des Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch (SGB XII) normiert sei. Die Hilfeleistung anderer sei insoweit von eigenem Einkommen zu trennen.
Diese anderweitige Bedarfsdeckung schließe im Sozialhilferecht Leistungen auf Grund des Nachranggrundsatzes in §
2 Abs 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) aus (Hinweis auf Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), BVerwGE 108, 36
und BVerwGE 122, 317). Dies gelte weiterhin, denn der mit der Einführung des SGB II und SGB XII vorgenommene
Systemwechsel berühre die grundsätzliche Subsidiarität des den gesamten Lebensunterhalt sichernden materiellen
Sozialhilferechts nicht. Vorliegend habe die Klägerin tatsächlich Zuwendungen von ihrer Mutter erhalten und erhalte
diese weiterhin, die den gesamten Bedarf deckten. Sie wohne mietfrei im Haus der Mutter und habe selbst
eingeräumt, seit April 2005 ihren Lebensunterhalt aus dem Einkommen der Mutter zu decken. Die Mutter sei auch
tatsächlich in der Lage, den Lebensunterhalt der Klägerin zu decken, ohne ihren eigenen notwendigen Lebensunterhalt
zu gefährden. Es ergebe sich ein grundsicherungsrechtlicher Gesamtbedarf in Höhe von 945,61 Euro (Regelsatz der
Mutter nach dem SGB XII zuzüglich eines Mehrbedarfs nach § 30 Abs 1 SGB XII in Höhe von insgesamt 406 Euro,
Regelbedarf der Klägerin in Höhe von 347 Euro, Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 192,65
Euro ausgehend von den für das Jahr 2004 angegebenen Kosten), der das Einkommen der Mutter in Höhe von 1300
Euro nicht übersteige. Dieses Ergebnis widerspreche nicht den Kriterien, die im Rahmen des § 9 Abs 5 SGB II
anzuwenden seien. § 9 Abs 5 SGB II regele nicht die Fälle, in denen der Verwandte tatsächlich Leistungen erbringe,
auch wenn dies von ihm - typisiert - nicht erwartet werden könne. Daher komme es vorliegend auf das Bestehen einer
Haushaltsgemeinschaft nicht an. Die Klägerin habe schließlich nicht vorgetragen, die Sicherung ihres
Lebensunterhalts aus dem Einkommen ihrer Mutter stelle nur eine vorschussweise Überbrückung bis zur
Leistungsgewährung durch die Beklagte dar. Angesichts der Höhe der Rente und der Pflegeleistungen der Klägerin
dränge sich dies auch nicht auf.
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Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin. Sie hält die Berücksichtigung von Leistungen ihrer Mutter nach § 9
Abs 1 SGB II für nicht zulässig. Die Auffassung des LSG verletze insbesondere § 9 Abs 1 und § 9 Abs 5 iVm § 1
Abs 2 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V), wonach das Einkommen der Mutter im dort genannten
Umfang nicht anrechnungsfähig sei. Nach der Auffassung des LSG sei sie ferner von der gesetzlichen
Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung ausgeschlossen, die aber ebenso wie die
Bedarfsdeckung im Übrigen zur notwendigen Daseinsvorsorge gehöre. Aus der Tatsache, dass die Mutter die von der
Beklagten geschuldete Leistung erbringe, könne ferner nicht geschlossen werden, dass die Leistungspflicht der
Beklagten hinfällig sei. Insoweit würden ihr in Konsequenz der Auffassung des LSG notwendige Leistungen zur
Existenzsicherung vorenthalten und insoweit Art 2 Grundgesetz (GG) verletzt. Es widerspreche schließlich jeder
Lebenserfahrung, dass für den Nachweis einer nur übergangsweisen Unterstützung durch Verwandte eine
ausdrücklich abgeschlossene Darlehensvereinbarung Voraussetzung sei.
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Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13.3.2008 und den
Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 19.10.2007 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28.4.2005 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.7.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab
dem 23.3.2005 bis zum 21.6.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
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Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
II
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Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne einer Aufhebung der Entscheidung und Zurückverweisung der Sache
an das LSG begründet, § 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Der Senat kann auf Grundlage der
Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden, ob und ggf welches zu berücksichtigende Einkommen oder
Vermögen der Klägerin zur Abwendung ihrer Hilfebedürftigkeit zur Verfügung stand.
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1. Streitgegenstand im vorliegenden Verfahren sind noch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit
vom 23.3.2005 bis zum 21.6.2005. Die Klägerin hat auf Hinweis des Senats ihren Antrag im Revisionsverfahren
entsprechend begrenzt, nachdem sich die Beteiligten wegen der Folgezeiträume, über die die Beklagte auf einen
Antrag vom 22.6.2005 hin mit einem weiteren Bescheid entschieden hatte, im Wege eines so genannten
Überprüfungsvergleichs geeinigt hatten.
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2. Leistungen nach dem SGB II erhalten nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II idF des Vierten Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl I 2954) Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das
65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (Nr 1), die erwerbsfähig (Nr 2) und hilfebedürftig (Nr 3) sind und ihren
gewöhnlichen Aufenthaltsort in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr 4).
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Nach § 7 Abs 1 Nr 3, § 9 Abs 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit
und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend
aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit (Nr 1) oder aus dem zu
berücksichtigenden Einkommen und Vermögen (Nr 2) sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen,
insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Die Klägerin bildete hier gemäß § 7
Abs 3 Nr 1 SGB II allein für ihre Person "eine Bedarfsgemeinschaft". Eine Bedarfsgemeinschaft zwischen über
fünfundzwanzigjährigen Kindern und ihren Eltern sieht das Gesetz nicht vor, weshalb hier eine Bedarfsgemeinschaft
zwischen der Klägerin und ihrer Mutter nicht angenommen werden kann (dazu BSGE 97, 211 = SozR 4-4200 § 20 Nr
2, jeweils RdNr 18 f). Die Hilfebedürftigkeit der Klägerin misst sich daran, ob und inwieweit im streitigen Zeitraum ihr
Bedarf (dazu unter 3) von dem zu berücksichtigenden Einkommen (dazu unter 4) und ggf einzusetzenden Vermögen
(dazu unter 5) gedeckt wird.
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3. Bei Prüfung des Anspruchs der Klägerin auf Alg II ist vorliegend der durch die Regelleistung nach § 20 Abs 2 SGB
II (in der Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I
2954) für einen Alleinstehenden ausgedrückte Bedarf in Höhe von 345 Euro zu Grunde zu legen. Das LSG ist in
Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats (BSGE 101, 70 = SozR 4-4200 § 11 Nr 11) davon
ausgegangen, dass im Hinblick auf die pauschalierte Regelleistung für eine individuelle Bedarfsermittlung vor dem
Hintergrund möglicherweise ersparter Aufwendungen kein Raum ist. Daneben besteht ein Bedarf für Kosten der
Unterkunft und Heizung (vgl § 22 SGB II) nach den bisherigen Feststellungen des LSG nicht, weil der Klägerin keine
solchen tatsächlichen Aufwendungen entstanden sind. Insoweit kommt nach dem Wortlaut des § 22 SGB II
abweichend von § 20 SGB II nur die Berücksichtigung tatsächlich anfallender Kosten als die Hilfebedürftigkeit
begründender Bedarf in Betracht.
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4. Ob und ggf in welchem Umfang dieser Bedarf der Klägerin durch Einkommen gedeckt ist, kann nicht abschließend
entschieden werden. Die Feststellung des LSG, die Klägerin habe "seit April 2005 ihren Lebensunterhalt aus dem
Einkommen der Mutter bestritten", trägt allein die rechtliche Schlussfolgerung nicht, sie - die Klägerin - sei wegen der
vollständigen Deckung ihres Bedarfs nicht hilfebedürftig im Sinne des § 9 Abs 1 SGB II. Nur soweit die Klägerin mit
ihrer Mutter in einer Haushaltsgemeinschaft lebt, kann nach § 9 Abs 5 SGB II vermutet werden, dass ihr
Unterstützungsleistungen in dem dann nach §§ 1 Abs 2, 4 Abs 2 Alg II-V (hier in der Fassung vom 20.10.2004 (BGBl
I 2622)) zu bestimmenden Umfang zufließen, ohne dass der entsprechende Zufluss im Einzelnen nachgewiesen sein
muss (dazu unter a). Darüber hinausgehend können Einnahmen nur Berücksichtigung finden, wenn feststeht, dass
und in welchen Umfang Geldleistungen der Mutter tatsächlich zugeflossen sind (dazu unter b). Das LSG wird die noch
fehlenden Ermittlungen im Hinblick auf beide Möglichkeiten nachzuholen haben (dazu unter c).
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a) Lebt der Hilfebedürftige mit anderen Personen zusammen, ohne dass sie eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des §
7 Abs 3 SGB II bilden, bietet lediglich § 9 Abs 5 SGB II iVm § 1 Abs 2, § 4 Abs 2 Alg II-V eine Handhabe dafür,
Einkommen (und ggf Vermögen) eines Mitglieds des Haushalts bei der Prüfung des Bedarfs beim Hilfebedürftigen zu
berücksichtigen, ohne dass der entsprechende Zufluss bei ihm nachgewiesen sein muss. § 9 Abs 5 SGB II knüpft
insoweit an eine bestehende Haushaltsgemeinschaft zwischen Verwandten und Verschwägerten im Sinne des
Wirtschaftens aus einem Topf die Vermutung, dass der Hilfebedürftige bei Leistungsfähigkeit des Verwandten
Leistungen in bestimmter Höhe auch erhält (im Einzelnen BSG SozR 4-4200 § 9 Nr 6). Der Zufluss der
Unterstützungsleistungen wird dabei widerleglich vermutet: Besteht eine Haushaltsgemeinschaft, ist es dem
Hilfebedürftigen möglich, die gesetzliche Vermutung - er erhält Leistungen von den Verwandten oder Verschwägerten -
zu widerlegen, indem er Tatsachen vorträgt, die geeignet sind, Zweifel an der Richtigkeit der Vermutung zu
begründen. Nur dann besteht Anlass, weitergehend von Amts wegen zu ermitteln. Unterstützungen von Verwandten
werden im Anwendungsbereich des § 9 Abs 5 SGB II mithin dann nicht berücksichtigt, wenn nachgewiesen ist, dass
sie trotz entsprechender Leistungsfähigkeit tatsächlich nicht erbracht werden. Der Sache nach handelt es sich im
Übrigen auch bei solchen Leistungen durch Familienangehörige um zu berücksichtigendes Einkommen des
Hilfebedürftigen iS des § 9 Abs 1 Nr 2, § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II (vgl bereits BSGE 102, 258 = SozR 4-4225 § 1 Nr 1,
jeweils RdNr 18).
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b) Tatsächlich gewährte Unterstützungsleistungen von Verwandten oder Verschwägerten in Geld oder Geldeswert, die
über die Leistungsfähigkeit im Sinne des § 9 Abs 5 SGB II iVm § 1 Abs 2 Alg II-V hinaus erfolgen, sind wie sonstige
Zuwendungen von Dritten nach den Grundsätzen des § 9 Abs 1 Nr 2 iVm § 11 SGB II zur Deckung der Bedarfe
heranzuziehen. Entgegen der Auffassung der Klägerin schließt § 9 Abs 5 SGB II die Berücksichtigung von
weitergehenden, tatsächlich zufließenden Unterstützungsleistungen innerhalb von Haushaltsgemeinschaften nicht von
vornherein aus. § 9 Abs 5 SGB II beinhaltet lediglich die entsprechende Wertung des Gesetzgebers, dass unter
Angehörigen einer Haushaltsgemeinschaft eine gegenseitige Unterstützung erst erwartet und also der Zufluss
vermutet werden kann, wenn dem Verwandten oder Verschwägerten ein deutlich über den Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts liegendes Lebenshaltungsniveau verbleibt. Soweit Zuflüsse tatsächlich nachgewiesen sind,
räumt die Vorschrift keine über § 11 Abs 2 und 3 SGB II hinausgehende Privilegierung von Einkommen auf Seiten des
Hilfebedürftigen ein.
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Der Zufluss solcher Geldleistungen muss aber konkret nachgewiesen sein. Während § 9 Abs 2 SGB II innerhalb der
Bedarfsgemeinschaft eine bestimmte Verteilung des Einkommens ihrer Mitglieder unwiderleglich unterstellt (vgl etwa
BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, jeweils RdNr 29; BSGE 102, 76 = SozR 4-4200 § 9 Nr 7, jeweils RdNr 31)
und § 9 Abs 5 SGB II die Anforderungen an die Ermittlungen zum Tatbestandsmerkmal "Hilfebedürftigkeit" wegen der
Vermutung von Einkommen einschränkt, treffen den Hilfebedürftigen bei der Berücksichtigung von Einkommen in den
übrigen Fällen bei der Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen Mitwirkungsobliegenheiten (vgl § 60
Sozialgesetzbuch Erstes Buch und dazu BSGE 101, 260 = SozR 4-1200 § 60 Nr 2). Lässt sich Hilfebedürftigkeit nicht
nachweisen, geht dies zu Lasten des Antragstellers. Dies erlaubt es aber nicht, den Zufluss von Einkommen, der der
Annahme von Hilfebedürftigkeit entgegenstehen könnte, zu unterstellen (vgl auch Bundesverfassungsgericht
Beschluss vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927 = Breith 2005, 803 = juris RdNr 28).
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Vorliegend hat das LSG, ausdrücklich ohne Feststellungen zu einer Haushaltsgemeinschaft iS des § 9 Abs 5 SGB II
zu treffen, den Zufluss von Einkommen der Mutter in ausreichender Höhe (lediglich) vermutet und dies damit
begründet, das Einkommen der Mutter reiche (in entsprechender Anwendung der ausschließlich für
Bedarfsgemeinschaften vorgesehenen horizontalen Berechnungsmethode) zur Deckung des Gesamtbedarfs aus. Eine
solche "Vermutungsregel" widerspricht den insoweit abschließenden Grundsätzen des § 9 Abs 5 SGB II und ist damit
unzulässig. Unerheblich ist im Hinblick auf die Ermittlung von Einkommen auch, dass die Klägerin "keine konkreten
Bedarfslagen genannt hat, die ungedeckt bleiben würden", wie das LSG meint. Der in der Regelleistung zum Ausdruck
kommende Gesamtbedarf eines Hilfebedürftigen ist pauschal bestimmt, sodass die Begründung von Ansprüchen
nach dem SGB II gerade nicht die Feststellung (und erst recht nicht den entsprechenden Vortrag des Antragstellers)
voraussetzt, bestimmte Bedarfe, die in der Regelleistung zum Ausdruck kommen (Essen, Kleidung etc), seien
ungedeckt. Schließlich genügt die in den Urteilsgründen wiedergegebene (offenbar erst nach Antragstellung gemachte)
Angabe der Klägerin, "seit April 2005 ihren Lebensunterhalt aus dem Einkommen der Mutter zu decken", in dieser
Allgemeinheit nicht, um von einer vollständigen Bedarfsdeckung durch den Zufluss von Einkommen auszugehen.
Allein die Tatsache, dass auch ohne die entsprechenden Leistungen durch den Träger der Grundsicherung jedenfalls
das Lebensnotwendige offenbar gesichert war, lässt Hilfebedürftigkeit nicht (im Nachhinein) entfallen. Entscheidend
ist, ob Einkommen in Geld oder Geldeswert im jeweils zu beurteilenden Zeitraum in einer Höhe konkret zur Verfügung
steht, das den Gesamtbedarf (vorliegend 345 Euro) vollständig deckt.
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Entgegen der Auffassung des LSG folgt aus § 9 Abs 1 letzter Halbsatz SGB II nichts anderes. Soweit hier neben den
Möglichkeiten der Bedarfsdeckung durch zu berücksichtigendes Einkommen und Vermögen auf die erforderliche Hilfe
anderer, insbesondere die Hilfe von Angehörigen, Bezug genommen wird, ist damit keine weitere, eigenständige
Möglichkeit der "faktischen" Bedarfsdeckung aufgezeigt. Sobald ein Hilfebedürftiger solche Hilfen "erhält", handelt es
sich um Einkommen im Sinne des § 11 Abs 1 Satz 1 SGB II. Die Nennung der Hilfe anderer im Gesetz ist vor dem
Hintergrund des § 9 Abs 1 Nr 2 SGB II überflüssig und verdeutlicht nur, dass es (auch) insoweit auf den tatsächlichen
Zufluss "bereiter Mittel" ankommt (vgl Brühl/Schoch in LPK-SGB II, 3. Aufl 2009, § 9 RdNr 14 f). Nichts anderes galt
im Übrigen unter Geltung des BSHG. Auch insoweit war entscheidend, ob Einkommen im Sinne des § 11 BSHG
tatsächlich zufließt (so etwa ausdrücklich die vom LSG herangezogene Entscheidung BVerwGE 108, 36, 39 = juris
RdNr 13). Daneben kam zwar auf Grundlage des § 22 Abs 1 Satz 2 BSHG die Minderung des eigenen Bedarfs durch
Hilfeleistungen anderer in Betracht (vgl BVerwG aaO sowie BVerwG Beschluss vom 30.12.1996 - 5 B 47/96 - FEVS
47, 337; BVerwGE 72, 354). Wie der Senat bereits entschieden hat, ist eine § 22 Abs 1 Satz 2 BSHG und § 28 Abs 1
Satz 2 SGB XII entsprechende Rechtsgrundlage, die eine abweichende Bestimmung der Bedarfe erlaubt, im SGB II
aber nicht ersichtlich (BSGE 101, 70 = SozR 4-4200 § 11 Nr 11 zur Verköstigung während eines
Krankenhausaufenthalts und Urteil vom 18.6.2008 - B 14 AS 46/07 R - zur kostenlosen Verpflegung durch
Familienangehörige). Insoweit hat sich das SGB II von den zuvor geltenden Grundsätzen der Sozialhilfe gelöst.
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c) Das LSG hat es ausdrücklich offen gelassen, ob zwischen der Klägerin und ihrer Mutter eine
Haushaltsgemeinschaft im Sinne des § 9 Abs 5 SGB II bestand. Die notwendigen Ermittlungen dazu, ob die Klägerin
und ihre Mutter aus einem Topf wirtschafteten (vgl BSG SozR 4-4200 § 9 Nr 6), wird es nachzuholen haben. Gelangt
es zu der Überzeugung, es habe im streitigen Zeitraum eine Haushaltsgemeinschaft bestanden, wird es weiter zu
überprüfen haben, ob überhaupt bzw in welchem Umfang auf Grundlage des § 9 Abs 5 iVm § 1 Abs 2 Alg II-V und § 4
Abs 2 Alg II-V (nunmehr: § 7 Abs 2 Alg II-V in der Fassung vom 17.12.2007 (BGBl I 2942)) eine Unterstützung der
Klägerin durch ihre Mutter erwartet werden konnte. Nach den bisherigen Feststellungen spricht einiges für die
Leistungsfähigkeit der Mutter (jedenfalls in gewissem Umfang) als weitere Voraussetzung für die Vermutung iS des §
9 Abs 5 SGB II, ohne dass hierzu vom Senat abschließend eine Entscheidung getroffen werden könnte.
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Zunächst ist das bereinigte Einkommen der Mutter zu ermitteln. Von dem Rentenzahlbetrag, der bislang die einzige
ersichtliche Einnahme darstellt, sind die Absetzungen des § 11 Abs 2 SGB II vorzunehmen. Im Hinblick auf den
Vortrag der Klägerin, ihre Krankenversicherung sei nicht gesichert gewesen, wird das LSG dabei zu beachten haben,
dass vom Einkommen der Mutter auch solche Absetzungen entsprechend § 11 Abs 2 SGB II vorzunehmen sind, die
zugunsten der Klägerin erfolgen. Zahlt die Mutter beispielsweise tatsächlich Aufwendungen für eine
Krankenversicherung (§ 11 Abs 2 Nr 3 SGB II) oder eine geförderte Altersvorsorge nach § 82
Einkommensteuergesetz (§ 11 Abs 2 Nr 4 SGB II) für die Klägerin, sind die entsprechenden Beiträge von ihrem
Einkommen abzusetzen.
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Sodann ist der Freibetrag nach § 1 Abs 2 Satz 1 Alg II-V festzulegen. Auszugehen ist vom doppelten Freibetrag nach
§ 20 Abs 2 SGB II (im streitigen Zeitraum mithin 690 Euro monatlich) zuzüglich der anteiligen Aufwendungen für
Unterkunft und Heizung, wobei die Mutter nach den bisherigen Feststellungen des LSG sämtliche Aufwendungen für
den Unterhalt des Hauses trägt. Solche Aufwendungen sind nach der Rechtsprechung der für das Recht der
Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate allerdings auch zugunsten selbst genutzter Immobilien
lediglich in den Monaten, in denen sie tatsächlich anfallen, berücksichtigungsfähig (vgl etwa BSGE 100, 186 = SozR
4-4200 § 12 Nr 10, jeweils RdNr 34; SozR 4-4200 § 22 Nr 17 RdNr 14). Abweichend von dem in § 1 Abs 2 Alg II-V
beschriebenen Regelfall wird schließlich der Einsatz des Einkommens von Angehörigen, die in ihrer Person die
Voraussetzungen für einen Mehrbedarf entsprechend §§ 21, 28 Abs 1 Satz 3 SGB II bzw § 30 SGB XII erfüllen, nur
erwartet werden können, soweit die Einnahmen zusätzlich zum Freibetrag den für den jeweiligen Mehrbedarf
vorgesehenen Betrag (hier also in Ansehung des Alters der Mutter ein Mehrbedarf von 17 Prozent der Regelleistung)
überschreiten. Soweit die bereinigten Einnahmen diese Grenze überschreiten, wird der Zufluss dieser Einnahmen bei
der Klägerin in Höhe von 50 Prozent als Einkommen iS des § 11 Abs 1 SGB II unterstellt.
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Schließlich sind die notwendigen Feststellungen zum Vermögen der Mutter nachzuholen. Es kann auf Grundlage der
bisherigen Feststellungen insbesondere nicht beurteilt werden, ob das selbst genutzte Hausgrundstück eine
angemessene Größe hat und damit von einer möglichen Verwertung nach § 4 Abs 2 Alg II-V iVm § 12 Abs 3 Nr 3
SGB II ausgenommen ist. Ob und ggf welcher Einsatz von weiteren Vermögensgegenständen der Mutter zur
Abwendung von Hilfebedürftigkeit der Klägerin erwartet werden kann, ist bislang ebenfalls nicht ermittelt.
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In Anbetracht der schriftlichen Angaben der Klägerin im Verlauf des bisherigen Verfahrens, wie sie aus den Akten
ersichtlich sind, kann es abschließend - sofern diese Anhaltspunkte auch nach Aufklärung der Einzelheiten zu einer
möglichen Haushaltsgemeinschaft fortbestehen - angebracht sein, den Sachverhalt im Hinblick auf (weitergehende)
tatsächliche Geldzuwendungen der Mutter aufzuklären. Die für diesen Fall erforderlichen umfassenden Ermittlungen
und Würdigungen dahin, ob und in welcher Höhe im Einzelnen Einkommen in Geld tatsächlich (und zum endgültigen
Verbrauch) zugeflossen ist, hat das LSG - ausgehend von seiner Rechtsauffassung - bislang unterlassen. Dies wird
es ggf nachzuholen haben.
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5. Ergeben die weiteren Ermittlungen des LSG, dass das zur Verfügung stehende Einkommen den Bedarf der Klägerin
nicht oder nicht vollständig deckt, wird es zu prüfen haben, inwieweit der Miteigentumsanteil an dem Hausgrundstück
zum verwertbaren Vermögen der Klägerin gehört hat, das zur Beseitigung der Hilfebedürftigkeit einzusetzen wäre.
Problematisch erscheint insoweit schon, ob - wie vom SG angenommen - der Miteigentumsanteil prognostisch
innerhalb von 6 Monaten ab Antragstellung rechtlich und tatsächlich verwertbar war (dazu BSGE 99, 248 = SozR 4-
4200 § 12 Nr 6 RdNr 15 und BSG SozR 4-4200 § 12 Nr 12 RdNr 23). Schließlich ist zu prüfen, ob und in welchem
Umfang - wie von der Beklagten angenommen - auch die Lebensversicherungen zum zu berücksichtigenden
Vermögen gehören.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.