Urteil des BSG vom 20.03.2013

BSG: Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz, sachliche Voraussetzung, Fachdirektor Õkonomie, fiktive Einbeziehung

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 20.3.2013, B 5 RS 3/12 R
Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz - sachliche
Voraussetzung - Fachdirektor Ökonomie - fiktive Einbeziehung
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 15.
Dezember 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht
zurückverwiesen.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Zeit vom 3.5.1971 bis
zum 30.6.1990 als Zeit der Zugehörigkeit zur zusätzlichen Altersversorgung der
technischen Intelligenz (AVItech) einschließlich der dabei erzielten Arbeitsentgelte
festzustellen.
2 Der 1946 geborene Kläger erwarb an der Universität R. den akademischen Grad "Diplom-
Ingenieur" (Urkunde vom 31.3.1971). Ab dem 3.5.1971 arbeitete er bei verschiedenen
Volkseigenen Betrieben (VEB), zuletzt vom 1.2. bis 30.6.1990 beim VEB E.
3 Dort wirkte er als "Fachdirektor Ökonomie" wesentlich an der Umstrukturierung des VEB
mit. Dieser produzierte im 1. Halbjahr 1990 mit 107 Arbeitnehmern Antennen, Heizkörper,
Plastschweißgeräte und Leuchten. Gleichzeitig beschäftigte der VEB in den Bereichen der
Elektroinstallation 250, der Verwaltung 78, der Projektierung 20 und der Lagerwirtschaft 8
Mitarbeiter. Der Kläger erhielt keine Versorgungszusage, zahlte aber Beiträge zur
Freiwilligen Zusatzrentenversicherung; eine korrigierende Rehabilitierungsentscheidung
wurde nicht getroffen.
4 Den Antrag des Klägers, seine Zusatzversorgungsanwartschaften festzustellen und zu
überführen, lehnte die Beklagte ab, weil er die sachliche Voraussetzung nicht erfülle. Denn
als "Fachdirektor Ökonomie" sei er nicht entsprechend seiner Qualifikation
ingenieurtechnisch beschäftigt gewesen (Bescheid vom 12.12.2002;
Widerspruchsbescheid vom 9.4.2003).
5 Das SG hat dem Kläger Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist gewährt und die
Klage abgewiesen (Urteil des SG Halle vom 24.3.2005). Die Berufung ist erfolglos
geblieben (Urteil des LSG Sachsen-Anhalt vom 15.12.2011): Der Kläger habe keinen
Anspruch auf Feststellung von Zugehörigkeitszeiten zu einem Zusatzversorgungssystem
nach § 8 Abs 3 S 1 iVm Abs 2 und § 1 Abs 1 S 1 des Anspruchs- und
Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) vom 25.7.1991 (BGBl I 1606, seither mehrfach
geändert, zuletzt durch das Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze vom 19.12.2007, BGBl I 3024). Denn er falle nicht in den
Geltungsbereich des § 1 Abs 1 S 1 AAÜG, weil er der AVItech weder tatsächlich noch im
Wege der Unterstellung angehört habe. Ihm sei weder eine Versorgung zugesagt worden
noch liege eine Rehabilitierungsentscheidung oder der rechtsstaatswidrige Entzug einer
Versorgungsanwartschaft vor. Die Rechtsprechung des BSG, wonach die Zugehörigkeit zu
einem Zusatzversorgungssystem auch im Wege der Unterstellung erfolgen könne, lehne
der Senat ab. Abgesehen davon lägen auch die vom BSG aufgestellten Voraussetzungen
für eine fingierte Versorgungsanwartschaft nicht vor. Zwar erfülle der Kläger als Ingenieur
die persönliche und als "Fachdirektor Ökonomie" auch die sachliche Voraussetzung. Zum
30.6.1990 sei er jedoch nicht in einem volkseigenen Produktionsbetrieb der Industrie oder
des Bauwesens oder einem gleichgestellten Betrieb beschäftigt gewesen. Fraglich sei
schon, ob es am Stichtag überhaupt noch VEB gegeben habe, die organisatorisch dem
industriellen Produktionssektor der DDR-Planwirtschaft zugeordnet gewesen seien. Denn
es sei zweifelhaft, ob es im Juni 1990 eine Planwirtschaft iS des Art 9 Abs 3 der Verfassung
der DDR überhaupt noch gegeben habe. Ungeachtet dessen sei der VEB E. kein
volkseigener Produktionsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens gewesen, weil der
Schwerpunkt der Betriebstätigkeit nicht in der Produktion (Antennen, Heizkörper,
Plastschweißgeräte und Leuchten), sondern im Bereich der Elektroinstallation gelegen
habe. Denn die Zahl der Beschäftigten in der Elektroinstallation (250) übersteige die Zahl
der in der Produktion eingesetzten Mitarbeiter (107) deutlich. Soweit der Senat in dem
Verfahren L 1 R 105/08 von nur zehn Mitarbeitern im Bereich der Elektroinstallation
ausgegangen sei, könne daran nicht mehr festgehalten werden. Bei der Elektroinstallation
würden keine neuen Produkte seriell hergestellt, sondern - ggf seriell hergestellte -
Sachgüter verarbeitet, indem zB Leuchten und Kabel angebracht bzw verlegt würden.
Insofern könnten Installation und Montage, die den Produktionsbegriff erfüllten, keinesfalls
gleichgesetzt werden. Der Schwerpunkt der betrieblichen Tätigkeit des VEB sei nicht
anhand des Gewinns zu beurteilen, der in den einzelnen Bereichen erzielt worden sei. Dies
gelte jedenfalls dann, wenn sich schon anhand der Verteilung der Arbeitskräfte der
Schwerpunkt des Betriebes - wie hier - deutlich herauskristallisiere. Denn auf den Aufwand
lasse sich nicht zuletzt durch den jeweiligen Mitarbeitereinsatz schließen. Hingegen sei der
Gewinn oder die Bilanz als Gradmesser für den betrieblichen Schwerpunkt problematisch,
weil dessen Ermittlung von den systembedingten Vorgaben abhänge und häufig nicht den
tatsächlichen Aufwand und Umsatz bzw Ertrag abbilde. So sei in der DDR nach den
Bestimmungen der Rechnungsführung und Statistik (RuSt) bilanziert worden. Die durch die
RuSt ermittelten Zahlen hätten der Leitung und Planung der Volkswirtschaft der DDR (§ 2
Abs 1 und 2 der Verordnung über Rechnungsführung und Statistik vom 11.7.1985, GBl
DDR I 261) und damit einem anderen Zweck gedient als eine handelsrechtliche Bilanz. Das
System der RuSt habe den Erfordernissen einer zentralgeleiteten Wirtschaft entsprochen,
ein einheitliches Rechnungswesen in der gesamten Volkswirtschaft zu schaffen, das nicht
nur die einzelnen Betriebe und Kombinate erfasse, sondern zugleich eine
volkswirtschaftliche Gesamtrechnung darstelle. Eine Rechnungslegung nach den
Grundsätzen der RuSt sei erforderlich gewesen, um ablesen zu können, ob ein Betrieb
seine Planvorgaben erreicht habe.
6 Mit der Revision, die das LSG zugelassen hat, rügt der Kläger insbesondere die Verletzung
materiellen Rechts: Soweit das LSG den Schwerpunkt der betrieblichen Tätigkeit allein
anhand der Mitarbeiterzahl pro Abteilung bestimme, verkenne es, dass es nach der
Rechtsprechung des BSG allein auf die Anteile an Aufwand und Umsatz bzw Ertrag
ankomme. Der VEB E. habe schwerpunktmäßig Antennen, Heizkörper, Plastschweißgeräte
und Leuchten produziert. Im Bereich der Elektroinstallation seien nur 10 Mitarbeiter im
Außeneinsatz tätig gewesen. Die anderen hätten beispielsweise in industrieller Art und
Weise Schaltschrankbau betrieben, und zwar weitestgehend aufgrund gleich gerichteter
Anforderungen. Außerdem hätten sie bei der Vorinstallation für Gleich- und Wechselrichter,
die im Straßenbahnbau und bei der Montage von Zügen eingesetzt worden seien,
vorgefertigte Bauteile im Wege der industriellen Massenproduktion zum fertigen Produkt
verbaut. Ferner seien Installationseinrichtungen für den Einsatz in Industrieanlagen
vorgefertigt worden, wobei eine ausschließlich spezifische Montage für besondere
Anforderungen nur im Ausnahmefall erfolgt sei. Derartige Installationsarbeiten erfüllten -
ebenso wie Montagetätigkeiten - den Produktionsbegriff. Entgegen der Ansicht des LSG
hätten am 30.6.1990 auch noch der DDR-Planwirtschaft zuzuordnende VEB existiert. Jede
andere Auslegung führe die verfassungsgerichtlich bestätigte Rechtsprechung des BSG zur
Überführung fiktiver Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen ad
absurdum.
7 Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 24. März 2005 und das Urteil des
Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 15. Dezember 2011 sowie den Bescheid
der Beklagten vom 12. Dezember 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 9. April 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Zeit vom 3. Mai
1971 bis zum 30. Juni 1990 als Zeit der Zugehörigkeit zur zusätzlichen
Altersversorgung der technischen Intelligenz sowie die in diesem Zeitraum erzielten
Arbeitsentgelte festzustellen.
8 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
9 Die betriebliche Voraussetzung sei nicht erfüllt. Der VEB E. sei kein
Produktionsdurchführungsbetrieb gewesen, dem eine industrielle Massenproduktion von
Sachgütern in Gestalt von Antennen, Heizkörpern, Plastschweißgeräten und Leuchten das
Gepräge gegeben habe. Denn der überwiegende Teil der Beschäftigten sei nicht in der
Sachgüterproduktion, sondern mit der Installation von Elektroanlagen beschäftigt gewesen.
Elektroinstallationsarbeiten seien immer den individuellen Gegebenheiten und Vorgaben
der Kunden anzupassen, weil Leitungen und Verteiler verlegt und Elemente miteinander
verbunden werden müssten, was nicht seriell erfolgen könne. Damit unterscheide sich
diese Art der Installation auch von der (seriellen) Industriemontage, bei der massenhaft
Einzelteile zu einem grundsätzlich gleichen, nur in Details unterschiedlichen neuen
industriellen Sachgut in hohen Stückzahlen zusammengesetzt würden.
Entscheidungsgründe
10 Die Revision ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 S
2 SGG), weil weitere Tatsachenfeststellungen erforderlich sind.
11 Die Klage war zulässig. Das LSG hat zu Recht festgestellt, dass das SG verbindlich
Wiedereinsetzung (§ 67 Abs 1 und 4 S 2 SGG) in die versäumte Klagefrist (§ 87 Abs 1 S 1
iVm Abs 2 SGG) gewährt hat.
12 Ob die Beklagte die begehrten rechtlichen Feststellungen hätte treffen müssen, lässt sich
ohne weitere Tatsachenfeststellungen nicht entscheiden. Als Anspruchsgrundlage kommt
allein § 8 Abs 2, Abs 3 S 1 und Abs 4 Nr 1 AAÜG in Betracht. Nach § 8 Abs 3 S 1 AAÜG
hat die Beklagte als Versorgungsträger für die Zusatzversorgungssysteme der Anlage 1 Nr
1 bis 27 (§ 8 Abs 4 Nr 1 AAÜG) dem Berechtigten durch Bescheid den Inhalt der Mitteilung
nach Abs 2 aaO bekannt zu geben. Diese Mitteilung hat folgende Daten zu enthalten (vgl
BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 2 S 10): Zeiten der Zugehörigkeit zu einem
Zusatzversorgungssystem, das hieraus tatsächlich erzielte Arbeitsentgelt oder
Arbeitseinkommen, die Arbeitsausfalltage sowie - jedenfalls bis zum Inkrafttreten des 2.
AAÜG-ÄndG zum 3.8.2001 (vgl hierzu Senatsurteil vom 14.12.2011 - B 5 R 2/10 R - SozR
4-8570 § 7 Nr 3) - alle Tatumstände, die erforderlich sind, um eine besondere
Beitragsbemessungsgrenze anzuwenden (§§ 6, 7 AAÜG).
13 Allerdings hat der Versorgungsträger diese Daten nur festzustellen, wenn das AAÜG
anwendbar ist (BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 2 S 10 und Nr 6 S 37). Den Anwendungsbereich
des AAÜG, das am 1.8.1991 in Kraft getreten ist (Art 42 Abs 8 des Gesetzes zur
Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung -
Rentenüberleitungsgesetz - vom 25.7.1991, BGBl I 1606), regelt dessen seither
unveränderter § 1 Abs 1. Danach gilt das Gesetz für Ansprüche und Anwartschaften (=
Versorgungsberechtigungen), die auf Grund der Zugehörigkeit zu Zusatz- und
Sonderversorgungssystemen (Versorgungssysteme iS der Anlage 1 und 2) im
Beitrittsgebiet (§ 18 Abs 3 SGB IV) erworben worden sind (S 1). Soweit die Regelungen
der Versorgungssysteme einen Verlust der Anwartschaften bei einem Ausscheiden aus
dem Versorgungssystem vor dem Leistungsfall vorsahen, gilt dieser Verlust als nicht
eingetreten (S 2), sodass das AAÜG auch in diesen Fällen Geltung beansprucht.
14 Auf Grund der Feststellungen des LSG kann nicht entschieden werden, ob der Kläger vom
persönlichen Anwendungsbereich des AAÜG erfasst ist, weil er am 1.8.1991 aus
bundesrechtlicher Sicht eine "auf Grund der Zugehörigkeit" zur AVItech "erworbene"
Anwartschaft hatte. Hierauf kommt es deshalb entscheidend an, weil der Kläger weder
einen "Anspruch" iS von § 1 Abs 1 S 1 AAÜG noch eine fiktive Anwartschaft gemäß S 2
aaO innehat.
15 Der Ausdruck "Anspruch" umfasst in seiner bundesrechtlichen Bedeutung das (Voll-
)Recht auf Versorgung, wie die in § 194 BGB umschriebene Berechtigung, an die auch §
40 SGB I anknüpft, vom Versorgungsträger (wiederkehrend) Leistungen, nämlich die
Zahlung eines bestimmten Geldbetrages zu verlangen. Dagegen umschreibt
"Anwartschaft" entsprechend dem bundesdeutschen Rechtsverständnis eine
Rechtsposition unterhalb der Vollrechtsebene, in der alle Voraussetzungen für den
Anspruchserwerb bis auf den Eintritt des Versicherungs- bzw Leistungsfalls
(Versorgungsfall) erfüllt sind (BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 6 S 38 und Nr 7 S 54).
16 Ausgehend von diesem bundesrechtlichen Begriffsverständnis hat der Kläger schon
deshalb keinen "Anspruch" auf Versorgung iS des § 1 Abs 1 S 1 AAÜG erworben, weil bei
ihm bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1.8.1991 kein Versorgungsfall (Alter,
Invalidität) eingetreten war. Zu seinen Gunsten begründet auch nicht ausnahmsweise § 1
Abs 1 S 2 AAÜG eine (gesetzlich) fingierte Anwartschaft ab dem 1.8.1991, weil der Kläger
in der DDR nie konkret in ein Versorgungssystem einbezogen worden war und diese
Rechtsposition deshalb später auch nicht wieder verlieren konnte (vgl dazu BSG SozR 3-
8570 § 1 Nr 2 S 15 und Nr 3 S 20 f; SozR 4-8570 § 1 Nr 4 RdNr 8 f).
17 Dagegen kann auf der Grundlage der bisherigen Tatsachenfeststellungen nicht
entschieden werden, ob der Kläger "auf Grund der Zugehörigkeit" zu einem
Zusatzversorgungssystem eine "Anwartschaft" auf Versorgung iS von § 1 Abs 1 S 1 AAÜG
erworben hat. Der erkennende Senat hat die Rechtsprechung des 4. Senats des BSG (vgl
SozR 3-8570 § 1 Nr 7) zum Stichtag 30.6.1990 und zur sog erweiternden Auslegung im
Ergebnis in seinen Entscheidungen vom 15.6.2010 (vgl nur BSGE 106, 160 = SozR 4-
8570 § 1 Nr 17) ausdrücklich fortgeführt. Die weiterhin geäußerten Bedenken des LSG
geben keinen Anlass zur nochmaligen Prüfung (s dazu bereits Senatsurteil vom 9.5.2012 -
B 5 RS 7/11 R - Juris).
18 Ausgangspunkt für die Beurteilung der Frage einer fiktiven Zugehörigkeit zum System der
zusätzlichen Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen
gleichgestellten Betrieben auf der Grundlage des am 1.8.1991 geltenden Bundesrechts
am Stichtag 30.6.1990 sind die "Regelungen" für die Versorgungssysteme, die gemäß Anl
II Kap VIII Sachgebiet H Abschn III Nr 9 des Vertrags zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der
Einheit Deutschlands vom 31.8.1990 (BGBl II 889) mit dem Beitritt am 3.10.1990 zu -
sekundärem - Bundesrecht geworden sind. Dies sind insbesondere die Verordnung über
die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und
ihnen gleichgestellten Betrieben (VO-AVItech) vom 17.8.1950 (GBl DDR 844) und die 2.
Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der
technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben (2. DB)
vom 24.5.1951 (GBl DDR 487), soweit sie nicht gegen vorrangiges originäres Bundesrecht
oder höherrangiges Recht verstoßen.
19 Nach § 1 VO-AVItech und der dazu ergangenen 2. DB hängt das Bestehen einer
fingierten Versorgungsanwartschaft von folgenden drei Voraussetzungen ab (vgl BSG
SozR 3-8570 § 1 Nr 2 S 14, Nr 5 S 33, Nr 6 S 40 f, Nr 7 S 60; SozR 4-8570 § 1 Nr 9 S 48),
die kumulativ am Stichtag 30.6.1990 vorliegen müssen,
1. von der Berechtigung, eine bestimmte Berufsbezeichnung zu führen
(persönliche Voraussetzung),
2. von der Ausübung einer entsprechenden Tätigkeit (sachliche Voraussetzung),
3. und zwar in einem volkseigenen Produktionsbetrieb im Bereich der Industrie
oder des Bauwesens (§ 1 Abs 1 der 2. DB) oder in einem durch § 1 Abs 2 der
2. DB gleichgestellten Betrieb (betriebliche Voraussetzung).
20 Der Kläger erfüllt die persönliche Voraussetzung, weil er nach den bindenden
Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) berechtigt ist, den akademischen Grad "Diplom-
Ingenieur" zu führen. Ob der Kläger auch die sachliche (nachfolgend a) und die
betriebliche Voraussetzung (nachfolgend b) erfüllt, konnte der Senat nicht abschließend
entscheiden.
21 a) Nach der Rechtsprechung des früheren 4. Senats des BSG (Urteil vom 23.8.2007 - B 4
RS 2/07 R - Juris RdNr 18; s auch Urteil vom 31.3.2004 - B 4 RA 31/03 R - Juris RdNr 19 f)
und des erkennenden Senats (Urteile vom 9.10.2012 - B 5 RS 9/11 R - Juris RdNr 19 und
vom 9.5.2012 - B 5 RS 7/11 R - Juris RdNr 24) erfüllen Ingenieure die sachliche
Voraussetzung für eine Einbeziehung in das Zusatzversorgungssystem der technischen
Intelligenz nur dann, wenn der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit entsprechend ihrem Berufsbild
im produktionsbezogenen ingenieurtechnischen Bereich lag und damit die
Aufgabenerfüllung geprägt hat. Lag der Schwerpunkt dagegen in anderen Bereichen, zB
im wirtschaftlichen bzw kaufmännischen Bereich, waren die Ingenieure nicht
schwerpunktmäßig, dh überwiegend, entsprechend ihrem Berufsbild, sondern vielmehr
berufsfremd eingesetzt. Nach der ständigen Rechtsprechung bedeutet "berufsfremd" die
Ausübung einer Tätigkeit, die nicht schwerpunktmäßig durch die durchlaufene Ausbildung
und die im Ausbildungsberuf typischerweise gewonnenen Erfahrungen geprägt ist
(Senatsurteile aaO).
22 Für die Prüfung der sachlichen Voraussetzung ist demnach von der erworbenen
Berufsbezeichnung iS der 2. DB auszugehen und zu ermitteln, welches Berufsbild dieser
unter Berücksichtigung der Ausbildung und der im späteren Ausbildungsberuf
typischerweise gewonnenen Erfahrungen zu Grunde liegt. Im Anschluss hieran ist
festzustellen, welche Tätigkeit der Versicherte konkret ausgeübt hat und zu fragen, ob
diese im Schwerpunkt dem der Berufsbezeichnung zu Grunde liegenden Berufsbild
entspricht. Dies ist zu bejahen, wenn die ausgeübte Tätigkeit überwiegend durch die in
der Ausbildung zu einem Beruf iS des § 1 Abs 1 der 2. DB gewonnenen Kenntnisse und
Fertigkeiten und die im Ausbildungsberuf typischerweise gewonnenen Erfahrungen
geprägt ist (Senatsurteile vom 9.10.2012 - B 5 RS 9/11 R - Juris RdNr 20 und vom
9.5.2012 - B 5 RS 7/11 R - Juris RdNr 25; BSG Urteil vom 18.10.2007 - B 4 RS 17/07 R -
SozR 4-8570 § 1 Nr 14 RdNr 44 mwN).
23 Es fehlen hier bereits Feststellungen des LSG zum Berufsbild des "Diplom-Ingenieurs"
und zur Tätigkeit, die der Kläger am Stichtag konkret ausgeübt hat. Feststellungen zum
Berufsbild und der verrichteten Tätigkeit sind stets auf der Grundlage von Ermittlungen zu
treffen, die die individuelle Situation des jeweiligen Anspruchstellers aufklären. Zur
Feststellung des Berufsbilds des Klägers ist daher insbesondere dessen absolvierte
Ausbildung im Einzelnen zu ermitteln; um das Anforderungsprofil der Tätigkeit
festzustellen, die er am Stichtag ausgeübt hat, sind vor allem der einschlägige
Funktionsplan heranzuziehen, soweit er noch vorhanden ist, und die dort aufgelisteten
Aufgaben zu konkretisieren sowie die Aussagen des Klägers und etwaiger Zeugen
auszuwerten. Die bisherigen Ausführungen des LSG erschöpfen sich darin, "dass der
Kläger während seiner Beschäftigung beim VEB E. nach seinen glaubhaften
Schilderungen im Berufungsverfahren nicht berufsfremd eingesetzt war". Dabei versäumt
es das Berufungsgericht jedoch, das Ergebnis seiner Subsumtion unter den Rechtsbegriff
"berufsfremd" mit konkreten Tatsachenangaben zu untermauern, die es ermöglichen
könnten, den vorangegangenen Subsumtionsschluss (Syllogismus) nachzuvollziehen und
zu überprüfen. Im Ansatz zutreffend weist das LSG darauf hin, dass "nicht die
Funktionsbezeichnung entscheidend ist, sondern der tatsächliche Tätigkeitsinhalt". Es
hätte jedoch - ausgehend von einer detaillierten Stellenbeschreibung - möglichst genau
darstellen müssen, welche (Haupt-)Aufgaben, fachlichen Anforderungen und konkreten
Verrichtungen mit der Tätigkeit des "Fachdirektors Ökonomie" tatsächlich verbunden
waren und im Urteil nachvollziehbar angeben müssen, welche Tatumstände der Kläger im
Berufungsverfahren geschildert hat, warum es ihn für glaubwürdig und seine Aussagen für
glaubhaft hält (zu den Begriffen der Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit vgl BGH Urteil
vom 13.3.1991 - IV ZR 74/90 - NJW 1991, 3284). Im wieder eröffneten Berufungsverfahren
wird das LSG daher im Rahmen der sachlichen Voraussetzung prüfen müssen, ob die am
Stichtag tatsächlich ausgeübte Tätigkeit als "Fachdirektor Ökonomie" mit ihrem
Anforderungsprofil dem Berufsbild des Diplom-Ingenieurs schwerpunktmäßig entsprach.
24 b) Ferner lässt sich aufgrund der bisherigen Feststellungen des LSG nicht beurteilen, ob
der VEB E. ein volkseigener Produktionsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens ist.
Hierunter fallen nur Produktionsdurchführungsbetriebe, denen unmittelbar die industrielle
Massenproduktion von Sachgütern das Gepräge gibt. Der erkennende Senat hält auch
insoweit an der Rechtsprechung des 4. Senats (vgl etwa BSG SozR 3-8570 § 1 Nr 6 S 46 f
sowie SozR 4-8570 § 1 Nr 16 RdNr 21 und 23) fest, was er zuletzt in mehreren am
19.7.2011, 28.9.2011, 9.5.2012 und 9.10.2012 verkündeten Urteilen (ua BSGE 108, 300 =
SozR 4-8570 § 1 Nr 18, RdNr 24; B 5 RS 8/10 R - Juris RdNr 19; B 5 RS 8/11 R - Juris
RdNr 21; B 5 RS 5/12 R - Juris RdNr 23) nochmals betont hat.
25 Für das Vorliegen der betrieblichen Voraussetzung ist unerheblich, ob es am Stichtag
30.6.1990 noch VEB gegeben hat, die organisatorisch dem industriellen
Produktionssektor der DDR-Planwirtschaft zugeordnet waren (dazu und zum Folgenden:
Senatsurteil vom 9.10.2012 - B 5 RS 5/12 R - Juris RdNr 24). Ob die betriebliche
Voraussetzung iS der VO-AVItech iVm der 2. DB erfüllt ist, bestimmt sich nach der
bisherigen oberstgerichtlichen Rechtsprechung allein danach, ob der Kläger am 30.6.1990
- abgesehen von den gleichgestellten Betrieben - in einem volkseigenen
Produktionsbetrieb der Industrie oder des Bauwesens beschäftigt gewesen ist, dh einem
VEB, dem die industrielle Fertigung das Gepräge gegeben hat. Hingegen ist entgegen der
Auffassung des LSG nicht auch konstitutiv auf seine organisatorische Zuordnung
abgestellt worden (so schon Hinweis im Senatsurteil vom 19.7.2011 - B 5 RS 7/10 R -
BSGE 108, 300 = SozR 4-8570 § 1 Nr 18, RdNr 28). Bereits im Urteil vom 9.4.2002 (B 4
RA 41/01 R - SozR 3-8570 § 1 Nr 6 S 47 f) hatte der 4. Senat des BSG eine derartige
Bedeutung allenfalls - ausdrücklich nicht tragend - nur als möglich in Erwägung gezogen.
Schon in der Entscheidung vom 6.5.2004 (B 4 RA 52/03 R - Juris RdNr 29) wurde
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass allein die fehlende Zuordnung zu einem
Industrieministerium nicht genügt, einen Produktionsbetrieb der Industrie oder des
Bauwesens abzulehnen. Dementsprechend zieht auch die spätere Rechtsprechung den
Umstand der organisatorischen Zuordnung durchgehend als weder notwendiges noch
hinreichendes Hilfskriterium allenfalls bestätigend heran (vgl BSG Beschluss vom
13.2.2008 - B 4 RS 133/07 B - Juris RdNr 11). Hat aber die Frage der organisatorischen
Zuordnung keine konstitutive Bedeutung, ist unerheblich, ob es am Stichtag noch einen
industriellen Produktionssektor der DDR-Planwirtschaft gegeben hat. Vielmehr ist allein
die Rechtsform des Betriebs als VEB sowie seine tatsächliche Produktionsweise
entscheidungsrelevant (Senatsurteil vom 9.10.2012 - B 5 RS 5/12 R - Juris RdNr 24).
26 Ob der VEB E. nach diesen Maßgaben sein Gepräge durch die industrielle
Massenproduktion erhalten hat, lässt sich den Feststellungen des LSG nicht entnehmen.
Das LSG bestimmt den Schwerpunkt der betrieblichen Tätigkeit nach der (Kopf-)Zahl der
Mitarbeiter in den Tätigkeitsbereichen "Produktion" und "Elektroinstallation". Damit hat es
einen einheitlichen und grundsätzlich geeigneten Maßstab für die Beurteilung der Frage
gewählt, ob der VEB E. sein Gepräge durch die industrielle Massenproduktion erhalten
hat, wobei allerdings einschränkend zu bemerken ist, dass von der bloßen Kopfzahl der
Beschäftigten nicht stets automatisch auf ein entsprechendes Arbeitsvolumen und einen
entsprechenden Anteil an der Wertschöpfung geschlossen werden darf. Den
Feststellungen des LSG lässt sich jedoch - was gleichzeitig unabdingbar erforderlich ist -
insbesondere nicht entnehmen, womit konkret der Bereich "Elektroinstallation" (250
Mitarbeiter) befasst war, obwohl es unter anderem wegen der Frage, "ob auch die
Installation (wie die Montage) den Produktionsbegriff erfüllen kann", die Revision
zugelassen hat. Es unterlegt dem Begriff der "Elektroinstallation" ohne jeden Fallbezug
bestenfalls aus sich heraus eine Bedeutung, wenn es ausführt: "Bei der Installation
werden keine neuen Produkte seriell hergestellt, sondern es werden - ggf seriell
hergestellte - Sachgüter verarbeitet, in dem zB Leuchten und Kabel angebracht bzw
verlegt werden". Stattdessen hätte das Berufungsgericht konkret ermitteln und feststellen
müssen, welche Aufgaben beim VEB E. im Bereich der "Elektroinstallation" genau
anfielen, welche Komponenten wo (innerhalb des VEB oder außerhalb beim Kunden?)
verarbeitet ("installiert", "angebracht", "verlegt" oder eingebaut) wurden und ob es sich
dabei um eher handwerklich geprägte Individualarbeiten oder industriell geprägte
Serienfertigung (ggf unter entsprechendem Maschineneinsatz) handelte. Soweit im
Rahmen der Elektroinstallation - ggf seriell hergestellte - Komponenten (wie zB Leuchten
und Kabel) angebracht, verlegt oder miteinander verbunden wurden, wird das LSG die
Fertigungsart ermitteln und feststellen müssen, ob diese Aggregate mehr oder weniger
schematisch nach einem im vorhinein festgelegten Plan standardisiert (zB in
Fertigungsstraßen) oder nach bestimmten Kundenwünschen individuell verarbeitet
wurden. Unter diesen Voraussetzungen ist insbesondere auch eine größere
Produktpalette oder eine Vielzahl potenziell zu verbindender Einzelteile kein Hindernis,
solange das Produkt einer vom Hersteller standardmäßig angebotenen Palette entspricht.
Werden dagegen Gebrauchtteile mit verbaut (vgl BSG Urteil vom 24.4.2008 - B 4 RS 31/07
R - Juris RdNr 18) oder treten individuelle Kundenwünsche, wie der zusätzliche Einbau
von besonders gefertigten Teilen oder der Bau eines zwar aus standardisierten
Einzelteilen bestehenden, so aber vom Hersteller nicht vorgesehenen und allein auf
besondere Anforderungen gefertigten Produkts, in den Vordergrund, entfällt der Bezug zur
industriellen Massenproduktion (vgl Senatsurteile vom 19.7.2011 - B 5 RS 7/10 R - BSGE
108, 300 = SozR 4-8570 § 1 Nr 18, RdNr 31 und vom 9.10.2012 - B 5 RS 5/11 R - Juris
RdNr 24).
27 Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.