Urteil des BSG vom 24.04.2014

BSG: verwaltungsakt, rücknahme, gleichbehandlung, bfa, begünstigung, berechtigter, presse, grenzbereich, analogieschluss, nebenpflicht

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 24.4.2014, B 13 R 23/13 R
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom
24. Mai 2013 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
1 Die Beteiligten streiten über einen früheren Beginn der ab Januar 2006 gewährten
Erziehungsrente.
2 Die Ehe der 1956 geborenen Klägerin mit dem Versicherten wurde Ende 2000
geschieden. Aus der Ehe stammt der 1994 geborene Sohn. Die Klägerin hat nicht wieder
geheiratet.
3 Der Versicherte verstarb am 29.6.2001. Auf den Antrag der Klägerin vom Juli 2001
gewährte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) Halbwaisenrente für ihren
Sohn. Ein Hinweis der BfA auf die Möglichkeit des Antrags auf Erziehungsrente nach § 47
SGB VI erfolgte nicht.
4 Auf den erst im Dezember 2010 gestellten Antrag bewilligte die Beklagte der Klägerin
Erziehungsrente (Bescheid vom 20.4.2011) für die Zeit vom 1.1.2006 bis zum 31.7.2012
(dem Monatsende der Vollendung des 18. Lebensjahres des Sohnes). Ab Mai 2011 ergab
sich ein laufender Rentenzahlbetrag iHv 441,14 Euro monatlich und für die Zeit vom
1.1.2006 bis 30.4.2011 eine einmalige Nachzahlung von 29 435 Euro. Die Beklagte ging -
wegen des unterbliebenen Hinweises der BfA auf die Möglichkeit eines Antrags auf
Erziehungsrente im Juli 2001 - von einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch aus und
begrenzte die rückwirkend zu leistende Erziehungsrente auf einen Zeitraum von vier
Jahren.
5 Der Widerspruch, mit dem die Klägerin eine Rentenzahlung bereits ab Juli 2001
beanspruchte, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 17.10.2011), ebenso das
Klage- und Berufungsverfahren (Urteile des SG Gelsenkirchen vom 25.4.2012 und des
LSG vom 24.5.2013). Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen, weil es -
wie schon die Beklagte und das SG - von einer analogen Anwendung des § 44 Abs 4
SGB X im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ausgegangen ist und
sich hierfür auf Rechtsprechung des BSG berufen hat (Hinweis auf BSG 4b/9a. Senat vom
11.4.1985 - 4b/9a RV 5/84 - SozR 1300 § 44 Nr 17; BSG 11a. Senat vom 9.9.1986 - 11a
RA 28/85 - BSGE 60, 245 = SozR 1300 § 44 Nr 24; BSG 1. Senat vom 21.1.1987 - 1 RA
27/86 - SozR 1300 § 44 Nr 25; BSG 14. Senat vom 28.1.1999 - B 14 EG 6/98 B - SozR 3-
1300 § 44 Nr 25; BSG 9. Senat vom 14.2.2001 - B 9 V 9/00 R - BSGE 87, 280 = SozR 3-
1200 § 14 Nr 31; BSG 13. Senat vom 27.3.2007 - B 13 R 58/06 R - BSGE 98, 162 = SozR
4-1300 § 44 Nr 9). Für die Begrenzung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchsdurch
analoge Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X bei Beratungsfehlern in einem
Erstfeststellungsverfahren spreche, dass die Interessenlage mit der bei nachträglicher
Korrektur eines bindenden belastenden Verwaltungsakts (§ 44 SGB X in direkter
Anwendung) vergleichbar sei. Der 9. Senat (aaO) habe zu Recht darauf verwiesen, dass
der Herstellungsanspruch, der die Verletzung einer Nebenpflicht des Leistungsträgers (zB
Beratung) sanktioniere, nicht weiter reichen könne als der Anspruch nach § 44 Abs 1 SGB
X als Rechtsfolge der Verletzung einer Hauptpflicht (Leistungsgewährung durch
rechtmäßigen Verwaltungsakt). Der 13. Senat (aaO) habe diese Argumentation dahin
ergänzt, dass die Vermeidung unterschiedlicher Rechtsfolgen im Grenzbereich beider
Rechtsinstitute für eine Gleichbehandlung beider Fallkonstellationen spreche. Hinzu
komme, dass der Herstellungsanspruch auf gesetzlich zulässige Amtshandlungen
beschränkt sei; bei der nachträglichen Leistungsgewährung seien deshalb auch
gesetzliche Ausschlussfristen zu beachten. Insofern könne, worauf der 1. Senat (aaO)
zutreffend hingewiesen habe, der neben dem Korrekturanspruch aus § 44 SGB X
bestehende Herstellungsanspruch auch nicht über den gesetzlichen Anspruch (aus § 44
SGB X) hinausgehen. Schließlich spreche - so der 11a. Senat (aaO) - für die analoge
Anwendung und damit zeitliche Begrenzung der Rückwirkung des Herstellungsanspruchs
im Rahmen der Erstfeststellung auch die Aktualität der Sozialleistungen, die im
Wesentlichen dem laufenden Unterhalt des Berechtigten dienten sowie das Interesse des
Leistungsträgers an einer Überschaubarkeit seiner Leistungsverpflichtungen.
6 Demgegenüber seien die vom 4. Senat des BSG gegen die analoge Anwendung von § 44
Abs 4 SGB X vorgebrachten Argumente (Verweis auf BSG 4. Senat vom 2.8.2000 - B 4 RA
54/99 R - SozR 3-2600 § 99 Nr 5 und vom 6.3.2003 - B 4 RA 38/02 R - BSGE 91, 1 =
SozR 4-2600 § 115 Nr 1) nicht überzeugend. Soweit der 4. Senat darauf verweise, dass
der Gesetzgeber mit § 99 SGB VI, § 44 Abs 4 SGB X und § 45 SGB I ein in sich stimmiges
und lückenfreies Regelungskonzept für das Rentenversicherungsrecht ausgestaltet habe,
das einer richterrechtlichen Ergänzung oder gar Durchbrechung nicht offenstehe, sei nicht
zu übersehen, dass der Gesetzgeber bisher von einer gesetzlichen Regelung des
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs abgesehen habe. Auch aus dem Gebot, die
sozialen Rechte möglichst weitgehend zu verwirklichen (§ 2 Abs 2 SGB I), könne nicht
abgeleitet werden, auf den Herstellungsanspruch lediglich die Verjährungsregelung des §
45 SGB I, nicht jedoch die Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB X anzuwenden. Bereits die
Begründung des Herstellungsanspruchs durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung
(Schließung einer Lücke im Schadensersatzrecht) sei eine Begünstigung gegenüber der
Gesetzeslage (Hinweis auf Senatsurteil vom 27.3.2007 - B 13 R 58/06 R - BSGE 98, 162 =
SozR 4-1300 § 44 Nr 9). Die von der Klägerin angeführte, dem 4. Senat des BSG folgende
Entscheidung des SG Freiburg (vom 4.11.2009 - S 19 R 4538/08 - Juris) stehe dem nicht
entgegen.
7 Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die entsprechende Anwendung
des § 44 Abs 4 SGB X auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch. Der
Anwendungsbereich der Norm sei auf die Fälle der Korrektur von Verwaltungsakten
beschränkt. Die Vorschrift sei weder Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgedankens, noch
sei eine analoge Anwendung auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch geboten.
Daher sei der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG zu folgen. § 44 Abs 4 SGB X finde
im hier vorliegenden Erstfeststellungsverfahren keine Anwendung.
8 Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 24. Mai 2013 und des
Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 25. April 2012 aufzuheben und die Beklagte unter
Abänderung des Bescheids vom 20. April 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 17. Oktober 2011 zu verurteilen, ihr Erziehungsrente nach den gesetzlichen
Bestimmungen des SGB VI bereits ab dem 1. Juli 2001 zu gewähren.
9 Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
10 Sie verteidigt die Entscheidungen der Vorinstanzen und verweist ergänzend darauf, dass
sich Umfang und Grenzen des auf richterlicher Rechtsfortbildung beruhenden
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs an der Rechtsordnung als Ganzes zu orientieren
hätten. Hierzu gehöre wegen der strukturellen Ähnlichkeit zu § 44 SGB X auch die
Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 SGB X.
Entscheidungsgründe
11 Die Revision hat keinen Erfolg. Sie ist unbegründet.
12 Die Vorinstanzen haben zu Recht die auf einen früheren Rentenbeginn gerichtete
Anfechtungs-und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) abgewiesen. Die Klägerin hat keinen
Anspruch auf Zahlung der Erziehungsrente für die Zeit vor Januar 2006.
13 Auf der Grundlage der bindenden Tatsachenfeststellung des LSG (§ 163 SGG) hat die
Klägerin einenAnspruch auf rückwirkende Leistung der Erziehungsrente wegen eines
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs durch Verletzung von Beratungspflichten im Juli
2001 (§§ 14, 15 SGB I). Die Beklagte hat ihr daher zu Recht auf ihren im Dezember 2010
gestellten Antrag rückwirkend Leistungen ab Januar 2006 gewährt. Der Klägerin steht kein
weitergehender Leistungsanspruch - bereits ab Juli 2001 - zu, als ihn die Beklagte im
angefochtenen Bescheid anerkannt hat.
14 Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsprechung fest: Wenn ein Berechtigter Anspruch
auf rückwirkende Leistungen aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hat,
werden diese längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren rückwirkend erbracht. Die
Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB X ist insoweit entsprechend anzuwenden (1.). Mit dieser
Entscheidung weicht der Senat nicht iS des § 41 Abs 3 SGG von Rechtsprechung anderer
Senate des BSG ab (2.).
15 1. Nach § 44 Abs 4 SGB X werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der
besonderen Teile des SGB längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der
Rücknahme erbracht, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückgenommen worden ist (Satz 1). Dabei wird nach Satz 2 der Zeitpunkt der
Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt
zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt nach Satz 3 bei der
Berechnung des Zeitraums, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der
Rücknahme der Antrag.
16 Zwar kommt § 44 Abs 4 SGB X im vorliegenden Fall nicht unmittelbar zur Anwendung.
Denn ein bindender (§ 77 SGG) rechtswidriger Verwaltungsakt, der in einem
Überprüfungsverfahren nach § 44 Abs 1 S 1 SGB X zurückzunehmen wäre, liegt nicht vor.
Der Senat hat jedoch bereits entschieden, dass in Erstfeststellungsverfahren, in denen -
wie hier - ein Anspruch auf rückwirkende Leistungserbringung aufgrund eines
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erhoben wird, § 44 Abs 4 SGB X entsprechende
Anwendung findet (vgl Senatsurteil vom 27.3.2007 - B 13 R 58/06 R - BSGE 98, 162 =
SozR 4-1300 § 44 Nr 9). Hieran hält der Senat fest.
17 Bereits in seiner Entscheidung vom 27.3.2007 hat der Senat unter Bezugnahme auf die
bisherige Rechtsprechung des BSG (BSG 11a. Senat vom 9.9.1986 - 11a RA 28/85 -
BSGE 60, 245, 246 ff = SozR 1300 § 44 Nr 24 S 62 ff; BSG 11a. Senat vom 9.9.1986 - 11a
RA 10/86 - Juris; BSG 1. Senat vom 21.1.1987 - 1 RA 27/86 - SozR 1300 § 44 Nr 25 S 67
f; BSG 14. Senat vom 28.1.1999 - B 14 EG 6/98 B - SozR 3-1300 § 44 Nr 25 S 60 f; BSG 9.
Senat vom 14.2.2001 - B 9 V 9/00 R - BSGE 87, 280, 288 f = SozR 3-1200 § 14 Nr 31 S
114 f; BSG 9. Senat vom 16.12.2004 - B 9 VJ 2/03 R - Juris RdNr 30) auf die vergleichbare
Interessenlage bei der nachträglichen Korrektur eines bindenden Verwaltungsakts (§ 44
SGB X) und beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch verwiesen. In beiden Fällen
wird vom Leistungsträger das Recht unrichtig angewandt, und in beiden Fällen hat dies
zur Folge, dass der Leistungsberechtigte nicht die ihm zustehende Leistung erlangt. Einen
ins Gewicht fallenden Unterschied hat das BSG in seiner bisherigen Rechtsprechung nicht
darin gesehen, dass der Berechtigte einmal einen ablehnenden Verwaltungsakt erhalten,
ein andermal dagegen schon im Vorfeld von der Anspruchsverfolgung abgesehen hat.
Denn so oder so ist der Leistungsträger gleichermaßen zur Korrektur verpflichtet. Auf ein
Verschulden des Leistungsträgers kommt es hier wie dort nicht an; auch der Umfang
seiner Verpflichtung ist grundsätzlich der gleiche. Aus diesen Gründen kann es für den
zeitlichen Umfang der rückwirkenden Leistung nicht wesentlich sein, ob der
Leistungsträger eine Leistung durch Verwaltungsakt zu Unrecht versagt oder er aus
anderen ihm zuzurechnenden Gründen den Berechtigten nicht in den Leistungsgenuss
kommen lässt; der Berechtigte ist im letzteren Fall keinesfalls schutzwürdiger als im
ersten. Die Rechtsähnlichkeit der Fallgruppen erfordert daher die Gleichbehandlung. Der
Herstellungsanspruch, der die Verletzung einer Nebenpflicht des Leistungsträgers (zB
Beratung) sanktioniert, kann nicht weiter reichen als der Anspruch nach § 44 Abs 1 SGB X
als Rechtsfolge der Verletzung der Hauptpflicht. Für die Gleichbehandlung der Fälle einer
nachträglichen Korrektur eines bindenden Verwaltungsakts (§ 44 SGB X) mit denen des
sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs spricht auch, dass hiermit im Grenzbereich
beider Rechtsinstitute unterschiedliche Rechtsfolgen vermieden werden (so Senatsurteil
vom 27.3.2007, aaO, RdNr 16 bis 19; dem folgend für den Bereich der
Ausgleichsleistungen nach dem Recht der beruflichen Rehabilitierung: BVerwG vom
30.6.2011, BVerwGE 140, 103, 112).
18 Die gegenteilige - einen Analogieschluss ablehnende - Rechtsansicht des 4. Senats des
BSG (vgl die Nachweise im Einzelnen unter 2.) überzeugt hingegen nicht. Zwar wird
argumentiert, dass ein Berechtigter, der einen rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakt
erhalten hat, Anlass zu Überlegungen habe, ob hiergegen Rechtsmittel einzulegen seien,
demgegenüber wisse der aus einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch Berechtigte
typischerweise nichts von seinen Ansprüchen, weil kein Verwaltungsakt ergangen ist.
Diese Argumentation wird jedoch durch die Regelung des § 48 Abs 4 SGB X und deren
Verweisung auf § 44 Abs 4 SGB X entkräftet. Der Senat hat schon darauf hingewiesen,
dass auch hier typischerweise Fallkonstellationen erfasst werden, in denen der Bürger
nicht durch einen rechtswidrigen Verwaltungsakt auf ein (fehlerhaftes)
Verwaltungshandeln aufmerksam gemacht worden ist (vgl Senatsurteil vom 27.3.2007,
aaO, RdNr 25). Demgegenüber tritt in den Hintergrund, dass auch bei Nichtausnutzung
einer nach § 48 Abs 1 SGB X für den Betroffenen günstigeren Änderung dieser zumindest
den ursprünglichen, von der Änderung betroffenen Bescheid in den Händen hat.
19 Nicht überzeugend ist auch das Argument, dem Analogieschluss stehe entgegen, dass
der Normkomplex von § 99 SGB VI, § 44 Abs 4 SGB X und § 45 SGB I ein in sich
stimmiges und lückenfreies Regelungskonzept sei, das keiner richterrechtlichen
Ergänzung oder gar Durchbrechung bedürfe. Dem ist entgegenzuhalten, dass der
Gesetzgeber bisher von einer gesetzlichen Regelung des sozialrechtlichen
Herstellungsanspruchs abgesehen und die Verantwortung zur näheren Ausgestaltung
dieses Rechtsinstituts weiterhin bei der Rechtsprechung belassen hat. Der Senat folgt
ferner nicht der Argumentation, der Rechtsprechung sei verwehrt, den Versicherten eine
vollständige Herstellung des grundrechtlich geschützten Zustands mit allen rechtmäßigen
und faktisch noch möglichen Mitteln zu verweigern, falls der Rentenversicherungsträger
ein derartiges Recht verletzt hat. Denn zwar kann der Herstellungsanspruch auch als
Verwirklichung des Gebots verstanden werden, soziale Rechte möglichst weitgehend zu
verwirklichen (§ 2 Abs 2 SGB I). Hieraus kann jedoch keine - erst recht keine
grundrechtlich bewehrte - Pflicht gefolgert werden, auf den Herstellungsanspruch lediglich
die Verjährungsregelung des § 45 SGB I, nicht jedoch die Ausschlussfrist des § 44 Abs 4
SGB X anzuwenden. Denn die Begründung des Herstellungsanspruchs durch die
sozialgerichtliche Rechtsprechung (Schließung einer Lücke im Schadensersatzrecht) stellt
bereits eine Begünstigung gegenüber der Gesetzeslage dar und hieran ändert auch die
Begrenzung seiner Rückwirkung in entsprechender Anwendung des § 44 SGB X nichts
(so Senatsurteil vom 27.3.2007, aaO, RdNr 25, 27, 30).
20 Diese Überlegungen hält der erkennende Senat nach wie vor für ausschlaggebend. Sie
stehen insbesondere nicht im Widerspruch zu den Senatsurteilen vom 8.12.2005 (BSGE
95, 300 = SozR 4-2200 § 1290 Nr 1) und 22.10.1996 (BSGE 79, 177, 180 = SozR 3-1200
§ 45 Nr 6), in denen der Senat die Herleitung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes aus §
44 Abs 4 SGB X dahingehend, dass die rückwirkende Erbringung von Sozialleistungen
durchweg auf vier Jahre begrenzt ist (so BSG 11a. Senat vom 9.9.1986 - 11a RA 28/85 -
BSGE 60, 245, 247 = SozR 1300 § 44 Nr 24 S 63; BSG 1. Senat vom 21.1.1987 - 1 RA
27/86 - SozR 1300 § 44 Nr 25 S 66 f; BSG 14. Senat vom 28.1.1999 - B 14 EG 6/98 B -
SozR 3-1300 § 44 Nr 25 S 60 f), abgelehnt hat. Denn den dortigen Fällen lag kein
sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zugrunde. Streitgegenständlich waren vielmehr
Ansprüche auf Altersruhegeld, die nach dem bis zum 1.1.1992 geltenden Recht
antragsunabhängig entstanden waren, so dass es einer Antragsfiktion über den
sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht bedurfte, und sich somit allein die Frage
nach der Verjährung der Ansprüche (§ 45 SGB I) stellte. Die analoge Anwendung des § 44
Abs 4 SGB X im vorliegenden Fall rechtfertigt sich demgegenüber gerade durch die
besondere Nähe der Erstfeststellung mit Hilfe des sozialrechtlichen
Herstellungsanspruchs zu den Fällen des § 44 Abs 1 SGB X. So wäre es mit dem
Gedanken der Einheit der Rechtsordnung schwer zu vereinbaren, wenn der
Leistungsberechtigte in Fällen, in denen der Leistungsträger die Folgen einer
rechtswidrigen Leistungsversagung kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung (§ 44 SGB
X) beseitigen muss, Leistungseinschränkungen für die Vergangenheit hinnehmen muss,
hingegen in Fällen, in denen zum Ausgleich vorenthaltener Leistungen aufgrund der
Verletzung bloßer (sanktionsloser) Nebenpflichten kraft Richterrechts eine dem
geschriebenen Recht vergleichbare "Folgenbeseitigung" angestrebt wird, der Berechtigte
weiter zurückreichende Leistungen als im erstgenannten Fall in Anspruch nehmen könnte.
Deshalb darf der neben dem Korrekturanspruch aus § 44 SGB X bestehende
Herstellungsanspruch nicht über den gesetzlichen Anspruch hinausgehen. Nur dies wird
schließlich dem Umstand gerecht, dass sich in zahlreichen Fallgestaltungen die
Anwendungsbereiche des § 44 SGB X und des Herstellungsanspruchs so nahe kommen
bzw überschneiden, dass eine unterschiedliche Rückwirkung je nach schließlich
einschlägiger Rechtsgrundlage nicht nachvollziehbar wäre: Den im Senatsurteil vom
27.3.2007 (aaO, RdNr 19) genannten Beispielsfällen kann noch die Fallkonstellation
hinzugefügt werden, dass vorgetragen wird, der Träger habe dem Beschwerdeadressaten
Informationen vorenthalten, die ihn zur rechtzeitigen Anfechtung veranlasst hätten (hierzu
Hessisches LSG vom 23.8.2013 - L 5 R 359/12 - Juris).
21 Diesem Ergebnis stehen auch keine verfassungsrechtlichen Gründe entgegen. Wie der
Senat bereits entschieden hat (Senatsurteil vom 7.2.2012 - B 13 R 40/11 R - BSGE 110,
97 = SozR 4-5075 § 3 Nr 2, RdNr 27), ist der Gesetzgeber bei der Regelung der
Rechtsbeständigkeit unanfechtbarer Verwaltungsakte zwischen dem Prinzip der
Rechtssicherheit und dem Grundsatz der (materiellen) Gerechtigkeit über das
verfassungsrechtlich Gebotene mit der seit 1.1.1981 in Kraft getretenen Regelung von § 44
Abs 1 SGB X bereits hinausgegangen. Zudem ist die Regelung des § 44 Abs 4 SGB X
eine den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrende und damit zulässige Bestimmung
des Inhalts und der Schranken des Eigentums iS des Art 14 Abs 1 S 2 GG (so schon BSG
vom 23.7.1986 - 1 RA 31/85 - BSGE 60, 158, 161 ff = SozR 1300 § 44 Nr 23 S 54). Im Fall
der analogen Anwendung der Ausschlussfrist des § 44 Abs 4 SGB X beim richterrechtlich
entwickelten sozialrechtlichen Herstellungsanspruch kann daher kein weitergehender
Grundrechtsschutz bestehen.
22 2. Der Senat weicht mit dieser Entscheidung nicht iS des § 41 Abs 2 SGG von der
Rechtsprechung des 4. Senats des BSG (Urteile vom 2.8.2000 - B 4 RA 54/99 R - SozR 3-
2600 § 99 Nr 5, vom 6.3.2003 - B 4 RA 38/02 R - BSGE 91, 1 = SozR 4-2600 § 115 Nr 1
und vom 26.6.2007 - B 4 R 19/07 R - SozR 4-1300 § 44 Nr 12) ab, in denen der 4. Senat
die entsprechende Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X im Rahmen von
Erstfeststellungsverfahren, denen ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zugrunde
liegt, ablehnt.
23 Eine Vorlage wegen abweichender Rechtsprechung an den Großen Senat des BSG (§ 41
Abs 2 SGG) kommt bereits deshalb nicht in Betracht, weil es sich bei den Ausführungen
des 4. Senats in den vorbezeichneten Entscheidungen jeweils um nicht tragende
Erwägungen handelt. Voraussetzung für eine Divergenzvorlage ist aber, dass die
aufgeworfene Rechtsfrage sowohl für die neue als auch die frühere Entscheidung
entscheidungserheblich ist. Die Beantwortung der Rechtsfrage muss die Entscheidung
derart tragen, dass sie ein unabdingbares Glied in der Gedankenkette des erkennenden
Senats ist (BSG vom 18.11.1980 - GS 3/79 - BSGE 51, 23, 25 = SozR 1500 § 42 Nr
7 S 11). Hieran fehlt es vorliegend.
24 In dem vom 4. Senat am 2.8.2000 entschiedenen Fall war - wovon dieser Senat bei seiner
Entscheidung selbst ausging (BSG 4. Senat, aaO, S 30) - der sozialrechtliche
Herstellungsanspruch bereits tatbestandlich nicht anwendbar (so Senatsurteil vom
27.3.2007, aaO, RdNr 35). Im Urteil des 4. Senats vom 6.3.2003 (BSG 4. Senat, aaO)
waren die Ausführungen zur Anwendbarkeit des § 44 Abs 4 SGB X auf den
Herstellungsanspruch ebenfalls nicht tragend. Denn sie erfolgten lediglich im Rahmen der
Hinweise an das LSG, wie ggf zu entscheiden sein werde, wenn bestimmte weitere
Feststellungen getroffen würden (s Senatsurteil vom 27.3.2007, aaO, RdNr 36 bis 37).
Dem vom 4. Senat am 26.6.2007 entschiedenen Fall lag schließlich kein
Erstfeststellungsverfahren, sondern ein Überprüfungsverfahren zugrunde, so dass § 44
Abs 4 SGB X unmittelbar anzuwenden war (BSG 4. Senat, aaO, RdNr 51 f). Auch hier
erfolgten die Ausführungen zur analogen Anwendbarkeit des § 44 Abs 4 SGB X im
Rahmen eines Obiter Dictum und gehörten somit nicht zu den tragenden Erwägungen.
25 Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.