Urteil des BSG vom 23.07.2014

BSG: Sozialgerichtliches Verfahren, Klage gegen eine Entscheidung der Schiedsstelle nach § 80 SGB 12, statthafte Klageart, Bestimmung des Datums des Inkrafttretens der Vergütungsvereinbarung

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 23.7.2014, B 8 SO 2/13 R
Sozialgerichtliches Verfahren - Klage gegen eine Entscheidung der Schiedsstelle nach § 80
SGB 12 - statthafte Klageart - Bestimmung des Datums des Inkrafttretens der
Vergütungsvereinbarung - Gestaltungsspielraum - Gebot des effektiven Rechtsschutzes
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 3. Mai
2012 insgesamt und der Schiedsspruch der Schiedsstelle Bayern - Sozialhilfe - bei der
Regierung von Niederbayern insoweit aufgehoben, als ein Inkrafttreten für die Zeit vor dem 1.
August 2009 abgelehnt worden ist.
Die Klägerin trägt 1/11 der Gerichtskosten des erstinstanzlichen Verfahrens; ansonsten sind
keine Gerichtskosten zu zahlen. Von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin des
erstinstanzlichen Verfahrens trägt der Beklagte 10/11, von den außergerichtlichen Kosten des
Beklagten des erstinstanzlichen Verfahrens trägt die Klägerin 1/11. Für das Revisionsverfahren
trägt der Beklagte die außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Im Übrigen tragen die Beteiligten
ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 250 000 Euro festgesetzt.
Tatbestand
1 Im Streit ist (noch) der Zeitpunkt des Inkrafttretens des Schiedsspruchs der Schiedsstelle
Bayern - Sozialhilfe - bei der Regierung von Niederbayern (Schiedsstelle) vom 1.12.2009.
2 Die Klägerin betreibt drei Werkstätten für behinderte Menschen im Zuständigkeitsbereich
des Beklagten. Im Juli 2007 nahmen die Beteiligten Verhandlungen über den Abschluss
neuer Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen auf. Mit Wirkung vom 1.1.2009 einigten
sie sich bei bestehender Prüfungsvereinbarung auf neue Leistungsvereinbarungen für jede
der Werkstätten; der Abschluss von Vergütungsvereinbarungen scheiterte. Daraufhin riefen
sie die Schiedsstelle an (Eingang des Antrags der Klägerin bei der Schiedsstelle am
30.7.2009, des Beklagten am 24.8.2009) und beantragten die Festsetzung der jeweils als
angemessen erachteten Vergütungen, die Klägerin mit Wirkung ab 1.2.2009, der Beklagte
mit Wirkung ab 1.8.2009. Die Schiedsstelle setzte (unter Ablehnung der Anträge im
Übrigen) für die Zeit vom 1.8.2009 bis 31.1.2010 die Vergütungen fest (Beschluss vom
1.12.2009). Zur Begründung ihrer Entscheidung führte sie ua aus, die Vergütung sei nach
Maßgabe des § 77 Abs 2 Satz 2 und 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB
XII) nicht vor dem Tag des Antragseingangs bei der Schiedsstelle festzusetzen, auch wenn
die Festsetzung bereits ab 1.2.2009 Sinn und Zweck der §§ 75 ff SGB XII entsprechen
würde und eine solche Festsetzung ggf sinnvoll sei.
3 Nachdem dagegen die Klägerin und zunächst auch der Beklagte Klage erhoben hatten, die
Klägerin mit dem Ziel der Festsetzung einer höheren Vergütung bereits ab 1.2.2009, der
Beklagte gerichtet auf die Festsetzung einer geringeren Vergütung ab 1.8.2009, hat der
Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Bayerischen Landessozialgericht
(LSG) seine Klage insgesamt sowie die Klägerin ihre für die Zeit ab 1.8.2009
zurückgenommen und nur noch beantragt, den Schiedsspruch insoweit aufzuheben, als die
Vergütung nicht bereits ab dem 1.2.2009 festgesetzt worden sei. Das LSG hat die Klage
abgewiesen (Urteil vom 3.5.2012). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt,
§ 77 Abs 2 Satz 3 SGB XII bestimme, dass ein Schiedsspruch nicht für eine Zeit vor dem
Tag des Antragseingangs bei der Schiedsstelle in Kraft treten könne. Deshalb sei der von
der Schiedsstelle festgesetzte Zeitpunkt nicht zu beanstanden.
4 Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Revision und macht eine Verletzung des § 77
Abs 2 SGB XII geltend. Weder Wortlaut, noch Systematik noch Sinn und Zweck der
Vorschrift stünden einem früheren Inkrafttreten des Schiedsspruchs entgegen.
5 Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG insgesamt und den Schiedsspruch der Schiedsstelle Bayern -
Sozialhilfe - bei der Regierung von Niederbayern vom 1.12.2009 insoweit aufzuheben, als
ein Inkrafttreten für die Zeit vor dem 1.8.2009 abgelehnt worden ist.
6 Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
7 Er hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
8 Die Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ).
Der Schiedsspruch ist rechtswidrig und verletzt sie in ihren Rechten; denn die
Schiedsstelle hat den ihr obliegenden Gestaltungsspielraum verkannt. Sie ist zu Unrecht
davon ausgegangen, den Schiedsspruch nicht vor dem 1.8.2009 in Kraft setzen zu
können.
9 Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Schiedsspruch vom 1.12.2009. Nachdem der
Beklagte seine Klage in vollem Umfang und die Klägerin ihre teilweise - bezogen auf die
Höhe der Vergütung für die Zeit vom 1.2.2009 bis 31.1.2010 - zurückgenommen hat, ist die
gerichtliche Überprüfung beschränkt auf die Entscheidung der Schiedsstelle über den
Zeitpunkt des Inkrafttretens ihres Schiedsspruchs. Die Beteiligten waren insoweit befugt
über den Gegenstand des Verfahrens zu verfügen. Denn allein sie bestimmen durch ihre
Anträge den Gegenstand des Schiedsstellenverfahrens wie auch die Reichweite der
Schiedsstellenentscheidung (vgl § 77 Abs 1 Satz 3 SGB XII: "Gegenstände, über die keine
Einigung erzielt werden konnte"). Der Schiedsstelle als hoheitlichem Vertragshilfeorgan
stehen nach der Konzeption der §§ 77, 80 SGB XII keine eigenen, sondern lediglich von
den Vertragsparteien abgeleitete Rechte zu (BVerwGE 116, 78, 85 f; Neumann in
Hauck/Noftz, SGB XII, K § 77 RdNr 26, Stand März 2012; Münder in Lehr- und
Praxiskommentar SGB XII, 9. Aufl 2012, § 77 SGB XII RdNr 17; Flint in
Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl 2014, § 80 SGB XII RdNr 29; Jaritz/Eicher in juris
PraxisKommentar SGB XII, 2. Aufl 2014, § 77 SGB XII RdNr 83). Mit der
Schiedsstelle wollte der Gesetzgeber nämlich lediglich eine Einrichtung schaffen, die im
Fall des Scheiterns der autonomen Vertragsverhandlungen der Beteiligten zwischen den
Interessen vermittelt (BSGE 87, 199 ff = SozR 3-3300 § 85 Nr 1 S 3 f zur Schiedsstelle
nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung - ), was
sich ua an der paritätischen Zusammensetzung, dem bei der Entscheidungsfindung
maßgeblichen Mehrheitsprinzip sowie der fachlichen Weisungsfreiheit der Schiedsstelle
zeigt (§ 80 Abs 2 und 3 SGB XII).
10 Diese Funktion der Schiedsstelle als bloßem Vertragshelfer bedingt zwangsläufig die
Verfügungsbefugnis der Beteiligten über den Streitgegenstand des gerichtlichen
Verfahrens, dh auch insoweit sind grundsätzlich deren Anträge bzw das dahinter stehende
Begehren maßgeblich. Entscheidungsgegenstand kann damit allein oder zusammen mit
der Festsetzung der Vergütung auch der Zeitpunkt des Inkrafttretens des Schiedsspruchs
sein. Die ansonsten für die Frage der Abtrennbarkeit von Streitgegenständen
maßgeblichen Kriterien (vgl nur BSG SozR 4-3500 § 87 Nr 1 RdNr 13 f) sind im
gerichtlichen Schiedsstellenverfahren unmaßgeblich. Ob und in welchem Umfang das
Gericht im Rahmen des von den Beteiligten vorgegebenen Streitgegenstands ggf
Inzidentprüfungen vornehmen muss bzw darf, die für die Beurteilung der eigentlich zur
Entscheidung gestellten Frage unabdingbar, von den Beteiligten aber nicht ausdrücklich
zum Gegenstand des Schiedsverfahrens gemacht worden sind (vgl dazu nur Jaritz/Eicher
in jurisPK SGB XII, 2. Aufl 2014, § 77 SGB XII RdNr 68) bedarf keiner Entscheidung, weil
sich solche Vorfragen inhaltlicher Art hier nicht stellen.
11 Gegen die Festsetzung der Schiedsstelle wendet sich die Klägerin zulässigerweise mit
der Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG); der Durchführung eines Vorverfahrens
bedurfte es nicht (§ 77 Abs 1 Satz 6 SGB XII, § 78 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGG). Beim
Beschluss der Schiedsstelle vom 1.12.2009 handelt es sich wegen seiner Funktion als
Interessenausgleich um einen vertragsgestaltenden Verwaltungsakt, den die
Schiedsstelle als Behörde iS des § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch -
Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) erlassen hat (zu § 93b
Bundessozialhilfegesetz bereits BVerwGE 108, 47, 49, und BVerwGE 116, 78,
81; zum Schiedsspruch nach § 85 Abs 5 SGB XI: BSGE 87, 199, 201 ff = SozR 3-3300 §
85 Nr 1 S 3 f, BSGE 105, 126 ff = SozR 4-3300 § 89 Nr 2 RdNr 20 und 41, sowie BSG
SozR 4-3300 § 89 Nr 1 RdNr 11). An dieser rechtlichen Qualifizierung des
Schiedsspruchs als Verwaltungsakt hat sich mit der Einfügung des Sozialhilferechts in das
SGB zum 1.1.2005 nichts geändert; der Gesetzgeber wollte die Regelung des § 93b
BSHG insoweit ohne Änderung in das SGB XII übernehmen (vgl: BT-Drucks 15/1514, S
64 zu § 72; Flint in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl 2014, § 80 SGB XII RdNr 10 und
23; Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl 2010, § 80 SGB XII RdNr
7; Neumann in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 77 RdNr 17, Stand März 2012; Jaritz/Eicher in
jurisPK SGB XII, 2. Aufl 2014, § 77 SGB XII RdNr 71).
12 Eine Verpflichtungsbescheidungs- oder Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 3. Alt, Abs 4, §
131 Abs 3 SGG) ginge "ins Leere" und wäre deshalb unzulässig. Beide Klagen würden
auf eine Verurteilung des Beklagten zum Erlass eines Schiedsspruchs zielen; Beklagter
ist nach § 77 Abs 1 Satz 5 SGB XII aber nicht die Schiedsstelle, sondern, anders als im
SGB XI (s dazu: BSGE 112, 1 ff RdNr 14 = SozR 4-3300 § 115 Nr 1; BSGE 105, 126 ff
RdNr 41 = SozR 4-3300 § 89 Nr 2; BSGE 87, 199, 200 = SozR 3-3300 § 85 Nr 1 S 3; BSG
SozR 4-3300 § 89 Nr 1 RdNr 13), die andere Vertragspartei - eine prozessual
ungewöhnliche sozialhilferechtliche Konstellation "sui generis" (Jaritz/Eicher in jurisPK
SGB XII, 2. Aufl 2014, § 77 SGB XII RdNr 82). Diese wiederum kann nicht durch das
Gericht zum Erlass eines anderen Schiedsspruchs verpflichtet werden. Hat die
Anfechtungsklage - wie hier - Erfolg, ist zudem nach Aufhebung des Schiedsspruchs das
Schiedsverfahren wiedereröffnet, sodass es einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an
die Schiedsstelle im Rahmen einer Verpflichtungsbescheidungsklage auch in der Sache
gar nicht bedarf (BVerwGE 116, 78 ff). Eine Bindung der Schiedsstelle an die Begründung
des Anfechtungsausspruchs des Gerichts wird mittelbar dadurch bewirkt, dass die
Schiedsstelle ihre Rechte, wie ausgeführt, nur von den Beteiligten des gerichtlichen
Verfahrens ableitet, die wiederum an den Urteilsausspruch gebunden sind. Daneben
bedarf es jedenfalls keiner gesonderten Feststellung; ob eine darauf gerichtete
Feststellungsklage gleichwohl zulässig wäre, bedarf mangels entsprechenden Antrags
keiner Entscheidung.
13 Prozessuale Verfahrensfehler stehen einer Sachentscheidung nicht entgegen. Einer
(notwendigen) Beiladung (§ 75 Abs 2 SGG) der Schiedsstelle bedurfte es nicht, weil ihr
keine eigenen Rechte zustehen (BVerwGE 116, 78, 85; Neumann in Hauck/Noftz, SGB
XII, K § 77 RdNr 26, Stand März 2012; Flint in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl 2014, §
80 SGB XII RdNr 29; Münder in LPK-SGB XII, 9. Aufl 2012, § 77 SGB XII RdNr 17;
Jaritz/Eicher in jurisPK SGB XII, 2. Aufl 2014, § 77 SGB XII RdNr 83). Zutreffend richtet
sich die Klage gegen den am Schiedsverfahren beteiligten Bezirk Mittelfranken, der nach
§ 77 Abs 1 Satz 2 SGB XII, der für das Schiedsverfahren maßgeblichen Regelung für die
Bestimmung der Zuständigkeit (vgl Schellhorn in Schellhorn/ Schellhorn/Hohm, SGB XII,
18. Aufl 2010, § 77 RdNr 7; Jaritz/Eicher in jurisPK SGB XII, 2. Aufl 2014, § 77 SGB XII
RdNr 33), für den Sitz der Klägerin (N.) örtlich und als überörtlicher Träger der Sozialhilfe
für den Abschluss von Vereinbarungen nach den §§ 75 ff SGB XII auch sachlich zuständig
ist (§ 97 Abs 1 Satz 1 SGB XII iVm Art 87 Abs 1 und Art 82 Abs 1 Satz 1 Nr 2 Bayerisches
Gesetz zur Ausführung der Sozialgesetze vom 8.12.2006 - Gesetz- und Verordnungsblatt
942). Das Schiedsverfahren selbst leidet mithin auch nicht an einem entsprechenden
Verfahrensmangel.
14 Der Schiedsspruch ist aus anderen Gründen rechtswidrig und deshalb aufzuheben; der
Zeitpunkt des Inkrafttretens des Schiedsspruchs darf allerdings nicht durch das Gericht
festgesetzt werden; dem trägt auch der Antrag der Klägerin Rechnung. Da auch der
Zeitpunkt des Inkrafttretens des Schiedsspruchs der Vertragsautonomie der Beteiligten
unterliegt (§ 77 Abs 2 Satz 1 SGB XII), kann sich nämlich die Überprüfung durch das
Gericht nur darauf richten, ob der Sachverhalt ermittelt ist, die verfahrensrechtlichen
Regelungen eingehalten sind und die Schiedsstelle ihren Gestaltungsspielraum nicht
verkannt hat (vgl: BVerwGE 108, 47 ff; BSGE 112, 156 ff RdNr 27 mwN = SozR 4-2500 §
114 Nr 1; BSGE 87, 199, 207 = SozR 3-3300 § 85 Nr 1 S 10; so auch Jaritz/Eicher in
jurisPK SGB XII, 2. Aufl 2014, § 77 SGB XII RdNr 119 f); der Zeitpunkt des Inkrafttretens
darf deshalb in der Regel nicht durch das Gericht selbst festgesetzt werden. Die
Schiedsstelle hat den ihr obliegenden Gestaltungsspielraum verkannt. Sie hat sich zu
Unrecht rechtlich daran gehindert gesehen, den Schiedsspruch schon vor dem 1.8.2009 in
Kraft zu setzen.
15 Vereinbarungen und Schiedsstellenentscheidungen treten nach § 77 Abs 2 Satz 1 SGB
XII zu dem darin bestimmten Zeitpunkt in Kraft. Wird ein Zeitpunkt nicht bestimmt, werden
Vereinbarungen mit dem Tag ihres Abschlusses, Festsetzungen der Schiedsstelle mit
dem Tag wirksam, an dem der Antrag bei der Schiedsstelle eingegangen ist (Satz 2). Ein
jeweils vor diesen Zeitpunkt zurückwirkendes Vereinbaren oder Festsetzen von
Vergütungen ist nicht zulässig (Satz 3).
16 § 77 Abs 2 Satz 3 SGB XII steht - insoweit entgegen der Ansicht der Schiedsstelle und des
LSG - einem Inkrafttreten des Schiedsspruchs für eine Zeit vor dem 1.8.2009 nicht
entgegen - abgesehen davon, dass der (erste) Antrag bereits am 30.7.2009 bei der
Schiedsstelle eingegangen ist. Mit der (sprachlich wenig geglückten) Regelung soll (nur)
verhindert werden, dass - wie vor Einführung entsprechender Regelungen in § 93b BSHG
- Vergütungen nachträglich nach den bereits entstandenen Kosten abgerechnet werden,
also ein Gewinn- oder Verlustausgleich ohne Rücksicht auf die im Leistungszeitpunkt
gültigen Vereinbarungen durchgeführt werden kann (vgl BT-Drucks 12/5510, S 10 zu Nr
4); die Regelung konkretisiert damit lediglich die Vorschrift des § 77 Abs 1 Satz 1 2.
Halbsatz SGB XII, wonach nachträgliche Ausgleiche, dh Ausgleiche für Zeiträume vor
dem eigentlichen Verhandlungszeitraum, unzulässig sind. Die Regelung enthält also kein
gesetzliches Verbot des rückwirkenden Inkraftsetzens, sondern verbietet bei
systematischer und an der Verfassung orientierter Auslegung nur - nachgehende -
Vereinbarungen, die das Ziel haben, für einen bestimmten Zeitraum vereinbarte oder
festgesetzte Vergütungen auch auf einen davor liegenden Zeitraum zu erstrecken. Der
Grundsatz der Prospektivität der Verhandlungen, den § 77 Abs 1 Satz 1 SGB XII zum
Ausdruck bringt, und ein rückwirkendes Inkraftsetzen von Vereinbarungen widersprechen
sich insoweit nicht. Denn die Gefahr eines nachträglichen Ausgleichs von Leistung und
Gegenleistung besteht nicht nur dann nicht, wenn die Beteiligten prospektiv, dh für einen
zukünftigen Zeitraum, verhandeln und die Verhandlungen selbst entsprechend
abschließen, sondern auch, wenn sie, wie hier, prospektiv verhandeln und unter
Beachtung der Prospektivität eine Leistungsvereinbarung abschließen und die
Vergütungsvereinbarung nicht vor einem Zeitpunkt in Kraft gesetzt werden soll, für den
eine neue Leistungsvereinbarung vereinbart worden ist.
17 Ein Verbot rückwirkenden Inkrafttretens enthält auch nicht § 77 Abs 2 Satz 1 SGB XII.
Vielmehr geht die Norm gerade von dem Grundsatz aus, dass die Beteiligten bzw die
Schiedsstelle über den Zeitpunkt des - auch rückwirkenden - Inkrafttretens der
Vereinbarungen bei prospektivem Verhandeln frei entscheiden können. Dies muss in
gleicher Weise die Befugnisse der Schiedsstelle bestimmen; dadurch wird das
Vereinbarungssystem gerade nicht verlassen, sondern nur dahin modifiziert, dass an die
Stelle der zu vereinbarenden die von der Schiedsstelle festgesetzte Vergütung tritt (vgl
BVerwGE 126, 295 ff RdNr 13 zu § 93 Abs 2 und 3 BSHG).
18 § 77 Abs 2 Satz 2 SGB XII hingegen findet nur Anwendung, wenn sich weder die
Beteiligten auf einen Zeitpunkt für das Inkrafttreten geeinigt haben noch - im Fall fehlender
Einigung - die Schiedsstelle einen Zeitpunkt für das Inkrafttreten festgesetzt hat (so auch:
Flint in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl 2014, § 77 SGB XII RdNr 13; Jaritz/Eicher in
jurisPK SGB XII, 2. Aufl 2014, § 77 SGB XII RdNr 112), zB weil die Beteiligten durch ihre
Anträge den Zeitpunkt des Inkrafttretens nicht zum Gegenstand des Schiedsverfahrens
gemacht haben. Nur für diesen Fall sieht § 77 Abs 2 Satz 2 SGB XII gesetzlich als
Wirksamkeitszeitpunkt entweder den Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarung oder
den des Eingangs des Antrags bei der Schiedsstelle vor. Mit § 77 Abs 2 Satz 2 SGB XII
soll also lediglich sichergestellt werden, dass die Laufzeit der Vereinbarungen auch ohne
ausdrückliche Bestimmung feststeht und gewährleistet ist. § 77 Abs 2 Satz 3 SGB XII kann
daran logisch nicht anknüpfen und schränkt deshalb die Vertragsautonomie der
Beteiligten bzw Gestaltungsfreiheit der Schiedsstelle nach Satz 1 insoweit während der
laufenden Verhandlungen bzw des Schiedsstellenverfahrens nicht ein.
19 Dem kann schließlich nicht entgegengehalten werden, dass die Beteiligten ohnedies
bereits sechs Wochen nach Aufforderung zu Verhandlungen die Schiedsstelle anrufen
könnten (§ 77 Abs 1 Satz 3 SGB XII), also eines besonderen "Schutzes" durch die
Möglichkeit der rückwirkenden Inkraftsetzung gar nicht bedürften. Teilt man die
Auffassung, dass nur Vergütungs-, nicht aber Leistungsvereinbarungen
schiedsstellenfähig seien (BVerwGE 126, 295 ff; Münder in LPK-SGB XII, 9. Aufl 2012, §
77 SGB XII RdNr 5; Flint in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl 2014, § 77 SGB XII RdNr
10; Schellhorn in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl 2010, § 77 SGB XII RdNr
4; Neumann in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 77 RdNr 8 und 11, Stand März 2012; aA
Jaritz/Eicher in jurisPK SGB XII, 2. Aufl 2014, § 77 SGB XII RdNr 37 ff) würde dies - wenig
realitätsnah - unterstellen, dass im Regelfall binnen sechs Wochen nach Aufnahme der
Verhandlungen eine Leistungs-, Prüfungs- und Vergütungsvereinbarung abgeschlossen
ist - will man nicht der Schiedsstelle die Kompetenz zuweisen, die Leistungsmerkmale als
Vorfrage der Vergütungsregelung zu bewerten und damit den Gegenstand des
Schiedsverfahrens mittelbar zumindest auf die Leistungsvereinbarung ausweiten und auf
das Bestehen einer Prüfungsvereinbarung ggf verzichten. Ein "Zwang" zur - vorzeitigen -
Anrufung der Schiedsstelle unterläge jedoch unter dem Gesichtspunkt effektiven
Rechtsschutzes verfassungsrechtlichen Bedenken, weil die Beteiligten in ein
Schiedsstellenverfahren gezwungen würden, selbst wenn die Chance einer Einigung
noch besteht, nur um sich so die Möglichkeit zu erhalten, zumindest eine
Vergütungsvereinbarung mit Wirkung ab Antragstellung zu erwirken.
20 Bestätigt wird das gewonnene Ergebnis mit Blick auf die Entstehungsgeschichte des §
93b Abs 2 Satz 3 BSHG, der Vorgängervorschrift des § 77 Abs 2 Satz 3 SGB XII. Der
Gesetzgeber wollte durch das zum 1.1.1994 durch das Zweite Gesetz zur Umsetzung des
Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms eingefügte Gebot prospektiven
Verhandelns einen nachträglichen Ausgleich von Unter- und Überdeckung ausschließen;
vermeiden wollte er zugleich, dass eine Einrichtung gezwungen werden kann, die von ihr
erwarteten Leistungen unterhalb ihrer Gestehungskosten anzubieten und zu erbringen
(BT-Drucks 12/5510, S 10 zu Nr 4). Diese Situation kann aber eintreten, wenn der
Schiedsstelle versagt wäre, die Vergütungsvereinbarung zeitgleich mit der - hier bereits
vor Anrufung der Schiedsstelle abgeschlossenen - Leistungsvereinbarung in Kraft zu
setzen.
21 Die Kostenfestsetzung beruht auf § 197a SGG iVm § 155 Abs 1 und 2
Verwaltungsgerichtsordnung. Wegen der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung war
zwischen den für die jeweilige Instanz angefallenen Kosten zu differenzieren und zu
berücksichtigen, dass der Beklagte nach § 64 Abs 3 Satz 2 SGB X keine Gerichtskosten
zu tragen hat. Die Streitwertfestsetzung für das Revisionsverfahren beruht auf §§ 40, 47
Abs 1, § 52 Abs 1 Gerichtskostengesetz; von einer Streitwertfestsetzung für das Verfahren
vor dem LSG sieht der Senat ab (vgl BSGE 97, 153, 157 = SozR 4-1500 § 183 Nr 4).