Urteil des BSG vom 03.04.2014

BSG: Rückforderung überzahlter Geldleistungen nach dem Tod des Rentenberechtigten, Erben des Verfügenden

BUNDESSOZIALGERICHT Urteil vom 3.4.2014, B 5 R 25/13 R
Rückforderung überzahlter Geldleistungen nach dem Tod des Rentenberechtigten - Erben des
Verfügenden
Tenor
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Der Streitwert für den Rechtsstreit wird auf 155 871,65 Euro festgesetzt.
Tatbestand
1 Die Beklagte begehrt von der Klägerin die Erstattung von Rentenüberzahlungen in Höhe
von 155 871,65 Euro.
2 Die 1920 geborene M. C. (nachfolgend: Rentenberechtigte) bezog nach ihrem
verstorbenen Ehemann H. C. eine Witwenrente und eine eigene Altersrente. Die Renten
wurden durch den Postrentendienst auf das Konto der Rentenberechtigten bei der Stadt-
und Kreissparkasse L. bis zum Monat Mai 2007 gezahlt, obwohl die Rentenberechtigte
bereits am 29.10.1991 verstorben war. Hiervon erlangte die Beklagte durch einen
Postrücklauf am 12.3.2007 und eine Mitteilung der Stadt L. vom 7.5.2007 Kenntnis.
Daraufhin verfügte sie die endgültige Zahlungseinstellung und machte mit Schreiben vom
26.6.2007 und 17.7.2007 gegenüber der Stadt- und Kreissparkasse L. für die Zeit vom
1.11.1991 bis 31.3.2007 Erstattungsansprüche in Höhe von 107 917,56 Euro für die
überzahlte Hinterbliebenenrente sowie in Höhe von 114 077,81 Euro für die überzahlte
Altersrente geltend. Die Stadt- und Kreissparkasse L. teilte mit Schreiben vom 16.7.2007
mit, den noch auf dem Konto vorhandenen Saldo in Höhe von 65 640,52 Euro
zurückzuzahlen und erklärte im Übrigen, dass der Stiefsohn der Rentenberechtigten R. C.,
der Ehemann der Klägerin, über das Konto der Rentenberechtigten verfügt und bis
einschließlich 23.7.2004 Barabhebungen vorgenommen habe. Danach sei über das Konto
von Dritten nicht mehr verfügt worden. Im Rahmen der daraufhin von der Beklagten
eingeleiteten Ermittlungen wurde bekannt, dass R. C. am 19.8.2004 verstorben ist. Mit
Schreiben vom 19.9.2007 teilte die Stadt- und Kreissparkasse L. mit, dass über das
Guthaben auf dem Konto der Rentenberechtigten ausschließlich mittels Barabhebungen
verfügt worden, neben der Rentenberechtigten alleiniger Verfügungsberechtigter ihr Sohn
bzw Stiefsohn gewesen und das Konto nicht umgeschrieben sowie keine neuen
Kontoinhaber eingetragen worden seien. Nach Einholung weiterer Auskünfte machte die
Beklagte gegenüber der Stadt- und Kreissparkasse L. mit Schreiben vom 14.2.2008 einen
Erstattungsanspruch in Höhe von 156 354,85 Euro geltend. Nachdem sich das
Kreditinstitut auf § 118 Abs 3 S 3 SGB VI berufen hatte, wandte sich die Beklagte an die
Klägerin. Im Rahmen ihrer Anhörung zu der beabsichtigten Geltendmachung eines gegen
sie gerichteten Erstattungsanspruchs in Höhe von 155 871,65 Euro teilte die Klägerin mit,
von dem Konto, auf das Rentenleistungen gezahlt worden seien, weder Kenntnis gehabt
zu haben noch über dieses verfügungsberechtigt gewesen zu sein. Sie selbst habe keine
Rentenzahlungen in Empfang genommen und auch nicht über diese verfügt. Zudem
erlaube ihre wirtschaftliche Situation keine Rückzahlung.
3 Mit Bescheid vom 25.9.2009 forderte die Beklagte die Klägerin als Erbin des verstorbenen
R. C. auf, die Rentenüberzahlungen in Höhe von 155 871,65 Euro zu erstatten. Der
Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24.8.2010).
4 Auf die hiergegen erhobene Klage hat das SG Leipzig unter Festsetzung des Streitwerts
auf 155 871,65 Euro den Bescheid vom 25.9.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids
vom 24.8.2010 aufgehoben. Das Sächsische LSG hat mit Urteil vom 30.10.2012 in
Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung festgestellt, dass ein Streitwert nicht
festzusetzen sei, und die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat
das Berufungsgericht im Wesentlichen ausgeführt:
5 Die Beklagte könne den geltend gemachten Erstattungsanspruch nicht auf § 118 Abs 4 S
1 SGB VI stützen, weil die Klägerin über die nach dem Tod der Rentenberechtigten von
der Beklagten zu Unrecht geleisteten Rentenzahlungen weder verfügt noch diese in
Empfang genommen habe. Ebenso wenig rechtfertige sich ein Anspruch aus § 118 Abs 4
S 1 SGB VI iVm §§ 1922, 1967 BGB. Die Regelungen würden durch die spezielle Norm
des § 118 Abs 4 S 4 SGB VI verdrängt. Die Qualität dieser Vorschrift als § 118 Abs 4 S 1
SGB VI iVm §§ 1922, 1967 BGB verdrängende Spezialregelung ergebe sich aus dem in
den Gesetzesmaterialien hinreichend zum Ausdruck kommenden Willen des
Gesetzgebers. Dieser habe sich bewusst dafür entschieden, die Erben, soweit sie nicht
Verfügende oder Empfänger iS des § 118 Abs 4 S 1 SGB VI seien, nicht der verschärften
Haftung zu unterstellen und die Bösgläubigkeit des Empfängers oder Verfügenden nicht
über die Erbenhaftung weiterzuleiten. Die Auffassung der Beklagten, nach der § 118 Abs 4
S 4 SGB VI nur für die Erben des Berechtigten, nicht aber "für die Erben eines beliebigen
verfügenden Dritten" gelte, führe zu dem Ergebnis, dass von der unrechtmäßigen
Verfügung und Empfangnahme noch weiter entfernte Personen wegen der Erbenhaftung
(nach §§ 1922, 1967 BGB) schärfer hafteten als der näherstehende Erbe des Berechtigten,
der sich in seiner Person auf Vertrauensschutz berufen könne. Dies sei weder unter dem
Gesichtspunkt der Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte zu rechtfertigen noch mit
dem vom Gesetzgeber bezweckten Privilegierungsschutz zu vereinbaren.
6 Ein Anspruch nach § 118 Abs 4 S 4 SGB VI iVm § 50 Abs 2 SGB X komme nicht in
Betracht, weil sich die Klägerin für die rückwirkende Erstattung auf Vertrauensschutz
berufen könne und die Beklagte keinerlei Ermessenserwägungen angestellt habe.
7 Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 118
Abs 4 S 1 und S 4 SGB VI iVm §§ 1922, 1967 BGB. Die Klägerin sei als Alleinerbin ihres
verstorbenen Ehemanns im Wege der Gesamtrechtsnachfolge nach § 1922 BGB für die
Nachlassverbindlichkeiten (§ 1967 Abs 1 BGB) erstattungspflichtig. Zu diesen gehöre der
gegen ihren verstorbenen Ehemann gerichtete öffentlich-rechtliche
Rückforderungsanspruch nach § 118 Abs 4 S 1 SGB VI als Erblasserschuld, der mangels
entgegenstehender Vorschriften in entsprechender Anwendung der genannten Normen
des BGB beim Erbgang auf die Klägerin übergegangen sei. Auf Gesichtspunkte des
Vertrauensschutzes komme es daher nicht an. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen
werde § 118 Abs 4 S 1 SGB VI nicht durch § 118 Abs 4 S 4 SGB VI im Sinne einer
Spezialregelung verdrängt. Insoweit sei zunächst auf das Urteil des 13. Senats des BSG
vom 10.7.2012 (B 13 R 105/11 R - SozR 4-2600 § 118 Nr 11) zu verweisen, nach dem die
Ansprüche gegen Empfänger/Verfügende gemäß § 118 Abs 4 S 1 SGB VI und gegen
Erben nach § 118 Abs 4 S 4 SGB VI prinzipiell gleichrangig und eigenständig seien. Der
Anspruch gemäß S 4 könne aber der allgemeinere Tatbestand sein, wenn der Erbe iS des
S 1 verfügt bzw den Rentenbetrag in Empfang genommen habe. In diesem Fall sei für den
Rentenversicherungsträger die Inanspruchnahme nach Abs 4 S 1 zweckmäßiger, weil der
Vertrauensschutz über §§ 45 ff SGB X keine Anwendung finde, sondern die verschärfte
bereicherungsrechtliche Haftung greife. Letzteres treffe auf den verstorbenen Sohn der
Rentenberechtigten R. C. zu. Dieser Anspruch sei - wie bereits dargelegt - auf die Klägerin
im Wege der Gesamtrechtsnachfolge übergegangen. Die Ausführungen des LSG zur
angeblichen Spezialität des § 118 Abs 4 S 4 SGB VI gingen daher fehl. Im Übrigen
erfasse der Begriff der Erben in dieser Vorschrift nur die Erben des Berechtigten und nicht
auch die Erben des Verfügenden bzw Empfängers. Dies ergebe sich daraus, dass § 118
Abs 4 SGB VI die Rückforderung gegenüber diesen Personengruppen - den Verfügenden,
den Empfängern und den Erben - regele.
8 Sollte sie, die Beklagte, nicht berechtigt gewesen sein, ihren gegen die Klägerin
gerichteten Anspruch durch Verwaltungsakt geltend zu machen, wäre aus den
aufgezeigten Gründen ihrer - zulässigen und statthaften - Eventualwiderklage
stattzugeben.
9
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 30. Oktober 2012 und das
Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 15. März 2011 aufzuheben und die Klage
abzuweisen,
hilfsweise,
die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte 155 871,65 Euro zu zahlen.
10 Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
11 Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Entscheidungsgründe
12 Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.
13 Zu Recht haben SG und LSG entschieden, dass der Beklagten ein gegen die Klägerin
gerichteter Anspruch auf Erstattung überzahlter Rentenbeträge in Höhe von 155 871,65
Euro nicht zusteht. Ein derartiger Anspruch ergibt sich weder aus § 118 Abs 4 S 1 SGB VI
bzw § 118 Abs 4 S 1 SGB VI iVm § 1922 Abs 1, § 1967 BGB noch aus § 118 Abs 4 S 4
SGB VI iVm § 50 SGB X.
14 1. Der Entscheidung zugrunde zu legen ist § 118 Abs 4 S 1 SGB VI in der zum Zeitpunkt
des Erlasses des Widerspruchsbescheids vom 24.8.2010 geltenden Fassung (des mit
Wirkung vom 29.6.2002 in Kraft getretenen Gesetzes zur Einführung einer
kapitalgedeckten Hüttenknappschaftlichen Zusatzversicherung und zur Änderung anderer
Gesetze vom 21.6.2002 - BGBl I 2167). Wird ein belastender Verwaltungsakt -
wie der hier zu prüfende Erstattungsbescheid der Beklagten - mit der Anfechtungsklage
angegriffen, ist für die rechtliche Beurteilung grundsätzlich der Zeitpunkt seines Erlasses
(ggf - wie hier - des Widerspruchsbescheids) maßgeblich (vgl zB BSGE 79, 223, 225 =
SozR 3-1300 § 48 Nr 57 S 129; BSG SozR 3-1500 § 54 Nr 18 S 46; BSG SozR 3-2600 §
118 Nr 2 S 11; BSG SozR 4-2600 § 118 Nr 11 RdNr 17).
15 § 118 Abs 4 S 1 SGB VI in der hier anwendbaren Fassung enthält folgende Regelung:
Soweit Geldleistungen für die Zeit nach dem Tod des Berechtigten zu Unrecht erbracht
worden sind, sind sowohl die Personen, die die Geldleistungen unmittelbar in Empfang
genommen haben oder an die der entsprechende Betrag durch Dauerauftrag,
Lastschrifteinzug oder sonstiges bankübliches Zahlungsgeschäft auf ein Konto
weitergeleitet wurde (Empfänger), als auch die Personen, die als Verfügungsberechtigte
über den entsprechenden Betrag ein bankübliches Zahlungsgeschäft zu Lasten des
Kontos vorgenommen oder zugelassen haben (Verfügende), dem Träger der
Rentenversicherung zur Erstattung des entsprechenden Betrags verpflichtet.
16 a) In der Person der Klägerin ist ein Erstattungsanspruch schon deshalb nicht entstanden,
weil diese nach den mit der Revision nicht angegriffenen und damit für den Senat
bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) weder Empfängerin noch Verfügende iS
des § 118 Abs 4 S 1 SGB VI ist.
17 b) Die Klägerin ist auch nicht als Erbin ihres verstorbenen Ehemanns R. C. zur Erstattung
der überzahlten Rentenbeträge gemäß § 118 Abs 4 S 1 SGB VI iVm § 1922 Abs 1, § 1967
BGB verpflichtet.
18 aa) Zwar ist der Erstattungsanspruch nach § 118 Abs 4 S 1 SGB VI in der Person des R.
C. entstanden.
19 Die Voraussetzungen der Norm sind in seiner Person erfüllt. Mit den Rentenzahlungen für
die Zeit vom 1.11.1991 bis (jedenfalls) 31.3.2007 sind für die Zeit nach dem Tod der
Rentenberechtigten M. C. am 29.10.1991 Geldleistungen erbracht worden. Diese sind zu
Unrecht erfolgt, weil nach § 102 Abs 5 SGB VI ein Anspruch auf Zahlung der Rente nur bis
zum Ende des Kalendermonats besteht, in dem der Berechtigte gestorben ist, hier also bis
zum 31.10.1991. Die Überweisung der Rente für November 1991 bis März 2007
widerspricht infolgedessen dem Gesetz. Die Bindungswirkung der Rentenbewilligung
vermag die Zahlungen nicht zu rechtfertigen, weil sich der diesbezügliche Verwaltungsakt
mit dem Tod der Rentenberechtigten auch ohne Aufhebungsbescheid auf andere Weise
gemäß § 39 Abs 2 SGB X erledigt hat (vgl zB BSGE 84, 16, 20 = SozR 3-1300 § 50 Nr 21
S 71 f; BSG SozR 3-2600 § 118 Nr 9 S 63; BSG SozR 4-2600 § 118 Nr 9 RdNr 15, Nr 10
RdNr 13 und Nr 11 RdNr 20). Der verstorbene R. C. war auch Verfügender iS des § 118
Abs 4 S 1 SGB VI. Er war über das Konto der Rentenberechtigten M. C.
verfügungsberechtigt und hat bankübliche Zahlungsgeschäfte in Form von
Barabhebungen zu Lasten des Kontos vorgenommen. Mangels entgegenstehender
Anhaltspunkte ist auch davon auszugehen, dass das auf dem Konto vorhandene
Guthaben aus Rentenzahlungen herrührte, sodass der verstorbene R. C. über den den
erbrachten Geldleistungen "entsprechenden Betrag" verfügt hat.
20 bb) Der gegen den verstorbenen R. C. gemäß § 118 Abs 4 S 1 SGB VI entstandene
Erstattungsanspruch ist aber nicht auf die Klägerin als Erbin gemäß § 1922 Abs 1, § 1967
BGB übergegangen. Diese Vorschriften sind nicht anwendbar.
21 Nach § 1922 Abs 1 BGB geht zwar das Vermögen des Erblassers als Ganzes auf den
Erben über, sodass dieser nach § 1967 BGB für Nachlassverbindlichkeiten, einschließlich
der vom Erblasser herrührenden Schulden haftet. Inwieweit öffentlich-rechtliche
Forderungen und Verbindlichkeiten in den Nachlass fallen, bestimmt sich aber nicht nach
bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen, sondern nach dem öffentlichen Recht, dem die
jeweiligen Forderungen und Verbindlichkeiten angehören (BGH Urteil vom 22.1.1971 - I
ZR 132/69 - Juris RdNr 15; BVerwGE 16, 68, 69). Nur soweit ausdrückliche Vorschriften
bzw anderweitige gesetzliche Regelungen fehlen, kann der Rechtsgedanke der §§ 1922,
1967 ff BGB auf öffentlich-rechtliche Ansprüche und Verbindlichkeiten entsprechend
angewendet werden (BGH aaO; BVerwGE 21, 302, 303; Weidlich in Palandt, BGB, 73.
Aufl 2014, § 1922 RdNr 40 und § 1967 RdNr 3). Dies ist hier nicht der Fall.
22 Eine anderweitige § 1922 Abs 1, § 1967 BGB verdrängende gesetzliche Vorschrift stellt §
118 Abs 4 S 4 SGB VI in der hier maßgeblichen Fassung von Abs 4 (des mit Wirkung zum
1.5.2007 in Kraft getretenen Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die
demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der
gesetzlichen Rentenversicherung vom 20.4.2007 -
BGBl I 554) dar, nach dem ein Anspruch gegen die Erben nach § 50 SGB X unberührt
bleibt. Die nunmehr in S 4 enthaltende Regelung ist seit ihrer Einführung als S 3 des
neuen Abs 4 zum 1.1.1996 durch Art 1 Nr 20 des Gesetzes zur Änderung des Sechsten
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 15.12.1995 (BGBl I 1824)
unverändert geblieben.
23 § 118 Abs 4 S 4 SGB VI normiert in den Fällen einer Zahlung von Renten über den Tod
des Berechtigten hinaus eine eigene Regelung für die Haftung der Erben, die diesen
Personenkreis bewusst nicht der verschärften Haftung des S 1 unterwirft, sondern zu
seinen Gunsten die Anwendung der Vertrauensschutzregelungen des SGB X vorsieht (vgl
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 29.11.1995,
BT-Drucks 13/3150 S 42 zu Nr 17). Dieses gesetzgeberische Anliegen würde unterlaufen,
wenn der Anspruch nach S 1 eine Nachlassverbindlichkeit wäre, für die der Erbe, ohne die
Möglichkeit Vertrauensschutzgesichtspunkte geltend zu machen, nach § 1967 BGB
einzustehen hätte.
24 Der Begriff der Erben iS von § 118 Abs 4 S 4 SGB VI umfasst entgegen der Ansicht der
Beklagten auch die Erben des Verfügenden.
25 Hierfür sprechen zum einen der Wortlaut des § 118 Abs 4 S 4 SGB VI, der allgemein auf
"die Erben" und nicht lediglich auf die Erben des Berechtigten abstellt, als auch der sich
aus den Materialien ergebende Sinn und Zweck der Vorschrift. Die Regelung ist in § 118
Abs 4 SGB VI eingefügt worden, um klarzustellen, "dass Rückforderungsansprüche gegen
die Erben, die nicht über die Rentenzahlung verfügt haben und deshalb nicht nach Satz 1
haften, nach den allgemeinen Regeln des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch geltend
gemacht werden können" (BT-Drucks 13/3150, S 42 zu Nr 17). Die Ergänzung des Abs 4
diente mithin zum einen dazu, die Personen aufzuzeigen, die neben den in S 1 genannten
ebenfalls als potentiell Anspruchsverpflichtete in Betracht kommen. Dies sind nicht nur die
(nicht verfügenden) Erben des Berechtigten, sondern ebenso die Erben des Verfügenden.
Sie können gleichermaßen kraft Erbfalls die überzahlten Rentenbeträge erlangt haben
und wären in diesem Fall gleichermaßen potentiell Anspruchsverpflichtete. Zum anderen
wollte der Gesetzgeber die nicht über die Rentenzahlung verfügenden Erben privilegieren,
indem er zu ihren Gunsten im Gegensatz zu den nach S 1 Haftenden die Anwendbarkeit
der Vertrauensschutzregelungen des SGB X vorgesehen hat. Dieser Privilegierungsgrund
trifft sowohl auf die nicht verfügenden Erben des Berechtigten als auch die Erben des
Verfügenden zu.
26 Für einen weiten, ebenso die Erben des Verfügenden erfassenden, Erbenbegriff spricht
schließlich das Gebot der verfassungskonformen Auslegung, nach dem von mehreren
Auslegungsmöglichkeiten diejenige den Vorrang hat, bei der die Rechtsnorm mit der
Verfassung in Einklang steht (vgl zB BVerfGE 48, 40, 45; 110, 226, 267; 112, 164, 182 f;
124, 25, 39; BSGE 94, 192 RdNr 34 = SozR 4-2500 § 37 Nr 3 RdNr 31).
27 Ein nur die Erben des Berechtigten erfassender Erbenbegriff iS des S 4 hätte - wie bereits
oben dargelegt - zum Ergebnis, dass diese einer milderen Haftung ausgesetzt wären als
die Erben des Verfügenden.
28 Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG gebietet indes, alle Menschen vor dem
Gesetz gleich zu behandeln und ist verletzt, wenn gesetzliche Bestimmungen, die
verschiedene Personengruppen betreffen, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich
zu anderen Normadressaten anders behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine
Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche
Behandlung rechtfertigen könnten (vgl BVerfGE 102, 41, 54 = SozR 3-3100 § 84a Nr 3 S
18 - stRspr). Zwischen den genannten Gruppen von Erben bestehen jedoch keine
Unterschiede, die eine unterschiedliche Haftung rechtfertigen könnten.
29 Die Privilegierung der Erben durch eine nur eingeschränkte Haftung nach S 4 in
Verbindung mit den Vorschriften des SGB X hat ihren Grund darin, dass diese nicht über
die Rentenzahlung verfügt haben (vgl BT-Drucks 13/3150 S 42). Dieser Tatbestand trifft
gleichermaßen auf die (nicht verfügenden) Erben des Berechtigten als auch auf die Erben
des Verfügenden zu. Beide Personengruppen haben keinen "Zugriff" auf die
Rentenüberzahlung bzw den ihr entsprechenden Betrag genommen.
30 Dem hier vertretenen Ergebnis, dass ein gegen den Verfügenden gerichteter Anspruch
gemäß § 118 Abs 4 S 1 SGB VI mangels Anwendbarkeit der § 1922 Abs 1, § 1967 BGB
keine Nachlassverbindlichkeit im Sinne letzterer Norm ist, steht § 57 Abs 2 S 2 SGB I nicht
entgegen. Dieser ordnet keine Haftung der Erben nach den Vorschriften des BGB für
Verbindlichkeiten des Erblassers nach den Sozialgesetzbüchern an, sondern bestimmt
lediglich, dass die Einstandspflicht des Sonderrechtsnachfolgers die Haftung des Erben
entfallen lässt (vgl nur Zweng/ Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der
Rentenversicherung Teil 1 Bd 1, § 57 SGB I RdNr 22 - Stand 8/10). Abgesehen davon
ginge § 118 Abs 4 S 4 SGB VI in seinem Anwendungsbereich allgemeinen
Bestimmungen als speziellere Vorschrift vor.
31 Schließlich widerspricht die Entscheidung des erkennenden Senats nicht dem Urteil des
13. Senats vom 10.7.2012 (B 13 R 105/11 R - SozR 4-2600 § 118 Nr 11), nach dem § 118
Abs 4 S 1 und Abs 4 S 4 SGB VI in der vorliegend maßgeblichen Fassung eigenständige
und voneinander unabhängige Anspruchsgrundlagen seien, sodass Erben gleichrangig
neben Empfängern bzw Verfügenden in Anspruch genommen werden könnten (aaO RdNr
31). Der erkennende Senat hat in dem hiesigen Verfahren nicht über eine etwaige
Rangfolge in der Haftung zwischen den genannten Personenkreisen entschieden,
sondern darüber befunden, dass der Begriff der "Erben" in § 118 Abs 4 S 4 SGB VI auch
die Erben des (verstorbenen) Verfügenden erfasst. Darüber hinaus hat der 13. Senat im
Urteil vom 10.7.2012 (aaO RdNr 38) die Auffassung vertreten, dass die
Erstattungsansprüche von § 118 Abs 4 S 1 und Abs 4 letzter S SGB VI iVm § 50 SGB X in
einem Verhältnis von Spezialität stehen könnten, wenn Empfänger und/oder Verfügende
zugleich Erben seien und die Voraussetzungen beider Anspruchsgrundlagen erfüllten. Die
Erbenhaftung sei in einem solchen Fall der allgemeinere Tatbestand, weil Abs 4 S 1
zusätzlich spezielle Merkmale (Empfänger/Verfügende) aufweise, die zur Erbenstellung
hinzutreten könnten. Über eine derartige Fallkonstellation hat der erkennende Senat nicht
entschieden. Die Klägerin des hiesigen Verfahrens ist nur Erbin und nicht gleichzeitig
auch Verfügende und/oder Empfängerin. Dementsprechend stellte sich nicht die Frage
eines Vorrangverhältnisses zwischen § 118 Abs 4 S 1 und Abs 4 S 4 SGB VI, sondern
zwischen § 118 Abs 4 S 1 SGB VI iVm § 1922 Abs 1, § 1967 BGB und § 118 Abs 4 S 4
SGB VI. Schließlich führt der 13. Senat in der genannten Entscheidung (aaO RdNr 42) im
Zusammenhang mit einem gegen den Erben gerichteten Erstattungsanspruch nach § 118
Abs 4 S 4 SGB VI aus, dass mangels entgegenstehender Vorschriften öffentlich-rechtliche
Ansprüche und Verpflichtungen in entsprechender Anwendung der §§ 1922, 1967 BGB
beim Erbgang grundsätzlich auf die Erben als Gesamtrechtsnachfolger übergingen. Die
Entscheidung betrifft aber einen gegen die (Mit-)Erbin der Rentenberechtigten gerichteten
Erstattungsanspruch, sodass sich der 13. Senat nicht zum Verhältnis des § 118 Abs 4 S 1
iVm § 1922 Abs 1, § 1967 BGB und Abs 4 S 4 SGB VI geäußert hat.
32 2. Der Beklagten steht schließlich auch kein Anspruch gegen die Klägerin aus § 118 Abs
4 S 4 SGB VI iVm § 50 SGB X zu.
33 a) Zwar war die Beklagte berechtigt, den Erstattungsanspruch durch Verwaltungsakt
gemäß § 50 Abs 3 S 1 SGB X gegen die Klägerin als Erbin iS von § 118 Abs 4 S 4 SGB VI
geltend zu machen. Denn § 118 Abs 4 SGB VI begründet ein öffentlich-rechtliches
Rechtsverhältnis zwischen dem Leistungsträger und den in der Vorschrift genannten
Personen (BSG SozR 3-2600 § 118 Nr 2 S 12; vgl auch BSG SozR 4-2600 § 118 Nr 11
RdNr 20).
34 b) Dem gegen die Klägerin gerichteten Erstattungsanspruch steht auch nicht der vorrangig
geltend zu machende Rücküberweisungsanspruch gegen das Geldinstitut nach § 118 Abs
3 S 2 SGB VI entgegen. Ob dieses gegenüber den in § 118 Abs 4 S 1 SGB VI genannten
Empfängern und Verfügenden bestehende prozessuale und materielle Vorrangverhältnis
(BSG SozR 4-2600 § 118 Nr 11 RdNr 21 mwN) auch gegenüber den Erben iS von § 118
Abs 4 S 4 SGB VI gilt, bedarf keiner Entscheidung. Gemäß § 118 Abs 3 S 3 SGB VI
besteht eine Verpflichtung zur Rücküberweisung jedenfalls dann nicht, soweit über den
entsprechenden Betrag bei Eingang der Rückforderung bereits anderweitig verfügt wurde,
es sei denn, dass die Rücküberweisung aus einem Guthaben erfolgen kann. Danach
scheidet eine Verpflichtung der Stadt- und Kreissparkasse L. zur Rückzahlung des hier
streitigen Betrags aus. Bei Eingang des Rückforderungsverlangens der Beklagten war
über die den Rentenzahlungen entsprechenden Beträge bis auf ein Guthaben von 65
640,57 Euro, die das Geldinstitut an die Beklagte zurückgezahlt hat, bereits anderweitig
durch den Stiefsohn der Rentenberechtigten R. C. verfügt.
35 c) Die Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs liegen jedoch nicht vor.
36 Nach dem hier allein in Betracht kommenden § 50 Abs 2 S 1 SGB X sind Leistungen,
soweit sie ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, zu erstatten.
37 Zwar sind die Rentenzahlungen nach dem Tod der Rentenberechtigten am 29.10.1991 im
Zeitraum November 1991 bis März 2007 ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erfolgt, weil sich
der Rentenbewilligungsbescheid mit dem Tod der Berechtigten auf andere Weise iS von §
39 Abs 2 SGB X erledigt hat, und die Leistungen mit § 102 Abs 5 SGB VI nicht in Einklang
standen (vgl dazu II 1 b aa). Zurückgefordert werden können Leistungen nach § 50 SGB X
aber nur von demjenigen, der sie zu Unrecht erhalten hat (BSG SozR 1300 § 50 Nr 16 S
30). Nach den Feststellungen des LSG hat die Klägerin jedoch von den Rentenzahlungen
nichts erhalten.
38 Über den Hilfsantrag der Beklagten war nicht zu entscheiden. Die Eventualwiderklage iS
von § 100 SGG (vgl hierzu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl
2012, § 100 RdNr 2) hat die Beklagte nur für den Fall erhoben, dass der Senat eine
Berechtigung der Beklagten verneint, gegenüber der Klägerin durch Verwaltungsakt tätig
zu werden. Dies ist nach den obigen Ausführungen nicht der Fall.
39 Die Kostenentscheidung richtet sich entgegen der Auffassung des LSG nach § 197a Abs 1
S 1 Teils 3 SGG in Verbindung mit den Vorschriften der VwGO, hier § 154 Abs 1 und 2
VwGO. Weder die Klägerin noch die Beklagte gehören zu den in § 183 SGG genannten
Personen. Die Klägerin ist insbesondere nicht Sonderrechtsnachfolgerin der verstorbenen
Rentenberechtigten M. C. iS von § 56 SGB I, sondern Rechtsnachfolgerin des ebenfalls
verstorbenen Stiefsohns der Berechtigten R. C. Zudem streiten die Beteiligten nicht über
fällige Ansprüche der Berechtigten, sondern über einen Erstattungsanspruch des
Rentenversicherungsträgers.
40 Aus diesem Grund ist gemäß § 197a Abs 1 S 1 Halbs 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52
Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 S 1 GKG auch ein Streitwert, und zwar in Höhe von 155 871,65
Euro festzusetzen.