Urteil des BPatG vom 11.07.2016

Stand der Technik, Stahl, Ablauf des Verfahrens, Patent

BPatG 152
08.05
BUNDESPATENTGERICHT
11 W (pat) 17/10
_______________________
(Aktenzeichen)
B E S C H L U S S
In der Beschwerdesache
- 2 -
betreffend das Patent DE 10 2005 041 250
hat der 11. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts in
der Sitzung vom 11. Juli 2016 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters
Dr.-Ing. Höchst
sowie
der
Richter
v. Zglinitzki,
Dr.-Ing. Fritze
und
Dipl.-Ing. Fetterroll
beschlossen:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
G r ü n d e
I.
Gegen das am 29. August 2005 angemeldete und am 29. Januar 2009 veröffent-
lichte Patent DE 10 2005 041 250 mit der Bezeichnung
„Verfahren zum Verfesti-
gen von Bauteil-
Oberflächen durch Festwalzen“ ist mit der Begründung Einspruch
erhoben worden, die Erfindung sei nicht so deutlich und vollständig offenbart, dass
ein Fachmann sie ausführen könne; zudem sei der Gegenstand des Streitpatents
gegenüber dem Stand der Technik nicht neu und beruhe, sofern Neuheit vorhan-
den sein sollte, nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
Die Patentabteilung 14 des Deutschen Patent- und Markenamtes hat am
8. Juni 2010 die Aufrechterhaltung des Patents beschlossen.
Dagegen richtet sich die Beschwerde der Einsprechenden. Sie ist der Auffassung,
dem Gegenstand des Anspruchs 1 des angegriffenen Patents fehle die
Patentfähigkeit, weil er nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
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Sie stützt ihre Beschwerde auf die im Einspruchsverfahren benannten
Druckschriften
(D1) DE 103 61 739 B4,
(E1) DE 31 42 270 C2,
(E2) DE 299 14 802 U1,
(E3) EP 1 204 771 B1,
(E4) DE 102 02 564 A1,
(E5) DE 195 16 834 A1.
sowie nunmehr zusätzlich auf einen Vortragstext
D2*
I. Altenberger und I.
Nikitin: „Alternative mechanische Oberflächenbe-
handlungsverfahren zur Schwingfestigkeitssteigerung“. Inhalt angeblich
vorgetragen von I. Altenberger auf dem 59. Kolloquium für Wärmebe-
handlung, Werkstofftechnik, Fertigungs- und Verf
ahrenstechnik“ am
10. Oktober 2003 in Wiesbaden,
und dessen Veröffentlichung in
D2
Zeitschrift für Werkstoffe, Wärmebehandlung, Fertigung, 59 (2004) 4,
S. 269-275.
Zum Beleg, dass der Vortrag tatsächlich gehalten worden ist, hat sie die Doku-
mente
D3
Auszüge aus dem Programm des Kolloquiums, S. 15 und 16, 19 bis 21, 23,
25 und 26,
- 4 -
D4
Kopie der Ankündigung des Vortrags D2*, Abstract des Vortrags D2*
D5
Kopie vom Deckblatt des Programms zu 66. Kolloquium für Wärmebehand-
lung, Werkstofftechnik, Fertigungs-
und Verfahrenstechnik“ vom 13. bis
15. Oktober 2010 in Wiesbaden,
eingereicht.
Die Beschwerdeführerin vertritt den Standpunkt, die patentgemäße Lösung beruhe
nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Auch die Unteransprüche könnten keine eigen-
ständige Patentfähigkeit begründen.
Insbesondere in Kenntnis von E1 und D2 habe der Fachmann die technische
Lehre des Patents durch bloßes fachmännisches Handeln finden können.
Die Beschwerdeführerin beantragt,
den angefochtenen Beschluss des Patentamts aufzuheben und
das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen und das Patent im erteilten
Umfang aufrechtzuerhalten.
Auf die Druckschrift E1, auf welche sich die Beschwerdeführerin bezogen hat,
geht die Beschwerdegegnerin nicht ein. Zum Dokument D2* vertritt sie den Stand-
punkt, es könne nicht als nachweislich vorveröffentlichter Stand der Technik ange-
sehen werden. Nicht die Tatsache, dass der Vortrag gehalten worden ist, werde
bestritten, sondern, dass der Inhalt so vorgetragen worden ist, wie er dem Doku-
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ment D2* zu entnehmen ist. Die Druckschrift D2 sei erst im Beschwerdeverfahren
und mithin nach Ablauf der Einspruchsfrist in das Verfahren eingebracht worden
und habe keine sachliche Relevanz über die Aufrechterhaltung des Patents in der
erteilten Fassung. Selbst wenn sie berücksichtigt werde, erhalte der Fachmann
keinen Hinweis darauf, dass ein Festwalzen bei erhöhten Temperaturen bei ver-
güteten Stählen zu einer Oberflächenverfestigung führen könnte. Auch in Kombi-
nation mit der Druckschrift D1 könne sie keine Hinweise zur patentgemäßen Lö-
sung bieten. Ausgehend von der D1 habe der Fachmann keine Veranlassung, ei-
nen Festwalzvorgang bei erhöhter Temperatur durchzuführen.
Das angegriffene Patent umfasst vier Ansprüche; Anspruch 1 lautet:
„Verfahren zum Verfestigen von Oberflächen an einem Bauteil (2)
aus vergütetem Stahl durch Hochtemperatur-Festwalzen, dadurch
gekennzeichnet, dass vor dem Festwalzen zumindest ein festzu-
walzender Bereich des Bauteils (2) auf eine vorgewählte Tempe-
ratur im dynamischen Reckalterungstemperaturbereich erwärmt,
während des Festwalzens auf dieser Temperatur gehalten und
nach dem Festwalzen abkühlen gelassen wird.“
Wegen des Wortlauts der auf diesen Anspruch rückbezogenen Ansprüche 2 bis 4
wird auf die Patentschrift und wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens
der Beteiligten wird auf die Akten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde der Einsprechenden ist unbegründet.
A.
Das Patent betrifft ein Verfahren zum Verfestigen von Oberflächen an
einem Bauteil aus vergütetem Stahl durch Hochtemperatur-Festwalzen.
- 6 -
Im Absatz [0002] der Beschreibung sind zum Stand der Technik Druckschriften
angegeben, die aufzeigen, dass die Schwingfestigkeit von Bauteilen durch
Festwalzen der Oberflächen erhöht werden kann. Bei vergüteten, nicht
austenitischen Stählen werde das als nicht immer ausreichend angesehen.
,
dahingehend weiter zu entwickeln, dass die durch seine Anwendung erzielbaren
Schwingfestigkeiten größer als die Schwingfestigkeiten sind, die mit bekannten
Verfahren erhalten werden (Abs. [0003]).
Der damit betraute Fachmann ist Hochschulabsolvent der Fachrichtung Maschi-
nenbau, der über entsprechende Kenntnisse der Werkstoffkunde der Metalle und
mehrjährige Berufserfahrung in der Entwicklung von metallischen Bauteilen ver-
fügt, die einer schwingenden Beanspruchung unterliegen. Er kennt die Verfesti-
gungsmechanismen, die bei konventionellen mechanischen Oberflächenbehand-
lungsverfahren Druckeigenspannungen im oberflächennahen Gefüge eines Werk-
stücks bewirken, und er weiß, dass diese zu einer Erhöhung von dessen
Schwingfestigkeit führen können.
B.
Die Patentfähigkeit des gemäß dem angegriffenen Patent beanspruchten
Verfahrens gegenüber dem Stand der Technik ist gegeben.
Der Inhalt des Vortrags D2* ist dem dazu eingereichten Text zufolge nahezu iden-
tisch mit dem Inhalt des dazu erschienenen Zeitschriftenbeitrags in der Druck-
schrift D2. Der Artikel ist - wie auch unstreitig - vor dem für den Zeitrang des an-
gegriffenen Patents maßgeblichen Tag veröffentlicht worden und
– entgegen der
Auffassung der Beschwerdegegnerin - für die Entscheidung relevant, denn er be-
fasst sich u. a. mit dem hier einschlägigen Thema der Einstellung von Druckspan-
nungen im oberflächennahen Werkstückbereichen mittels Festwalzens bei erhöh-
ter Temperatur im Bereich der dynamischen Reckalterung (vgl. S. 272-273, Ab-
schnitt 2.2, thermomechanisches Festwalzen).
- 7 -
Außer der Druckschrift D2 sind hier zudem die Druckschriften E1 und D1 für die
Entscheidung vorrangig von Bedeutung.
Die Neuheit des Verfahrens gemäß dem Anspruch 1 des angegriffenen Patents ist
ebenso wie dessen offensichtlich gegebene gewerbliche Anwendbarkeit gegeben
und auch nicht streitig. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 beruht
aber - entgegen der Rechtsauffassung der Einsprechenden - auf einer
erfinderischen Tätigkeit.
Die Beschwerdeführerin meint. dem Stand der Technik gemäß Druckschrift E1
zufolge sei es bereits bekannt gewesen, die Festigkeit durch gleichzeitige Wärme-
behandlung und Kaltverfestigung zu erhöhen. Der vom Patent beanspruchte
grundsätzliche Ablauf des Verfahrens (Verfestigen von Oberflächen an einem
Bauteil aus Stahl durch Hochtemperatur-Festwalzen, wobei vor dem Festwalzen
zumindest ein festzuwalzender Bereich des Bauteils auf eine vorgewählte Tempe-
ratur erwärmt, während des Festwalzens auf dieser Temperatur gehalten und
nach dem Festwalzen abkühlen gelassen wird) sei darin bereits offenbart. Es ver-
bleibe als Unterschied die Überlegung, als Bearbeitungstemperatur eine Tempe-
ratur aus dem dynamischen Reckalterungsbereich auszuwählen. Der Kern des
Streitpatents bestehe mit anderen Worten darin, einen Zusammenhang zwischen
dem Festwalzen und der Reckalterungstemperatur zu realisieren. Das Erkennen
dieses Zusammenhangs sei nicht ausreichend, um eine erfinderische Tätigkeit zu
begründen, weil Druckschrift D2 dem Fachmann bereits diesbezügliche Hinweise
vermittelte.
Der Senat kommt zu einem anderen Ergebnis.
Das in der Druckschrift E1 aufgezeigte Verfahren entspricht bereits nicht dem
Oberbegriff des Anspruchs 1 des angegriffenen Patents. Dieser Stand der Technik
ist daher schon nicht als Ausgangspunkt für die Beurteilung geeignet, ob der
Streitgegenstand auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht oder nicht.
- 8 -
Das aus Druckschrift E1 bekannte Verfahren wird auf einen Stahl angewendet, der
während der Umformung in einem austenitisierten Zustand ist: Ein Werkstück,
insbesondere aus Stahl, soll dort in jeder der offenbarten Verfahrensausgestaltun-
gen bis in die Hochtemperaturphase (bei Stahl ist das gemeinhin der Austenit)
erwärmt und im Existenzbereich der Hochtemperaturphase u. a. durch Festwalzen
verfestigt werden (vgl. die Ansprüche 1 bis 3 sowie Spalte 2, Z. 43-64, i. V. m. den
Figuren 1 und 2). Dieses erfolgt entweder oberhalb der Ac
3
-Umwandlungstempe-
ratur oder in dem Phasengebiet zwischen Ac
3
und der Martensit-Starttempera-
tur Ms und dem Bereich des ZTU- Diagramms, der vor der Perlit- und Bainitnase,
in welchem der Stahl ein Gefüge aus metastabilem Austenit aufweist, liegt (vgl.
Fig. 1, bzw. Fig. 2). Ein Stahl, wie er gemäß dieser Druckschrift einem Festwalzen
unterzogen werden soll, weist somit im Zuge der Umformung ein im Wesentlichen
homogenes Gefüge aus Austenit und kein Anlassgefüge auf. Davon abgesehen
geht aus E1 auch nicht hervor, dass dort die thermomechanischen Behandlungs-
maßnahmen mit der Absicht erfolgen, Verfestigungseffekte nutzen zu können, die
auf dem Phänomen der dynamischen Reckalterung beruhen.
Dagegen richtet sich das vom Streitpatent beanspruchte Verfahren ausdrücklich
auf die Behandlung eines Bauteils aus einem , und zumindest ein
festzuwalzender Bereich des Bauteils soll vor dem Festwalzen auf eine vorge-
wählte Temperatur - ausdrücklich - im dynamischen Reckalterungstemperaturbe-
reich erwärmt werden. In Abs. [0014] der Patentschrift wird die Vergütungsbe-
handlung bestehend aus den Schritten Austenitisieren, Abschrecken auf Raum-
temperatur und Anlassen, hier auf z. B. 300°C bis 550°C, am Beispiel eines unle-
gierten Stahls Ck 45 erläutert. Der Fachmann weiß, dass daraus ein Gefüge je
nach Anlassparametern aus tetragonalem Martensit mit mehr oder weniger
Restaustenit und ausgeschiedenen Karbiden resultiert. Ein vergütetes Werkstück,
worauf das vom Patent beanspruchte Verfahren angewendet werden soll, weist
also eine deutlich andere Mikrostruktur auf als der Stahl gemäß Druckschrift E1.
Bei sonst übereinstimmenden Parametern muss ein Hochtemperatur-Festwalzen
eines vergüteten Stahls somit zwangsläufig zu unterschiedlichen, nicht ohne wei-
- 9 -
teres absehbaren Resultaten gegenüber einem Stahl führen, der im austenitisier-
ten Zustand diesem Prozess unterzogen wird.
Zwar wird in der weiteren von der Beschwerdeführerin herangezogenen Druck-
schrift D2 dargelegt, dass das Prinzip der Reckalterung beim Hochtemperatur-
festwalzen eines Stahls Ck45 genutzt werden kann (vgl. S. 272, Abschnitt 2.2,
rechte Spalte, am Ende des ersten Absatzes), jedoch offenbart die D2 nicht, in
welchem Zustand dieser aufgrund seiner chemischen Zusammensetzung vergüt-
bare Stahl tatsächlich gewesen ist. Eine diesbezügliche Nachrecherche des Se-
nats hat ergeben, dass der Werkstoff dort normalgeglüht und nicht vergütet war.
Aufgrund dessen konnte der Hinweis in der Druckschrift D2 den Fachmann nicht
veranlassen, ein Festwalzen im dynamischen Reckalterungstemperaturbereich auf
ein Bauteil aus Ck45 anzuwenden, denn im normalgeglühten Zustand weist das
Gefüge eines Ck45-Stahls gleichmäßig verteilte Anteile an Ferrit und Perlit auf; er
hat somit ebenfalls eine völlig anderen Mikrostruktur als ein vergüteter Stahl. Dass
die Mechanismen, auf denen die dynamische Reckalterung beruht, bei derartigen
normalisierten Stählen im Zuge eines Festwalzens im dynamischen Reckalte-
rungstemperaturbereich anders ablaufen als bei einem patentgemäß in vergüte-
tem Zustand vorliegenden Stahl, weiß der Fachmann.
Auch aufgrund der Lehre aus der im Erteilungs- und Einspruchsverfahren bereits
berücksichtigten weiteren Druckschrift D1 ist dem Fachmann das patentgemäße
Verfahren nicht nahegelegt.
Druckschrift D1 betrifft als einzige ein Festwalzverfahren an einem vergüteten
.
angegriffenen Patents verlangt
– in einer Hochtemperatur-Behandlung bei einer
Temperatur im dynamischen Reckalterungstemperaturbereich, sondern das Fest-
walzen findet bei Raumtemperatur Anwendung (vgl. Abs. [0023] und [0024] sowie
Anspruch 1 i. V. m. Anspr. 4). Dem Fachmann wird damit vermittelt, dass die
durch das vorherige Vergüten erzielten Effekte einer Verfestigung bei gleichzeiti-
- 10 -
ger Verbesserung der plastischen Eigenschaften des Materials zunichtegemacht
werden könnten, wenn das Festwalzen in einem Temperaturbereich erfolgt, in
dem Diffusionsvorgänge ablaufen. Diese Erkenntnis hält den Fachmann eher da-
von ab, bei einem vergüteten Stahl einen Festwalzvorgang im Bereich der dyna-
mischen Reckalterungstemperaur vorzusehen.
Das Verfahren gemäß dem Anspruch 1 des angegriffenen Patents war dem
Fachmann somit aus dem aus den Druckschriften E1, D2 und D1 in der Zusam-
menschau sich ergebenden Stand der Technik nicht nahegelegt.
Die Druckschriften E2 bis E5 liegen weiter ab vom patentgemäßen Verfahren. Zu
Recht geht keine der Beteiligten mehr auf die Entgegenhaltungen E2 und E3 ein;
auf die Druckschriften E4 und E5 bezieht sich die Beschwerdeführerin lediglich in
den einleitenden Ausführungen des Beschwerdeschriftsatzes zum technischen
Hintergrund.
Auch unter Berücksichtigung dieser Entgegenhaltungen erweist sich das Verfah-
ren gemäß dem Anspruch 1 somit als patentfähig; der Anspruch 1 stützt die übri-
gen Patentansprüche 2 bis 4. Im Ergebnis hat das angegriffene Patent folglich wie
erteilt Bestand.
III.
Rechtsmittelbelehrung
Dieser Beschluss kann mit der Rechtsbeschwerde nur dann angefochten werden,
wenn einer der in § 100 Absatz 3 PatG aufgeführten Mängel des Verfahrens ge-
rügt wird. Die Rechtsbeschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung die-
ses Beschlusses beim Bundesgerichtshof, Herrenstraße 45 a, 76133 Karlsruhe,
- 11 -
durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt als Bevollmäch-
tigten schriftlich einzulegen.
Dr. Höchst
v. Zglinitzki
Dr. Fritze
Fetterroll
Bb