Urteil des BGH vom 29.04.2014

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VI ZR 530/12
vom
29. April 2014
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 139 Abs. 2
Erteilt das Gericht einen rechtlichen Hinweis in einer entscheidungserheblichen
Frage, so darf es diese Frage im Urteil nicht abweichend von seiner geäußerten
Rechtsauffassung entscheiden, ohne die Verfahrensbeteiligten zuvor auf die
Änderung der rechtlichen Beurteilung hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben zu haben.
BGH, Beschluss vom 29. April 2014 - VI ZR 530/12 - OLG Celle
LG Hannover
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. April 2014 durch den Vor-
sitzenden Richter Galke, die Richter Wellner und Stöhr, die Richterin von Pentz
und den Richter Offenloch
beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zu 2, zugleich
als Streithelferin des Beklagten zu 1, wird das Urteil des 14. Zivil-
senats des Oberlandesgerichts Celle vom 28. November 2012
aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde,
an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: 20.073,82
Gründe:
I.
Der Kläger nimmt die Beklagten aus einem angeblichen Verkehrsunfall
auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.
Nach der Behauptung des Klägers fuhr er am 15. Januar 2011 mit sei-
nem PKW BMW gegen 23.20 Uhr in Langenhagen auf der linken Fahrspur der
Flughafenstraße. Der Beklagte zu 1 sei mit seinem 1993 zugelassenen PKW
Golf, der bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversichert ist, versetzt hinter ihm auf
der rechten Fahrspur gefahren. Er sei schneller als der Kläger gewesen und
habe sein Fahrzeug plötzlich nach links auf den linken Fahrstreifen gelenkt.
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Dabei habe er den PKW des Klägers übersehen und gestreift. Die Parteien zo-
gen die Polizei hinzu, die den Unfall aufnahm. Der Beklagte zu 1 räumte seinen
Verkehrsverstoß hierbei ein. Ein vom Kläger beauftragter Sachverständiger
kam zu dem Ergebnis, dass dem Kläger infolge des Unfalls Reparaturkosten in
Höhe von 25.936,59
€ entstanden seien. Der Wiederbeschaffungswert für das
Fahrzeug belaufe sich auf 30.000
€, der Restwert auf 12.000 €. Das Landge-
richt hat die Klage abgewiesen, da es sich um einen manipulierten Unfall hand-
le. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht das landgerichtli-
che Urteil aufgehoben und die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an
den Kläger 20.073,82
€ nebst Zinsen und vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten
in Höhe von 1.023,16 € zu zahlen. Die weitergehende Berufung und Klage hat
es abgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich
die Beklagte zu 2 - zugleich als Streithelferin des Beklagten zu 1 - mit der
Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544
Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückver-
weisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat
den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entschei-
dungserheblicher Weise verletzt.
a) Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass es sich bei dem
angefochtenen Urteil um eine unzulässige Überraschungsentscheidung han-
delt. Das Berufungsgericht hatte mit Verfügung vom 19. Oktober 2012 darauf
hingewiesen, dass die Berufung des Klägers unbegründet sein dürfte. Das
Landgericht sei zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass im vorliegenden Fall
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zahlreiche typische Indizien vorlägen, die für das Vorliegen eines manipulierten
Unfalls sprächen. Die Häufung derartiger manipulationstypischer Umstände
lasse keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich um einen gestellten Unfall
gehandelt haben dürfte. Hinzu komme, dass nach den Ausführungen des
Sachverständigen M. zumindest die beiden Beulen an der Beifahrertür bereits
vor dem Unfall vorhanden gewesen seien. Nach gefestigter Senatsrechtspre-
chung könne einem Geschädigten, der das Vorhandensein von Vorschäden
bestreite, wenn nach den Feststellungen des Sachverständigen keineswegs
alle geltend gemachten Unfallschäden auf das Unfallereignis, aus dem die An-
sprüche hergeleitet werden, zurückgeführt werden könnten, auch nicht Ersatz
für diejenigen Schäden zugesprochen werden, die nach dem Gutachten Folge
des Unfallereignisses sein könnten. Diese Hinweise hat das Berufungsgericht in
der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2012 wiederholt. In dem auf
diese mündliche Verhandlung ergangenen Urteil hat das Berufungsgericht ohne
Hinweis auf die zwischenzeitlich erfolgte Änderung seiner Rechtsauffassung
und ohne den Beklagten Gelegenheit zu geben, hierzu Stellung zu nehmen,
das landgerichtliche Urteil auf die Berufung des Klägers aufgehoben und der
Klage im Wesentlichen stattgegeben.
Durch diese Verfahrensweise hat das Berufungsgericht das Recht der
Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
Art. 103 Abs. 1 GG räumt dem Einzelnen das Recht ein, vor einer Entschei-
dung, die seine Rechte betrifft, zu Wort zu kommen, um Einfluss auf das Ver-
fahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Zwar muss ein Verfahrensbetei-
ligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in
Betracht ziehen und seinen Vortrag hierauf einstellen. Eine dem verfassungs-
rechtlichen Anspruch genügende Gewährleistung rechtlichen Gehörs setzt aber
voraus, dass ein Verfahrensbeteiligter bei Anwendung der von ihm zu verlan-
genden Sorgfalt erkennen kann, auf welche Gesichtspunkte es für die Ent-
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scheidung ankommen kann. Erteilt das Gericht einen rechtlichen Hinweis in
einer entscheidungserheblichen Frage, so darf es diese Frage im Urteil nicht
abweichend von seiner geäußerten Rechtsauffassung entscheiden, ohne die
Verfahrensbeteiligten zuvor auf die Änderung der rechtlichen Beurteilung hin-
gewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben (vgl.
BGH, Beschluss vom 4. Mai 2011 - XII ZR 86/10, NJW-RR 2011, 1009; BVerfG,
NJW 1996, 3202, juris Rn. 22 f.).
b) Das angegriffene Urteil beruht auch auf diesem Gehörsverstoß. Es ist
nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht seine Rechtsauffassung
überdacht hätte, wenn die Beklagten Gelegenheit gehabt hätten, auf die - nun
in der Nichtzulassungsbeschwerdebegründung vorgebrachten - gegen die
Rechtsauffassung des Berufungsgerichts sprechenden Gesichtspunkte hinzu-
weisen.
Galke
Wellner
Stöhr
von Pentz
Offenloch
Vorinstanzen:
LG Hannover, Entscheidung vom 10.05.2012 - 4 O 53/11 -
OLG Celle, Entscheidung vom 28.11.2012 - 14 U 98/12 -
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