Urteil des BGH vom 30.07.2014

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
X I I Z B 1 0 7 / 1 4
vom
30. Juli 2014
in der Betreuungssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 1896; FamFG §§ 278 Abs. 1, 280, 293
Die Feststellungen zum Ausschluss der freien Willensbestimmung müssen durch ein
Sachverständigengutachten belegt sein (im Anschluss an Senatsbeschluss vom
22. Januar 2014 - XII ZB 632/12 - FamRZ 2014, 647).
BGH, Beschluss vom 30. Juli 2014 - XII ZB 107/14 - LG Köln
AG Köln
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 30. Juli 2014 durch
den Vorsitzenden Richter Dose, die Richterin Weber-Monecke und die Richter
Schilling, Dr. Botur und Guhling
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss
der 1. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 28. Januar 2014
aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Land-
gericht zurückverwiesen.
Dem Betroffenen wird als Beschwerdeführer für das Verfahren der
Rechtsbeschwerde ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt und
die Rechtsanwaltssozietät von Gierke und Prof. Dr. Rohnke bei-
geordnet.
Beschwerdewert: 5.000
Gründe:
I.
Der Betroffene wendet sich gegen die Erweiterung der Betreuung auf
den Bereich "Geltendmachung der Rechte am Nachlass" seiner Mutter.
Im November 2011 wurde für den Betroffenen, der an einem Asperger-
Syndrom leidet, mit dessen Einverständnis eine Betreuung für die Aufgaben-
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kreise Gesundheitsfürsorge, Vertretung bei Behörden, Befugnis zum Empfang
von Post und Sicherstellung häuslicher Pflege und Versorgung eingerichtet.
Im Februar 2013 verstarb die Mutter des Betroffenen. Sie hatte zuvor
den Betroffenen testamentarisch zu 3/10 zum nicht befreiten Vorerben einge-
setzt und seine Schwester zur Testamentsvollstreckerin bestimmt. Im Testa-
ment ist geregelt, dass die Testamentsvollstreckerin dem Betroffenen aus den
Reinerträgen, die ihm gebühren, also den Nutzungen des Nachlasses, Geld
und Sachleistungen zukommen zu lassen hat, die zur Verbesserung seiner Le-
bensqualität beitragen.
Nach Bestellung eines Verfahrenspflegers und Anhörung des Betroffe-
nen hat das Amtsgericht die Betreuung auf die Geltendmachung der Rechte am
Nachlass erweitert. Das Landgericht hat die Beschwerde des Betroffenen zu-
rückgewiesen. Hiergegen wendet er sich mit seiner Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 293 Abs. 1 i.V.m. § 70 Abs. 3 Satz 1
Nr. 1 FamFG statthaft und auch sonst zulässig; sie ist auch begründet.
1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
Aufgrund des in dem ursprünglichen Betreuungsverfahren eingeholten
Sachverständigengutachtens vom 24. September 2011 stehe fest, dass der
Betroffene auch für die Geltendmachung der Rechte am Nachlass seiner Mutter
umfassend auf die Hilfe anderer angewiesen sei. Denn die Geltendmachung
dieser Rechte setze die Fähigkeit zu einem grundsätzlichen Verständnis der
rechtlichen Bedeutung dieser Angelegenheiten voraus, die dem Betroffenen
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aufgrund seiner Asperger-Erkrankung fehle. Zwar sei das Gutachten bereits
etwas mehr als zwei Jahre alt. Prognostisch sei jedoch nach der überzeugen-
den Einschätzung des Sachverständigen mit einem lebenslangen Förderungs-
bzw. Betreuungsbedarf zu rechnen.
Für den verfahrensgegenständlichen Aufgabenbereich bestehe auch ein
konkretes Betreuungsbedürfnis. Unter anderem müsse Klarheit über den Um-
fang des Nachlasses geschaffen werden, da die Testamentsvollstreckerin als
Nachlassmasse bislang ausschließlich ein Grundstück mitgeteilt habe, während
die Verfügung von Todes wegen auf das Vorhandensein weiterer Nachlassakti-
va hindeute.
Im Rahmen der persönlichen Anhörung des Betroffenen vor dem Amts-
gericht seien die Ergebnisse des Sachverständigengutachtens bestätigt wor-
den. So habe der Betroffene bestätigt, in Behördenangelegenheiten die Hilfe
seiner verstorbenen Mutter benötigt zu haben, die jetzt fortgefallen sei. Für eine
Betreuungsbedürftigkeit spreche auch, dass der Betroffene nicht von seiner
Einsetzung als nicht befreiter Vorerbe gewusst habe. Auch sei ihm die rechtli-
che Stellung eines nicht befreiten Vorerben nicht bekannt gewesen. Die Ableh-
nung der Erweiterung der Betreuung durch den Betroffenen stelle sich vor dem
Hintergrund des zuvor Gesagten nicht als Ausdruck einer freien Willensbildung
dar.
2. Dies hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
a) Zutreffend rügt die Rechtsbeschwerde, dass die vom Beschwerdege-
richt getroffenen Feststellungen zum freien Willen des Betroffenen gemäß
§ 1896 Abs. 1 a BGB nicht frei von Rechtsfehlern sind.
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aa) Nach § 1896 Abs. 1 a BGB darf gegen den freien Willen des Volljäh-
rigen ein Betreuer nicht bestellt werden. Wenn der Betroffene der Einrichtung
bzw. - wie hier - der Erweiterung einer Betreuung nicht zustimmt, ist neben der
Notwendigkeit der Maßnahme stets zu prüfen, ob die Ablehnung durch den Be-
troffenen auf einem freien Willen beruht. Das fachärztlich beratene Gericht hat
daher festzustellen, ob der Betroffene trotz seiner Erkrankung noch zu einer
freien Willensbestimmung fähig ist. Dabei ist der Begriff der freien Willensbe-
stimmung im Sinne des § 1896 Abs. 1 a BGB mit dem des § 104 Nr. 2 BGB im
Kern deckungsgleich. Die beiden entscheidenden Kriterien sind die Einsichtsfä-
higkeit des Betroffenen und dessen Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln.
Fehlt es an einem dieser beiden Elemente, liegt kein freier, sondern nur ein na-
türlicher Wille vor (Senatsbeschluss vom 22. Januar 2014 - XII ZB 632/12 -
FamRZ 2014, 647 Rn. 6).
Einsichtsfähigkeit setzt die Fähigkeit des Betroffenen voraus, im Grund-
satz die für und wider eine Betreuerbestellung sprechenden Gesichtspunkte zu
erkennen und gegeneinander abzuwägen. Dabei dürfen jedoch keine über-
spannten Anforderungen an die Auffassungsgabe des Betroffenen gestellt wer-
den. Auch der an einer Erkrankung im Sinne des § 1896 Abs. 1 BGB leidende
Betroffene kann in der Lage sein, einen freien Willen zu bilden und ihn zu äu-
ßern. Abzustellen ist jeweils auf das Krankheitsbild des Betroffenen. Wichtig ist
das Verständnis, dass ein gesetzlicher Vertreter (§ 1902 BGB) bestellt wird, der
eigenständige Entscheidungen in den ihm übertragenen Aufgabenbereichen
treffen kann. Der Betroffene muss Grund, Bedeutung und Tragweite einer Be-
treuung intellektuell erfassen können, was denknotwendig voraussetzt, dass der
Betroffene seine Defizite im Wesentlichen zutreffend einschätzen und auf der
Grundlage dieser Einschätzung die für und gegen eine Betreuung sprechenden
Gesichtspunkte gegeneinander abwägen kann (Senatsbeschluss vom 22. Janu-
ar 2014 - XII ZB 632/12 - FamRZ 2014, 647 Rn. 7 mwN).
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Ist der Betroffene zur Bildung eines klaren Urteils zur Problematik der
Betreuerbestellung in der Lage, muss ihm weiter möglich sein, nach diesem
Urteil zu handeln und sich dabei von den Einflüssen interessierter Dritter abzu-
grenzen (Senatsbeschluss vom 22. Januar 2014 - XII ZB 632/12 - FamRZ
2014, 647 Rn. 8). Dabei müssen die Feststellungen zum Ausschluss der freien
Willensbestimmung durch ein Sachverständigengutachten belegt sein (Senats-
beschluss vom 22. Januar 2014 - XII ZB 632/12 - FamRZ 2014, 647 Rn. 9
mwN).
Beruht die Entscheidung des Betroffenen gegen die Bestellung eines Be-
treuers schließlich auf einer nach den vorgenannten Maßstäben freien Willens-
bildung, muss diese Entscheidung auch dann respektiert werden, wenn die Ein-
richtung einer Betreuung für den Betroffenen objektiv vorteilhaft wäre (Senats-
beschluss vom 22. Januar 2014 - XII ZB 632/12 - FamRZ 2014, 647 Rn. 10
mwN).
bb) Diesen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht ge-
recht.
(1) Dabei ist das Beschwerdegericht im Ergebnis zu Recht davon ausge-
gangen, dass die grundsätzliche verfahrensrechtliche Verpflichtung, den Be-
troffenen anzuhören sowie ein Sachverständigengutachten einzuholen, auch im
vorliegenden Fall der Erweiterung der Betreuung i.S.v. § 293 FamFG bestan-
den hat. Zwar sieht § 293 Abs. 2 FamFG in bestimmten Fällen Verfahrenser-
leichterungen vor. Die Voraussetzungen des hier allein einschlägigen § 293
Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 FamFG, wonach es einer persönlichen Anhörung sowie der
Einholung eines Gutachtens oder ärztlichen Zeugnisses nicht bedarf, wenn die
beabsichtigte Erweiterung nicht wesentlich ist, liegen hier indes nicht vor. Denn
mit der Erweiterung der Betreuung auf die Geltendmachung der Rechte am
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Nachlass der Mutter des Betroffenen ist erstmals ein wesentlicher Teilbereich
der Vermögenssorge in die Betreuung einbezogen worden (vgl. Keidel/Budde
FamFG 18. Aufl. § 293 Rn. 7).
(2) Das Beschwerdegericht konnte sich hinsichtlich seiner Schlussfolge-
rung, der Betroffene könne keinen freien Willen bilden, allerdings nicht auf das
Sachverständigengutachten stützen. Unbeschadet der Tatsache, dass dieses in
dem ursprünglichen Betreuungsverfahren eingeholt und zum Zeitpunkt der Ent-
scheidung des Beschwerdegerichts rund zwei Jahre und vier Monate alt war,
war der Betroffene nach der damaligen Einschätzung des Sachverständigen
- wie die Rechtsbeschwerde zutreffend rügt - durchaus in der Lage, "die Trag-
weite gegenwärtig zu treffender Entscheidungen in ausreichendem Maß zu
überblicken und überwiegend auch von sinnvollen Erwägungen abhängig ma-
chen zu können"
.
Dem Gutachten ist überdies zu entnehmen, dass der Be-
troffene im Zeitpunkt seiner Begutachtung "nach psychiatrischen Kriterien als
hinreichend geschäfts- und einwilligungsfähig anzusehen" gewesen sei. Hinzu
kommt, dass der Betroffene bei seiner Anhörung vor dem Amtsgericht einge-
räumt hat, die Hilfe seiner Mutter in Behördenangelegenheiten benötigt zu ha-
ben, was auch auf eine entsprechende Einsichtsfähigkeit schließen lässt.
Bei dieser Sachlage hätte das Beschwerdegericht ein fachärztliches
Gutachten zur Frage der freien Willensbildung einholen müssen.
b) Zudem rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass das Beschwerde-
gericht den Betroffenen nicht angehört hat.
aa) Gemäß § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG ist das Beschwerdegericht grund-
sätzlich dazu verpflichtet, den Betroffenen persönlich anzuhören. Allerdings
kann es nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG von der persönlichen Anhörung abse-
hen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen worden ist und von
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einer erneuten Anhörung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (Senats-
beschluss vom 16. Oktober 2013 - XII ZB 320/13 - BtPrax 2014, 38 Rn. 6).
bb) Solche neuen Erkenntnisse waren vorliegend indes durchaus zu er-
warten. Denn wie seinem Beschluss zu entnehmen ist, hat sich das Amtsgericht
mit der Frage, ob der Betroffene hinsichtlich der Betreuungserweiterung einen
freien Willen bilden kann, nicht im Ansatz auseinandergesetzt. Vielmehr hat es
den Betroffenen nach der Anhörung noch "um Mitteilung" gebeten, falls er nicht
mit der Erweiterung der Betreuung einverstanden sei. Der Umstand, dass sich
der Betroffene dazu nicht geäußert hat, kann indes nicht als Zustimmung zur
Erweiterung gewertet werden. Dementsprechend kann der vorangegangenen
Anhörung des Betroffenen nicht entnommen werden, dass das Amtsgericht die-
se auch auf die Überprüfung des freien Willens erstreckt hat. Deshalb hätte das
Beschwerdegericht sich einen eigenen Eindruck zu der Frage bilden müssen,
ob der Betroffene einen freien Willen bilden kann.
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3. Gemäß § 74 Abs. 5 FamFG ist der angefochtene Beschluss aufzuhe-
ben. Eine abschließende Entscheidung in der Sache gemäß § 74 Abs. 6 Satz 1
FamFG ist dem Senat nicht möglich, da diese wegen der durch das Beschwer-
degericht noch durchzuführenden Ermittlungen nicht zur Endentscheidung reif
ist.
Dose
Weber-Monecke
Schilling
Botur
Guhling
Vorinstanzen:
AG Köln, Entscheidung vom 19.12.2013 - 55 XVII H 1866 -
LG Köln, Entscheidung vom 28.01.2014 - 1 T 19/14 -
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