Urteil des BGH vom 24.06.2015

Leitsatzentscheidung zu Persönliche Anhörung, Verfahrensmangel, Rüge, Überprüfung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
X I I Z B 9 8 / 1 5
vom
24. Juni 2015
in der Betreuungssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
FamFG §§ 68 Abs. 3 Satz 2, 74 Abs. 3 Satz 3, 278
a) Von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren sind in der Regel
neue Erkenntnisse im Sinne des § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG zu erwarten,
wenn der Betroffene an seinem in der amtsgerichtlichen Anhörung erklärten
Einverständnis mit einer Betreuung im Beschwerdeverfahren nicht mehr
festhält (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom 7. August 2013
- XII ZB 188/13 -
FamRZ
2013,
1800
und
vom
16. Mai
2012
- XII ZB 454/11 - FamRZ 2012, 1207).
b) Die verfahrensfehlerhaft unterbliebene Anhörung des Betroffenen ist im
Verfahren der Rechtsbeschwerde nur auf entsprechende Rüge zu berück-
sichtigen.
BGH, Beschluss vom 24. Juni 2015 - XII ZB 98/15 - LG Landshut
AG Eggenfelden
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. Juni 2015 durch den
Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Dr. Klinkhammer, Dr. Günter,
Dr. Botur und Guhling
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss
der 6. Zivilkammer des Landgerichts Landshut vom 14. Oktober
2014 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Land-
gericht zurückverwiesen.
Wert: 5.000
Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat für den Betroffenen wegen einer organischen Per-
sönlichkeitsstörung einen Berufsbetreuer (Beteiligter zu 1) mit dem Aufgaben-
kreis Vermögenssorge und Gesundheitsfürsorge mit Organisation einer ent-
sprechenden Therapie bestellt. Im Betreuungsbeschluss ist angeführt, dass die
Betreuerbestellung mit Willen des Betroffenen erfolge.
Die Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen,
ohne diesen erneut persönlich anzuhören. Dagegen richtet sich dessen Rechts-
beschwerde, mit welcher er die Aufhebung der Betreuung, hilfsweise die Bestel-
lung seiner Ehefrau als Betreuerin erstrebt.
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II.
Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung der angefochtenen Ent-
scheidung und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
1. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verfahrensfehler.
Das Landgericht hat zu Unrecht von einer erneuten persönlichen Anhörung des
Betroffenen abgesehen.
a) Das Beschwerdeverfahren bestimmt sich gemäß § 68 Abs. 3 Satz 1
FamFG nach den Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug. Das
Beschwerdegericht kann nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG unter anderem von
der Durchführung der persönlichen Anhörung des Betroffenen (§ 278 Abs. 1
Satz 1 FamFG) absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenom-
men wurde und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse
zu erwarten sind.
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist eine erneute Anhörung
im Beschwerdeverfahren immer dann erforderlich, wenn von ihr neue Erkennt-
nisse im Sinne des § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG zu erwarten sind, was in der Re-
gel dann der Fall ist, wenn der Betroffene an seinem in der amtsgerichtlichen
Anhörung erklärten Einverständnis mit einer Betreuung im Beschwerdeverfah-
ren nicht mehr festhält (Senatsbeschluss vom 16. Mai 2012 - XII ZB 454/11 -
FamRZ 2012, 1207 Rn. 21).
Gemessen hieran hätte das Beschwerdegericht den Betroffenen selbst
anhören müssen. Ausweislich des amtsgerichtlichen Beschlusses erfolgte die
Betreuerbestellung "mit Willen des Betroffenen". Davon ist für das Beschwerde-
verfahren schon deswegen auszugehen, weil das Amtsgericht dies seiner Ent-
scheidung zugrunde gelegt und sich mit der Beachtlichkeit eines entgegenste-
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henden Willens folglich nicht auseinandergesetzt hat. Dass der Betroffene wäh-
rend der Anhörung eine Beschwerde gegen die Betreuerbestellung angekündigt
habe, wie das Landgericht dem Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts ent-
nommen hat, konnte das Landgericht von der gebotenen erneuten Anhörung
des Betroffenen nicht entbinden.
b) Die unterbliebene Anhörung ist als Verfahrensmangel im Rechtsbe-
schwerdeverfahren nur auf eine entsprechende Rüge zu berücksichtigen. Ge-
mäß § 74 Abs. 3 Satz 3 FamFG darf die angefochtene Entscheidung auf Ver-
fahrensmängel, die nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sind, nur geprüft
werden, wenn die Mängel nach § 71 Abs. 3 und § 73 Satz 2 FamFG gerügt
worden sind.
aa) Die unterbliebene Anhörung stellt keinen von Amts wegen zu be-
rücksichtigenden Verfahrensmangel dar. Soweit sich einer Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG FamRZ 2015, 565 Rn. 34) möglicherweise
die Auffassung entnehmen ließe, dass das verfahrensfehlerhafte Unterbleiben
der persönlichen Anhörung des Betroffenen vom Rechtsbeschwerdegericht von
Amts wegen zu berücksichtigen sei, könnte der Senat dem nicht beitreten.
(1) Die in § 74 Abs. 3 Satz 3 FamFG getroffene gesetzliche Regelung
beschränkt die Überprüfung von Verfahrensmängeln, soweit diese nicht von
Amts wegen zu berücksichtigen sind. Während Verfahrensmängel bei der
- früheren - weiteren Beschwerde nach § 27 FGG noch umfassend zu prüfen
waren, unterliegen sie nunmehr in Angleichung an die Revision und Rechtsbe-
schwerde der Zivilprozessordnung nur noch der Nachprüfung, wenn sie in der
Rechtsbeschwerdebegründung (§ 71 Abs. 3 FamFG) oder in der Rechtsbe-
schwerdeanschlussschrift (§ 73 Abs. 2 FamFG) gerügt worden sind (vgl.
Schulte-Bunert/Weinreich/Unger FamFG 4. Aufl. § 74 Rn. 11 mwN; vgl. BGHZ
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198, 14 = NJW 2013, 3656 Rn. 24 ff. - zur Überprüfung der Anwendung aus-
ländischen Rechts).
(2) Das Unterbleiben der Anhörung stellt einen Verfahrensmangel dar.
Die durch § 278 Abs. 1 FamFG angeordnete persönliche Anhörung des Be-
troffenen in Betreuungssachen dient sowohl der Gewährung des rechtlichen
Gehörs gemäß Art. 103 GG als auch der nach § 26 FamFG gebotenen Sach-
aufklärung von Amts wegen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 2. Juli 2014
- XII ZB 120/14 - FamRZ 2014, 1543 Rn. 11 ff. und vom 26. November 2014
- XII ZB 405/14 - FamRZ 2015, 485 Rn. 5). Unterbleibt die Anhörung verfah-
rensfehlerhaft, so begründet dies in beiderlei Hinsicht einen Verfahrensmangel
im Sinn von § 74 Abs. 3 Satz 3 FamFG.
(3) Das Unterbleiben der Anhörung ist als Verfahrensmangel auch nicht
ausnahmsweise von Amts wegen zu berücksichtigen. Von Amts wegen sind nur
solche Verfahrensmängel zu berücksichtigen, die sich auf Verfahrens- und Sa-
chentscheidungsvoraussetzungen beziehen (Senatsurteil BGHZ 176, 365
= FamRZ 2008, 1409 Rn. 13 - internationale Zuständigkeit; BGH Beschluss
vom 29. April 2004 - V ZB 46/03 - NJW-RR 2004, 1294 - ordnungsgemäße Be-
setzung des Beschwerdegerichts), die Zulässigkeit der (Erst-)Beschwerde be-
treffen (vgl. BGH Beschluss vom 23. Oktober 2003 - IX ZB 369/02 - NJW 2004,
1112, 1113 mwN) oder die einen Mangel der Beschwerdeentscheidung (§ 69
FamFG) begründen (vgl. Keidel/Meyer-Holz FamFG 18. Aufl. § 74 Rn. 19 ff.).
Dagegen ist die Nachprüfung tatsächlicher Feststellungen nur auf ent-
sprechende Rüge zulässig (§ 74 Abs. 3 Satz 4 FamFG i.V.m. §§ 559 Abs. 1
Satz 2, 551 Abs. 3 Nr. 2 b ZPO; vgl. Senatsbeschluss vom 7. November 2012
- XII ZB 229/11 - FamRZ 2013, 109 Rn. 62). Auch eine Verletzung rechtlichen
Gehörs ist vom Rechtsbeschwerdegericht nur auf entsprechende Verfahrensrü-
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ge hin zu überprüfen (vgl. BGH Beschlüsse vom 11. Februar 2003
- XI ZR 153/02 - NJW-RR 2003, 1003 und vom 11. Mai 2004 - XI ZR 22/03 -
juris Rn. 7 mwN).
bb) Im vorliegenden Verfahren hat sich der Betroffene in der Rechtsbe-
schwerdeinstanz darauf berufen, dass er vom Landgericht zu Unrecht nicht an-
gehört worden sei, und damit eine ordnungsgemäße Verfahrensrüge erhoben.
2. Gemäß § 74 Abs. 5 FamFG ist der angefochtene Beschluss aufzuhe-
ben. Eine abschließende Entscheidung in der Sache gemäß § 74 Abs. 6 Satz 1
FamFG ist dem Senat nicht möglich, da diese wegen der durch das Beschwer-
degericht noch durchzuführenden persönlichen Anhörung des Betroffenen nicht
zur Endentscheidung reif ist.
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Die Zurückverweisung der Sache gibt dem Landgericht Gelegenheit, sich
unter Beachtung der Rechtsprechung des Senats (vgl. etwa Senatsbeschluss
vom 30. Juli 2014 - XII ZB 107/14 - FamRZ 2014, 1626 Rn. 12 ff.) mit den Vo-
raussetzungen einer gegen den geäußerten Willen des Betroffenen angeordne-
ten Betreuung auseinanderzusetzen, falls dieser einer Betreuung nicht nunmehr
zustimmt.
Dose
Klinkhammer
Günter
Botur
Guhling
Vorinstanzen:
AG Eggenfelden, Entscheidung vom 28.08.2014 - XVII 388/14 -
LG Landshut, Entscheidung vom 14.10.2014 - 64 T 2471/14 -
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