Urteil des BGH vom 10.02.2016

Leitsatzentscheidung zu Anhörung, Unterbringung, Psychische Krankheit, Entlassung

ECLI:DE:BGH:2016:100216BXIIZB478.15.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 478/15
vom
10. Februar 2016
in der Unterbringungssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
FamFG § 68 Abs. 3 Satz 2, §§ 319, 321, 329 Abs. 2 Satz 1
a) Im Verfahren betreffend die Verlängerung einer Unterbringungsmaßnahme
gelten sämtliche Verfahrensgarantien für die Erstentscheidung uneinge-
schränkt, insbesondere die zwingende Anhörung des Betroffenen gemäß
§ 319 FamFG (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 16. September 2015
XII ZB 250/15 FamRZ 2015, 2156).
b) In einem Unterbringungsverfahren kann das Beschwerdegericht nicht ge-
mäß § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG von einer erneuten Anhörung des Betroffe-
nen absehen, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs bei der Anhörung
des Betroffenen zwingende Verfahrensvorschriften verletzt hat (im An-
schluss an Senatsbeschluss vom 2. März 2011 XII ZB 346/10 FamRZ
2011, 805).
BGH, Beschluss vom 10. Februar 2016 - XII ZB 478/15 - LG Nürnberg-Fürth
AG Nürnberg
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Februar 2016 durch den
Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Günter, Dr. Nedden-
Boeger und Dr. Botur
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der
13. Zivilkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 10. Sep-
tember 2015 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Landgericht zu-
rückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtsgebührenfrei.
Beschwerdewert: 5.000
Gründe:
I.
Die 70-jährige Betroffene befindet sich wegen einer schweren Alkohol-
abhängigkeit mit organisch bedingter Wesensveränderung seit 2012 mit einzel-
nen Unterbrechungen in der geschlossenen Unterbringung.
Am 20. Februar 2015 beantragte die Betreuerin die Verlängerung der
Unterbringungsgenehmigung. In der Anhörung vor dem Amtsgericht am 12. Mai
2015 wurde als Alternative zur weiteren dauernden Unterbringung der Betroffe-
nen deren Entlassung in ihr häusliches Umfeld unter Beaufsichtigung durch ei-
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ne 24-Stunden-Pflegekraft erörtert. Während die Betroffene ihre häusliche Be-
aufsichtigung zunächst vehement ablehnte, wurde schließlich vereinbart, die
Unterbringung um (nur) drei Monate zu verlängern, um während dieser Zeit ei-
ne Pflegekraft zu suchen, die sich um die Betroffene kümmern könne. Sollte
dies funktionieren, solle der dreimonatige Unterbringungsbeschluss ersatzlos
auslaufen. Der Abrede entsprechend verlängerte das Amtsgericht die Unter-
bringung mit Beschluss vom 13. Mai 2015 für drei Monate bis zum 13. August
2015.
Nachdem die Betroffene am 28. Mai 2015 einen Suizidversuch begangen
hatte, hat das Amtsgericht durch Beschluss vom 7. Juli 2015 die geschlossene
Unterbringung bis längstens 12. Mai 2016 genehmigt, ohne ein neues Gutach-
ten einzuholen und ohne die Betroffene erneut anzuhören. Das Landgericht hat
die dagegen eingelegte Beschwerde der Betroffenen und des für sie bestellten
Verfahrenspflegers zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbe-
schwerde der Betroffenen.
II.
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
Ausweislich der Feststellungen des Sachverständigen liege bei der Betroffenen
eine schwere Alkoholabhängigkeit vor. Ihre äthyltoxisch bedingten hirnorgani-
schen Teilleistungsstörungen entsprächen einer seelischen Behinderung; ihre
Persönlichkeitsstörung sei als psychische Krankheit zu klassifizieren. Aufgrund
ihrer erheblich beeinträchtigten Kritik- und Urteilsfähigkeit und Realitätswahr-
nehmung, verbunden mit Selbstüberschätzung und dem Unvermögen, sachlich
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und realitätsgerecht abzuwägen, sei sie nicht geschäftsfähig und zu einer freien
Willensbildung nicht in der Lage. Sie verleugne im Sinne eines psychischen
Abwehrmechanismus ganz überwiegend ihr süchtiges Verhalten und nehme die
wiederholten Rückfälle und damit verbundene Risiken nicht wahr mit der Folge
einer verzerrten Realitätswahrnehmung. Aufgrund der formalen Denkstörungen
vermöge sie sich mit logischen Argumenten nicht flexibel auseinanderzusetzen,
sondern beharre sehr rigide auf ihren Standpunkten. Bei einer Rückkehr in den
häuslichen Bereich würde sie sich dem Alkoholkonsum hingeben. Es bestehe
ein hohes Selbstgefährdungspotenzial; in der Vergangenheit sei es immer wie-
der zu einem zeitweilig exzessiven Alkoholkonsum gekommen. Die Betroffene
sei mehrfach in hilflosem Zustand aufgefunden worden. Derartige Vorfälle wür-
den sich bei einer Rückkehr in ihre Wohnung mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit wiederholen. Sofern sie nicht durch somatische Komplikati-
onen oder durch einen Sturz zu Tode komme, würde eine Fortsetzung ihres
Alkoholkonsums früher oder später zu einem geistigen Verfall führen. Zwar
könne sie kurzfristig abstinent bleiben und passe sich insbesondere deswegen
der Situation vordergründig an, um die Unterbringung und die Betreuung zu
vermeiden. Dies werde ihr jedoch nicht dauerhaft gelingen, da sie überwiegend
ihr Suchtverhalten leugne sowie Krankheitseinsicht und Therapiemotivation
nicht bestünden. Die Betroffene müsse daher weiterhin zu ihrem Wohle in der
beschützenden Abteilung eines Pflegeheims zu ihrem Selbstschutz unterge-
bracht werden. Eine dauerhafte Abstinenz sei nur durch die dauerhafte ge-
schlossene Unterbringung mit Freiheitsentziehung zu erzielen.
Ihren Suizidversuch am 28. Mai 2015 habe sie unternommen, um eine
Rückkehr in ihr häusliches Umfeld ohne 24-Stunden-Beaufsichtigung zu er-
pressen. Nach diesem Vorfall könne der Versuch ihrer Entlassung in das häus-
liche Umfeld nicht weiter verfolgt werden. Soweit die Betroffene sich im Nach-
gang zu dem Vorfall wieder mit einer 24-Stunden-Pflegekraft einverstanden er-
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klärt habe, sei dies nur erfolgt, um eine positive Entscheidung des Gerichts zu
erlangen. In Wahrheit wolle sie dringlich alleine in die Wohnung zurückkehren.
Nach dem Suizidversuch der Betroffenen gerade wegen der Auflage einer
24-Stunden-Beaufsichtigung scheide diese Möglichkeit nunmehr aus.
2. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts hält einer rechtlichen
Überprüfung nicht stand. Sie ist - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt -
verfahrensfehlerhaft ergangen.
a) Gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 FamFG gelten für die Verlängerung der
Genehmigung oder Anordnung einer Unterbringungsmaßnahme die Vorschrif-
ten für die erstmalige Anordnung oder Genehmigung entsprechend. Das bedeu-
tet, dass sämtliche Verfahrensgarantien für die Erstentscheidung uneinge-
schränkt auch im Verlängerungsverfahren gelten, insbesondere die zwingende
Anhörung des Betroffenen gemäß § 319 FamFG sowie die Einholung eines
Sachverständigengutachtens zum (Fort-)Bestehen der Unterbringungsvoraus-
setzungen gemäß § 321 FamFG (Senatsbeschluss vom 16. September 2015
- XII ZB 250/15 - FamRZ 2015, 2156 Rn. 10 mwN).
b) Das gesamte Verfahren leidet unter einem schwerwiegenden Verfah-
rensfehler.
aa) Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbrin-
gungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten
Anhörung des Betroffenen abzusehen, etwa wenn die erstinstanzliche Anhö-
rung des Betroffenen nur kurze Zeit zurückliegt, sich nach dem Akteninhalt kei-
ne neuen entscheidungserheblichen Tatsachen oder rechtliche Gesichtspunkte
ergeben, das Beschwerdegericht das in den Akten dokumentierte Ergebnis der
erstinstanzlichen Anhörung nicht abweichend werten will und es auf den per-
sönlichen Eindruck des Gerichts von dem Betroffenen nicht ankommt. Im Be-
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schwerdeverfahren kann allerdings nicht von einer Wiederholung solcher Ver-
fahrenshandlungen abgesehen werden, bei denen das Gericht des ersten
Rechtszugs zwingende Verfahrensvorschriften verletzt hat. In diesem Fall muss
das Beschwerdegericht, vorbehaltlich der Möglichkeiten nach § 69 Abs. 1
Satz 2 und 3 FamFG, den betreffenden Teil des Verfahrens nachholen oder das
gesamte Verfahren wiederholen. Die Anhörung des Betroffenen in Unterbrin-
gungsverfahren nach § 319 Abs. 1 FamFG dient der Verwirklichung der in
Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG garantierten Rechte eines Betroffenen in Freiheits-
entziehungssachen. Die Anhörung des Betroffenen nach § 319 Abs. 1 FamFG
vor der Entscheidung über die Unterbringung gehört zu den wesentlichen
Förmlichkeiten i.S.v. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Verfahrensfehler bei der Durch-
führung der Anhörung verletzen den Betroffenen deshalb nicht nur in seinem
Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG, son-
dern auch in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG
(vgl. Senatsbeschluss vom 2. März 2011 - XII ZB 346/10 - FamRZ 2011, 805
Rn. 13 f. mwN).
Das Amtsgericht hat entgegen § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG die Betroffe-
ne vor der erneuten Verlängerung der Unterbringungsmaßnahme nicht persön-
lich angehört. Zwar ist die Betroffene zuletzt am 12. Mai 2015 angehört worden
mit dem Ergebnis einer Verlängerung der Unterbringungsgenehmigung, jedoch
nicht wie vom Sachverständigen vorgeschlagen um ein Jahr, sondern (nur) um
drei Monate, um ihre Entlassung in das häusliche Umfeld unter Beaufsichtigung
durch eine 24-Stunden-Pflegekraft vorzubereiten. Nachdem dieses Konzept in-
folge des zwischenzeitlichen Suizidversuchs aus der Sicht des Amtsgerichts
gescheitert war, hätte die Betroffene zu den neuen Umständen, die eine weitere
Verlängerung ihrer Unterbringung begründeten, erneut angehört werden müs-
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bb) Weil die Entscheidung des Amtsgerichts vom 7. Juli 2015 ein Verfah-
ren zur Verlängerung der Unterbringung im Sinne des § 329 Abs. 2 Satz 1
FamFG betrifft, hätten die Instanzgerichte gemäß § 321 FamFG außerdem ein
neues Sachverständigengutachten einholen müssen.
c) Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen,
weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Be-
deutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Dose
Schilling
Günter
Nedden-Boeger
Botur
Vorinstanzen:
AG Nürnberg, Entscheidung vom 07.07.2015 - XVII 2386/03 -
LG Nürnberg-Fürth, Entscheidung vom 10.09.2015 - 13 T 6170/15 -
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