Urteil des BGH vom 28.07.2015

Leitsatzentscheidung zu Unterbringung, Freiheitsentziehung, Pflegepersonal, Vollzug

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
X I I Z B 4 4 / 1 5
vom
28. Juli 2015
in der Familiensache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB §§ 1906 Abs. 4
a) Auch im Rahmen einer genehmigten Unterbringung nach § 1906 Abs. 1
BGB bedarf es der gesonderten betreuungsgerichtlichen Genehmigung
nach § 1906 Abs. 4 BGB, wenn dem Betroffenen durch mechanische Vor-
richtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren
Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll (im Anschluss
an Senatsbeschluss vom 12. September 2012 - XII ZB 543/11 - FamRZ
2012, 1866).
b) Ohne ausdrücklichen Antrag des Betreuers kann eine unterbringungsähn-
liche Maßnahme nur genehmigt werden, wenn sich aus dem Verhalten
des Betreuers ergibt, dass er die Genehmigung wünscht.
BGH, Beschluss vom 28. Juli 2015 - XII ZB 44/15 - LG Chemnitz
AG Freiberg
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. Juli 2015 durch den
Vorsitzenden Richter Dose, die Richterin Weber-Monecke und die Richter
Schilling, Dr. Günter und Dr. Nedden-Boeger
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des weiteren Beteiligten zu 2 wird der
Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Chemnitz vom
16. Januar 2015 aufgehoben.
Auf die Beschwerde des weiteren Beteiligten zu 2 wird Ziffer 2 des
Beschlusses des Amtsgerichts Freiberg vom 21. Oktober 2014
aufgehoben.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtsgebührenfrei.
Gründe:
I.
Der Beteiligte zu 2 wendet sich als Verfahrenspfleger gegen die betreu-
ungsgerichtliche Genehmigung einer unterbringungsähnlichen Maßnahme für
den Betroffenen.
Für diesen besteht seit November 2000 eine rechtliche Betreuung u. a. mit
den Aufgabenkreisen Aufenthaltsbestimmung und Sorge für die Gesundheit. Im
März 2013 hat der Betreuer beantragt, die Unterbringung des Betroffenen, der zu
diesem Zeitpunkt in einer offenen Pflegeinrichtung gelebt hat, betreuungsgericht-
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lich zu genehmigen. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und
Anhörung des Betroffenen hat das Amtsgericht die Unterbringung des Betroffe-
nen in der geschlossenen Abteilung eines fachpsychiatrischen Krankenhauses
oder einer geschlossen geführten Pflegeeinrichtung für die Dauer von zwei Jah-
ren genehmigt (Ziffer 1). Ferner heißt es in Ziffer 2 des Tenors der Entscheidung:
"Die zeitweise oder regelmäßige Freiheitsentziehung des Betroffe-
nen durch
– Verschließen der Zimmertür
wird bis zum 21.10.2016 durch die Unterbringungsanordnung mit-
umfasst und bedarf keiner weiteren gesonderten gerichtlichen Ge-
nehmigung. Der Betreuer und der anordnende Arzt haben sich je-
doch vor und während der Maßnahme jeweils von deren Unbe-
denklichkeit und davon zu überzeugen, dass sich die Beschrän-
kung der Freiheit des Betroffenen nur auf ein unbedingt erforderli-
ches Maß erstreckt, eine schriftliche Aufzeichnung über Art und
Dauer erstellt wird und das Pflegepersonal für den Betroffenen stets
erreichbar sein muss."
Zugleich hat das Amtsgericht den Beteiligten zu 2 zum Verfahrenspfleger
bestellt. Dessen Beschwerde hat es abgeholfen, soweit sich das Rechtsmittel
gegen die Bezeichnung der Art der Unterbringungseinrichtung in Ziffer 1 des Ent-
scheidungsausspruchs gerichtet hat. Die weitergehende Beschwerde, mit der
sich der Beteiligte zu 2 gegen die Anordnungen in Ziffer 2 des Tenors wendet,
hat das Landgericht zurückgewiesen.
Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Beteiligte zu 2 weiterhin die Auf-
hebung der in Ziffer 2 des angefochtenen amtsgerichtlichen Beschlusses ge-
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troffenen Anordnungen, die sich auf die zeitweise oder regelmäßige Freiheitsent-
ziehung des Betroffenen durch Verschließen der Zimmertür beziehen.
II.
Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt:
Die in Rechtsprechung und Literatur diskutierte Rechtsfrage, ob der Ge-
nehmigungsvorbehalt nach § 1906 Abs. 4 BGB auch dann gelte, wenn die unter-
bringungsähnliche Maßnahme eine bereits untergebrachte Person betreffe, sei
durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geklärt. Der Bundesgerichts-
hof habe es als zulässig erachtet, dass die regelmäßige Freiheitsentziehung des
untergebrachten Betroffenen durch mechanische Vorrichtungen in entsprechen-
der Anwendung des § 1906 Abs. 4 BGB genehmigt werden könne.
Diese Frage stelle sich im vorliegenden Fall jedoch nicht als Problem dar.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers habe der Betreuungsrichter in
Ziffer 2 des Tenors den Umfang der von ihm getroffenen Unterbringungsanord-
nung genau beschrieben. Er habe die freiheitsentziehende Maßnahme, deren
Dauer, die Pflichten von Betreuer, Arzt und Pflegepersonal zur Begrenzung der
Maßnahme und die Pflicht zur Dokumentation sowie zur ständigen Erreichbarkeit
genau bezeichnet. Der Betreuungsrichter habe damit für die handelnden Verfah-
rensbeteiligten präzise die Befugnisse im Rahmen der Unterbringung benannt. Er
habe damit eine unterbringungsähnliche Maßnahme gemäß § 1906 Abs. 4 BGB
einer richterlichen Kontrolle unterworfen und für zulässig erachtet. Der entgegen-
stehende Inhalt der Beschlussbegründung könne daran nichts ändern, weil nur
die Beschlussformel maßgeblich sei. Danach handele es sich um eine Genehmi-
gung nach § 1906 Abs. 4 BGB.
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2. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht in allen
Punkten stand.
a) Zutreffend ist das Beschwerdegericht allerdings davon ausgegangen,
dass die zeitweise oder regelmäßige Freiheitsentziehung des nach § 1906 Abs. 1
BGB untergebrachten Betroffenen durch Verschließen der Zimmertür als frei-
heitsbeschränkende
Maßnahme
(vgl.
hierzu
Senatsbeschluss
vom
7. Januar 2015 - XII ZB 395/14 - FamRZ 2015, 567 Rn. 22; BT-Drucks. 11/4528
S. 149) gemäß § 1906 Abs. 4 BGB der betreuungsgerichtlichen Genehmigung
bedarf.
Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass es auch im Rahmen ei-
ner genehmigten Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB der gesonderten be-
treuungsgerichtlichen Genehmigung nach § 1906 Abs. 4 BGB bedarf, wenn dem
Betroffenen durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere
Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen wer-
den soll (Senatsbeschlüsse vom 15. September 2010 - XII ZB 383/10 - FamRZ
2010, 1726 Rn. 27; vom 12. September 2012 - XII ZB 543/11 - FamRZ 2012,
1866 Rn. 14 und BGHZ 166, 141, 153 = FamRZ 2006, 615, 618). Zwar sieht der
Wortlaut des § 1906 Abs. 4 BGB eine Genehmigungspflicht für unterbringungs-
ähnliche Maßnahmen nur für Betreute vor, die sich in einer Anstalt, einem Heim
oder einer sonstigen Einrichtung aufhalten, ohne untergebracht zu sein. Da die
Unterbringung den Betroffenen im Einzelfall jedoch regelmäßig weniger beein-
trächtigt als eine zusätzliche freiheitsentziehende Maßnahme iSv § 1906 Abs. 4
BGB, ist letztere stets auch dann gesondert gerichtlich zu genehmigen, wenn der
Betroffene nach § 1906 Abs. 1 bis 3 BGB untergebracht ist (Senatsbeschluss
vom 12. September 2012 - XII ZB 543/11 - FamRZ 2012, 1866 Rn. 14 mwN).
Diese Sichtweise entspricht auch der ganz überwiegenden Auffassung in der
Rechtsprechung und dem Schrifttum (OLG Frankfurt FamRZ 2007, 673; OLG
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München FamRZ 2005, 1196; OLG Düsseldorf FamRZ 1995, 118; BayObLG
FamRZ 1994, 721, 722; Staudinger/Bienwald BGB [2013] § 1906 Rn. 94;
Palandt/Götz BGB 74. Aufl. § 1906 Rn. 34; Jürgens/Marschner Betreuungsrecht
5. Aufl. § 1906 BGB Rn. 39; BeckOK BGB/Gabriele Müller [Stand: November
2014] § 1906 Rn. 21; Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann Betreuungsrecht 5. Aufl.
§ 1906 BGB Rn. 80; a. A. LG Baden-Baden FamRZ 2010, 1471; LG Ulm FamRZ
2010, 1764; LG Freiburg FamRZ 2010, 1846).
b) Die zeitweise oder regelmäßige Freiheitsentziehung des Betroffenen
durch Verschließen der Zimmertür durfte jedoch deshalb nicht betreuungsrecht-
lich genehmigt werden, weil weder den Feststellungen der Instanzgerichte zu
entnehmen noch sonst ersichtlich ist, dass der Betreuer das Verschließen der
Zimmertür des Betroffenen begehrt, geschweige denn die Genehmigung hierzu
beantragt hat. Dies ist aber notwendige Voraussetzung für eine Entscheidung
nach § 1906 Abs. 4 BGB (Senatsbeschluss vom 15. September 2010
- XII ZB 383/10 - FamRZ 2010, 1726 Rn. 27).
Dabei kann dahinstehen, ob das Genehmigungsverfahren nach § 1906
BGB einen förmlichen Antrag des Betreuers voraussetzt (ablehnend Staudinger/
Bienwald BGB [2013] § 1906 Rn. 131; MünchKommBGB/Schwab 6. Aufl. § 1906
Rn. 57; Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann Betreuungsrecht 5. Aufl. § 1906 BGB
Rn. 180; bejahend NK-BGB/Heitmann 2. Aufl. § 1906 Rn. 34, 64; vgl. auch
BVerfG FamRZ 2009, 945 Rn. 17 zur Notwendigkeit eines Antrags des Vorsor-
gebevollmächtigten nach §§ 1906 Abs. 5 Satz 2, Abs. 4 BGB). Da das Gericht
nach § 1906 BGB nur die Genehmigung zu einer vom Betreuer beabsichtigten
Maßnahme erteilt, dieser für den Vollzug der Maßnahme indes allein verantwort-
lich bleibt (vgl. Jürgens/Marschner Betreuungsrecht 5. Aufl. § 1906 BGB Rn. 27;
BeckOK BGB/Gabriele Müller [Stand: November 2014] § 1906 Rn. 18), muss
zumindest aus dem Verhalten des Betreuers ersichtlich sein, dass er die Ge-
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nehmigung der Unterbringung oder unterbringungsähnlichen Maßnahme
wünscht (BayObLG FamRZ 2000, 566, 567; MünchKommBGB/Schwab 6. Aufl.
§ 1906 Rn. 57).
Dies lässt sich den bisher getroffenen Feststellungen nicht entnehmen.
Der Betreuer hat mit Schreiben vom 28. März 2013 und 21. Mai 2014 nur bean-
tragt, den Betroffenen in einer geschlossenen Wohnstätte unterzubringen. In bei-
den Schreiben finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Betreuer auch
beabsichtigte, gegenüber der Unterbringungseinrichtung sein Einverständnis zu
einem - regelmäßigen oder über einen längeren Zeitraum andauernden - zusätz-
lichen Verschließen der Zimmertür des Betroffenen zu erteilen. Das Amtsgericht
hat diese freiheitsentziehende Maßnahme nur deshalb für erforderlich erachtet,
weil der zur Vorbereitung der Entscheidung beauftragte Sachverständige einen
Einschluss des Betroffenen bei starken Erregungs- oder Unruhezuständen für
eine geeignete und notwendige Interventionsmaßnahme gehalten hat. Dass sich
der Betreuer diese Einschätzung zu Eigen gemacht hat und über die bloße Un-
terbringung des Betroffenen hinaus auch eine Genehmigung für einen entspre-
chenden Einschluss des Betroffenen in seinem Zimmer wünschte, ist nicht fest-
gestellt.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Betreuer in der
Vergangenheit wiederholt die Genehmigung freiheitsbeschränkender Maßnah-
men in Form des zeitweisen Einschließens des Betroffenen in seinem Zimmer
beantragt hat. In dieser Zeit hielt sich der Betroffene in einer offenen Pflege- und
Behinderteneinrichtung auf. Im vorliegenden Fall hat der Betreuer jedoch erst-
mals die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung beantragt, weil der
Betroffene in dem bisherigen Pflegeheim für das Personal nicht mehr führbar
war. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Betreuer mit der erstmali-
gen Unterbringung des Betroffenen in einer geschlossenen Einrichtung die Er-
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wartung verbunden hat, auf ein regelmäßiges oder über einen längeren Zeitraum
andauerndes zusätzliches Verschließen des Zimmers könne nunmehr verzichtet
werden, durfte das Beschwerdegericht nicht davon ausgehen, dass der Betreuer
auch die Genehmigung dieser zusätzlichen freiheitsbeschränkenden Maßnahme
wünscht.
3. Danach kann die angegriffene Entscheidung keinen Bestand haben.
Der Senat kann in der Sache selbst befinden, weil diese zur Endentscheidung
reif ist (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG).
Dose
Weber-Monecke
Schilling
Günter
Nedden-Boeger
Vorinstanzen:
AG Freiberg, Entscheidung vom 21.10.2014 - 2 XVII 394/07 -
LG Chemnitz, Entscheidung vom 16.01.2015 - 3 T 717/14 -
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