Urteil des BGH vom 22.08.2012

Leitsatzentscheidung zu Treu Und Glauben, Ausbildung, Vergütung, Produktion, Betriebswirtschaft

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 319/11
vom
22. August 2012
in der Betreuungssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
VBVG § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2
Zu den die Betreuervergütung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VBVG erhöhenden be-
sonderen, für die Betreuung nutzbaren Kenntnissen.
BGH, Beschluss vom 22. August 2012 - XII ZB 319/11 - LG Frankfurt (Oder)
AG Bernau
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. August 2012 durch
den Vorsitzenden Richter Dose, die Richterin Dr. Vézina und die Richter
Dr. Klinkhammer, Schilling und Dr. Nedden-Boeger
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 9. Zivilkammer
des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 31. Mai 2011 wird auf Kos-
ten der Beteiligten zu 1 zurückgewiesen.
Beschwerdewert: 510
Gründe:
I.
Die Beteiligte zu 1 wurde 2003 zur Berufsbetreuerin der Betroffenen be-
stellt. Ihre Aufgabenkreise umfassen die Gesundheits- und Vermögenssorge,
die Aufenthaltsbestimmung, die Geltendmachung von Ansprüchen auf Rente,
Sozialhilfe, Pflegegeld, Vertretung vor Behörden, die Regelung von Heimange-
legenheiten und von erbrechtlichen Angelegenheiten.
Die Beteiligte hatte in der ehemaligen DDR einen Studienabschluss in
der Fachrichtung "Soziale Betriebswirtschaft/Ingenieurökonomie der elektro-
technischen und elektronischen Industrie" erworben.
Am 22. April 1999 erkannte das Kultusministerium des Landes Sachsen-
Anhalt ihr die Berechtigung zu, den Grad einer Diplombetriebswirtin zu führen.
Gleichzeitig bescheinigte es die Gleichwertigkeit des Studienabschlusses im
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Sinne von Art. 37 Abs. 1 Satz 2 des Einigungsvertrages mit einem Fachhoch-
schulabschluss.
Für den Abrechnungszeitraum vom 28. September 2009 bis zum
27. September 2010 beantragte die Betreuerin die Festsetzung einer pauscha-
len, aus dem Vermögen des Betroffenen zu erstattenden Vergütung auf der
Grundlage eines Stundensatzes von 44
,
der ihr seit Inkrafttreten des Zweiten
Betreuungsrechtsänderungsgesetzes am 1. Juli 2005 zugebilligt worden war.
Das Amtsgericht hat dem Antrag unter Zugrundelegung eines Stunden-
satzes von 27
€ stattgegeben und ihn im Übrigen zurückgewiesen. Die dagegen
gerichtete Beschwerde der Betreuerin ist erfolglos geblieben. Mit der vom
Landgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt sie ihren Vergütungsan-
trag in voller Höhe weiter.
II.
Die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde ist statthaft
(§ 70 Abs. 1 FamFG) und auch im Übrigen zulässig. Sie hat jedoch in der Sa-
che keinen Erfolg.
1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt,
der von der Betreuerin abgelegte Fachschulabschluss stehe zwar nach der Ur-
kunde des Kultusministeriums des Landes Sachsen-Anhalt vom 22. April 1999
einem Studium an einer Fachhochschule gleich. Dieses Studium sei jedoch in
seinem Kernbereich nicht auf die Vermittlung für eine Betreuung nutzbarer
Fachkenntnisse, sondern allgemein darauf gerichtet gewesen, wirtschaftliche
Fragen und Zusammenhänge, Fragen der Organisation und Planung unter Ein-
beziehung technischer und politischer Aspekte der elektrotechnischen und
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elektronischen Industrie zu erlernen. Folgende Themen seien die Schwerpunkte
im Fach Sozialistische Betriebswirtschaft gewesen: Wissenschaftlich-techni-
sche Vorbereitung der Produktion, die konstruktive, technologische und organi-
satorische Vorbereitung der Produktion, Finanzierung und Stimulation wissen-
schaftlich-technischer Leistungen, Planung der wissenschaftlich-technischen
Vorbereitung der Produktion und Durchführung der Produktion. Es erschließe
sich nicht, dass dadurch besondere betreuungsrelevante Kenntnisse erworben
worden seien. Allein daraus, dass in einzelnen Fächern des Studiums teilweise
für die Betreuung nutzbringendes Wissen vermittelt worden sei, folge nicht,
dass durch die Ausbildung eine besondere Kenntnisvermittlung im Sinne von
§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VBVG erfolgt sei. Es fehle insoweit an einer konkreten
Schwerpunktbildung. Dass ein Hochschulstudium den Absolventen regelmäßig
besondere Fähigkeiten verleihe, die das Verständnis komplexerer Zusammen-
hänge und ein präzises, zielorientiertes Arbeiten ermöglichten, werde nicht ver-
kannt. Diese Fähigkeiten könnten aber nicht zur Erhöhung der Vergütung füh-
ren, solange nicht feststehe, dass der Gegenstand des Studiums gerade auch
auf die Vermittlung von für das Betreuungsverfahren unmittelbar nutzbarem
Wissen bzw. nutzbarer Fertigkeiten gerichtet gewesen sei.
2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung stand.
a) Ob ein Berufsbetreuer im Einzelfall die Voraussetzungen für eine er-
höhte Vergütung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VBVG erfüllt, unterliegt einer
wertenden Betrachtungsweise des Tatrichters. Dessen Würdigung kann im
Rechtsbeschwerdeverfahren nur eingeschränkt darauf überprüft werden, ob er
die maßgebenden Tatsachen vollständig und fehlerfrei festgestellt und gewür-
digt, Rechtsbegriffe verkannt oder Erfahrungssätze verletzt und die allgemein
anerkannten Maßstäbe berücksichtigt und richtig angewandt hat (vgl. Senats-
beschluss vom 26. Oktober 2011 - XII ZB 312/11 - FamRZ 2012, 113 Rn. 10).
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b) Einer solchen Überprüfung hält die tatrichterliche Würdigung des Be-
schwerdegerichts, nach der die Betreuerin die Voraussetzungen für eine Erhö-
hung des Stundensatzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 VBVG nicht erfüllt, stand.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VBVG erhält der Betreuer einen auf 44
erhöhten Stundensatz, wenn er über besondere, für die Betreuung nutzbare
Kenntnisse verfügt, die er durch eine abgeschlossene Ausbildung an einer
Hochschule oder durch eine vergleichbare abgeschlossene Ausbildung erwor-
ben hat.
aa) Zu Recht ist das Beschwerdegericht davon ausgegangen, dass der
von der Betreuerin in der ehemaligen DDR erzielte Studienabschluss in der
Fachrichtung soziale Betriebswirtschaft/Ingenieurökonomie der elektrotechni-
schen und elektronischen Industrie einem Fachhochschulabschluss gleichsteht.
Nach Art. 37 Abs. 1 des Einigungsvertrages (EV) stehen in der ehemali-
gen DDR erworbene Bildungsabschlüsse den in den alten Bundesländern ab-
geschlossenen Ausbildungen gleich und verleihen die gleichen Berechtigungen,
wenn die Ausbildungen gleichwertig sind, wobei die Gleichwertigkeit auf Antrag
von der jeweils zuständigen Stelle festgestellt wird.
Eine solche Feststellung ist hier erfolgt. Das Kultusministerium des Lan-
des Sachsen-Anhalt hat bescheinigt, dass der von der Betreuerin in der ehema-
ligen DDR erzielte Studienabschluss in der Fachrichtung soziale Betriebswirt-
schaft/Ingenieurökonomie der elektrotechnischen und elektronischen Industrie
im Sinne von Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EV einem Fachhochschulabschluss gleich-
steht und die Betreuerin berechtigt den Grad einer Diplom Betriebswirtin zu füh-
ren.
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bb) Auch die Annahme des Beschwerdegerichts, die durch das Studium
der Betreuerin vermittelten Kenntnisse seien nicht für die Betreuung nutzbar, ist
rechtlich nicht zu beanstanden.
(1) Besondere für die Betreuung nutzbare Kenntnisse sind über das je-
dermann zu Gebote stehende Wissen hinausgehende Kenntnisse, die den
Betreuer in die Lage versetzen, seine Aufgaben zum Wohl des Betreuten bes-
ser und effektiver zu erfüllen (Senatsbeschluss vom 18. Januar 2012
- XII ZB 409/10 - FamRZ 2012, 629 Rn. 10; vgl. BT-Drucks. 13/7158 S. 14, 15).
Solche Kenntnisse sind im Hinblick darauf, dass es sich bei der Betreu-
ung um eine rechtliche Betreuung handelt (§ 1901 Abs. 1 BGB), regelmäßig
Rechtskenntnisse. Auch sind angesichts der Pflichten des Betreuers, auf den
Willen des Betreuten einzugehen, um seine Wünsche zu erkennen und ihnen
weitgehend zu entsprechen (§ 1901 Abs. 2, Abs. 3 BGB) Fachkenntnisse, die
den Umgang mit und das Verständnis für die besondere Situation von psy-
chisch Kranken oder Behinderten fördern, als für die Betreuung nutzbar anzu-
sehen (MünchKommBGB/Fröschle 6. Aufl. § 4 VBVG Rn. 11). Im Übrigen sind
Fachkenntnisse, die die Betreuung für einen Aufgabenkreis erleichtern, wie
medizinische Kenntnisse für den Aufgabenkreis der Gesundheitssorge und
wirtschaftliche Kenntnisse im Bereich der Vermögenssorge für die Betreuung
nutzbar.
Nach Sinn und Zweck des § 4 Abs. 1 Satz 2 VBVG ist ein erhöhter Stun-
densatz jedoch nicht bereits gerechtfertigt, wenn die Ausbildung gleichsam am
Rande auch die Vermittlung betreuungsrelevanter Kenntnisse zum Inhalt hat.
Erforderlich ist vielmehr, dass sie in ihrem Kernbereich hierauf ausgerichtet ist.
Davon ist auszugehen, wenn ein erheblicher Teil der Ausbildung auf die Ver-
mittlung solchen Wissens gerichtet und dadurch das erworbene betreuungsre-
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levante Wissen über ein Grundwissen deutlich hinausgeht (vgl. Senatsbe-
schlüsse vom 8. Februar 2012 - XII ZB 231/11 - juris Rn. 10 und vom 2. Mai
2012 - XII ZB 393/11 - juris Rn. 11).
(2) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat das Beschwerdegericht
zu Recht die von der Beteiligten durch das Studium vermittelten Kenntnisse als
nicht betreuungsrelevant bewertet.
Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts entfiel kein erhebli-
cher Teil der - auch nach Ansicht der Rechtsbeschwerde technisch ausgerichte-
ten - Ausbildung auf betreuungsrelevante Fächer. Es ist deshalb nicht zu bean-
standen, dass das Beschwerdegericht die nur in untergeordnetem Umfang be-
treuungsrelevanten Fächer als nicht zum Kernbereich des Studiums gehörend
angesehen hat.
(3) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde war das Betreuungsge-
richt auch nicht nach Treu und Glauben unter dem Gesichtspunkt des Vertrau-
ensschutzes verpflichtet, an den in früheren Festsetzungsbeschlüssen der Be-
teiligten zugebilligten Stundensatz von 44
€ für die Zukunft festzuhalten.
Es musste vielmehr auf den neu gestellten Vergütungsfestsetzungsan-
trag erneut das Vorliegen der Voraussetzungen für die Höhe der Vergütung prü-
fen. Nachdem es dabei abweichend von seiner früheren Wertung zu dem Er-
gebnis gelangt ist, dass die Beteiligte die Voraussetzungen für eine Erhöhung
des Stundensatzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 VBVG nicht erfüllt, war es seine
Aufgabe, diese gewonnene bessere Erkenntnis umzusetzen (vgl. Senatsbe-
schluss vom 8. Februar 2012 - XII ZB 231/11 - juris Rn. 14 ff.). Die Beteiligte
konnte deshalb nicht davon ausgehen, dass ihr der einmal vergütete Stunden-
satz auch in Zukunft wieder zuerkannt wird. Sie musste auch schon früher stets
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damit rechnen, dass der vom Betreuungsgericht zugebilligte Stundensatz bei
einer Überprüfung durch das Beschwerdegericht herabgesetzt wird.
Dose
Vézina
Klinkhammer
Schilling
Nedden-Boeger
Vorinstanzen:
AG Bernau, Entscheidung vom 20.12.2010 - 20 XVII 152/03 -
LG Frankfurt (Oder), Entscheidung vom 31.05.2011 - 19 T 74/11 -