Urteil des BGH vom 02.03.2016

Leitsatzentscheidung zu Persönliche Anhörung, Psychiatrisches Gutachten, Unterbringung, Genehmigung

ECLI:DE:BGH:2016:020316BXIIZB258.15.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 258/15
vom
2. März 2016
in der Betreuungssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
FamFG § 319 Abs. 1 und Abs. 4
a) § 319 Abs. 4 FamFG schließt die Möglichkeit, die vor der Genehmigung
einer Unterbringungsmaßnahme zwingend gebotene Anhörung des Be-
troffenen im Wege der Rechtshilfe vorzunehmen, nicht völlig aus. Diese
Möglichkeit ist jedoch auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt.
b) Macht das Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch, muss es in seiner Ent-
scheidung die Gründe hierfür in nachprüfbarer Weise darlegen.
BGH, Beschluss vom 2. März 2016 - XII ZB 258/15 - LG Dortmund
AG Dortmund
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 2. März 2016 durch den Vor-
sitzenden Richter Dose, die Richterin Weber-Monecke und die Richter Schilling,
Dr. Günter und Guhling
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss
des Amtsgerichts Dortmund vom 18. Februar 2014 und der
Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund vom
8. Mai 2015 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtsgebührenfrei
(§ 25 Abs. 2 GNotKG).
Die außergerichtlichen Kosten der Betroffenen werden der Staats-
kasse auferlegt (§ 337 Abs. 1 FamFG in entsprechender Anwen-
dung).
Gründe:
I.
Die Betroffene wendet sich gegen die betreuungsgerichtliche Genehmi-
gung ihrer Unterbringung.
Sie steht unter Betreuung. Auf Antrag der Betreuerin hat das Amtsgericht
nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung der Betroffe-
nen im Wege der Rechtshilfe am 18. Februar 2014 deren Unterbringung in einer
geschlossenen Einrichtung bis längstens 18. Februar 2016 genehmigt.
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Gegen diesen Beschluss hat die Betroffene Beschwerde eingelegt. Nach-
dem das Beschwerdegericht ein weiteres psychiatrisches Gutachten eingeholt
und die Betroffene erneut im Wege der Rechtshilfe angehört hatte, hat es die
Beschwerde zurückgewiesen.
Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen, mit der sie
die Feststellung begehrt, dass sie durch diese beiden Entscheidungen in ihren
Rechten verletzt worden ist.
II.
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde ergibt sich auch im Fall der
- hier vorliegenden - Erledigung der Unterbringungsmaßnahme aus § 70 Abs. 3
Satz 1 Nr. 2 FamFG (Senatsbeschluss vom 29. Januar 2014 - XII ZB 330/13 -
FamRZ 2014, 649 Rn. 7 mwN). Nachdem es sich bei der angefochtenen
Entscheidung nicht um eine einstweilige Anordnung handelt, steht § 70 Abs. 4
FamFG der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde nicht entgegen.
2. Die Entscheidungen von Amts- und Landgericht haben die Betroffene in
ihren Rechten verletzt, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entspre-
chend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (Senatsbeschluss vom
29. Januar 2014 - XII ZB 330/13 - FamRZ 2014, 649 Rn. 8 mwN) festzustellen
ist. Das gesamte amts- und landgerichtliche Verfahren leidet unter dem Verfah-
rensfehler, dass die Betroffene in beiden Tatsacheninstanzen entgegen § 319
Abs. 1 Satz 1 FamFG nicht persönlich, sondern nur im Wege der Rechtshilfe an-
gehört wurde.
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a) Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor
einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönli-
chen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung
des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im
Beschwerdeverfahren (Senatsbeschluss vom 2. März 2011 - XII ZB 346/10 -
FamRZ 2011, 805 Rn. 11 mwN).
b) Nach § 319 Abs. 4 FamFG sollen die in § 319 Abs. 1 FamFG bezeich-
neten Verfahrenshandlungen nicht im Wege der Rechtshilfe erfolgen. Mit dieser
Regelung, die inhaltlich der bis zum Inkrafttreten des Gesetzes über das Verfah-
ren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbar-
keit geltenden Vorschrift des § 70 c Satz 4 FGG entspricht (vgl. BT-Drucks.
16/6308 S. 274), wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass die Anhörung des
Betroffenen in Unterbringungsverfahren grundsätzlich durch das Gericht erfolgt,
das über die Genehmigung der Unterbringungsmaßnahme entscheidet, und nicht
durch einen ersuchten Richter (vgl. BT-Drucks. 11/6949 S. 84).
Im Schrifttum wird daher einerseits die Auffassung vertreten, dass die
Verfahrenshandlungen nach § 319 Abs. 1 FamFG nur in seltenen Ausnahmefäl-
len im Wege der Rechtshilfe vorgenommen werden dürfen (vgl. Keidel/Budde
FamFG 18. Aufl. § 319 Rn. 7; Jürgens/Marschner Betreuungsrecht 5. Aufl. § 319
FamFG Rn. 9; BeckOK FamFG/Günter [Stand: 1. Januar 2016] § 319 Rn. 16;
Prütting/Helms/Roth FamFG 3. Aufl. § 319 Rn. 15; Schulte-Bunert/Weinreich/
Dodegge FamFG 4. Aufl. § 319 Rn. 18; Grotkopp in Bahrenfuss FamFG 2. Aufl.
§ 319 Rn. 17; HUK-BUR/Bauer [Stand: November 2014] § 319 FamFG Rn. 43).
Andere Stimmen in der Literatur halten in Unterbringungssachen eine Anhörung
des Betroffenen durch einen ersuchten Richter grundsätzlich für ausgeschlossen
(vgl. MünchKommFamFG/Schmidt-Recla 2. Aufl. § 319 Rn. 11; Jurgeleit/
Diekmann Betreuungsrecht 3. Aufl. § 319 FamFG Rn. 10; Horndasch/Viefhues/
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Beermann FamFG 3. Aufl. § 319 Rn. 9; Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann/Bienwald
Betreuungsrecht 5. Aufl. § 319 FamFG Rn. 13; Bumiller/Harders/Schwamb
FamFG 11. Aufl. § 319 Rn. 2).
c) Die erstgenannte Auffassung trifft zu.
aa) Der Wortlaut des § 319 Abs. 4 FamFG schließt es nicht völlig aus, die
vor der Genehmigung einer Unterbringungsmaßnahme zwingend gebotene An-
hörung des Betroffenen im Wege der Rechtshilfe vorzunehmen. Die Ausgestal-
tung der Norm als Sollvorschrift bringt allerdings zum Ausdruck, dass der Richter,
der über eine Unterbringungsmaßnahme zu entscheiden hat, in der Regel den
Betroffenen persönlich anzuhören und sich selbst einen persönlichen Eindruck
von dessen Lebensumständen zu verschaffen hat. Im Unterbringungsverfahren
kommt der persönlichen Anhörung des Betroffenen zentrale Bedeutung zu. Die
sie anordnende Vorschrift des § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG sichert nicht nur den
Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103
Abs. 1 GG. Durch sie soll auch sichergestellt werden, dass sich das Gericht vor
der Entscheidung über den mit einer Unterbringung verbundenen erheblichen
Grundrechtseingriff einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen verschafft,
durch den es in die Lage versetzt wird, eingeholte Sachverständigengutachten
(§ 321 FamFG), ärztliche Stellungnahmen oder sonstige Zeugenaussagen zu
würdigen (Senatsbeschluss vom 2. März 2011 - XII ZB 346/10 - FamRZ 2011,
805 Rn. 11 mwN). Außerdem gehört die persönliche Anhörung zu den bedeut-
samen Verfahrensgarantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 GG fordert, zum
Verfassungsgebot erhebt und so mit grundrechtlichem Schutz versieht. Sie ist
Kernstück der Amtsermittlung (vgl. Senatsbeschluss vom 29. Januar 2014
- XII ZB 330/13 - FamRZ 2014, 649 Rn. 25 mwN).
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Dieser besonderen Bedeutung der in § 319 Abs. 1 FamFG enthaltenen
Verfahrenshandlungen kann grundsätzlich nur dadurch angemessen Rechnung
getragen werden, dass das zur Entscheidung berufene Gericht den Betroffenen
persönlich anhört und sich einen persönlichen Eindruck von ihm verschafft. Eine
Anhörung des Betroffenen im Wege der Rechtshilfe ist daher nur in eng begrenz-
ten Ausnahmefällen möglich, etwa wenn der Betroffene kommunikationsunfähig
ist (vgl. Keidel/Budde FamFG 18. Aufl. § 319 Rn. 7; HUK-BUR/Bauer [Stand: No-
vember 2014] § 319 FamFG Rn. 43; vgl. auch Senatsbeschluss vom 16. März
2011 - XII ZB 601/10 - FamRZ 2011, 880 Rn. 19 mwN zu § 278 Abs. 3 FamFG).
Macht das Gericht von der Möglichkeit Gebrauch, die nach § 319 Abs. 1
FamFG notwendigen Verfahrenshandlungen im Wege der Rechtshilfe vorneh-
men zu lassen, muss es in seiner Entscheidung die Gründe hierfür in nachprüf-
barer Weise darlegen.
bb) Danach kann die Durchführung der in § 319 Abs. 1 FamFG genannten
Verfahrenshandlungen im Wege der Rechtshilfe nicht allein dadurch gerechtfer-
tigt werden, dass eine persönliche Anhörung des Betroffenen durch das nach
§ 313 Abs. 1 Nr. 1 FamFG zuständige Gericht mit einem erheblichen Zeit- und
Reiseaufwand verbunden wäre.
Die Problematik, dass mit der Verpflichtung zur persönlichen Anhörung ei-
nes Betroffenen in Unterbringungssachen für das zuständige Gericht ein erhebli-
cher Zeit- und Reiseaufwand verbunden sein kann, wurde vom Gesetzgeber be-
reits bei der bis zum 31. August 2008 geltenden Regelung des § 70 Abs. 3 Satz 1
FGG berücksichtigt. Diese Vorschrift sah eine isolierte Abgabemöglichkeit des
Unterbringungsverfahrens an das Gericht vor, in dessen Bezirk die Unterbrin-
gungsmaßnahme vollzogen wurde, um den Aufwand für das gemäß § 70 Abs. 2
Satz 1 FGG zuständige Gericht, bei dem das Betreuungsverfahren geführt wur-
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de, zu verringern (vgl. BT-Drucks. 15/2494 S. 43). Diese Regelung wurde bei der
Reform der freiwilligen Gerichtsbarkeit in § 314 FamFG übernommen. Danach
kann das Gericht, bei dem ein Verfahren zur Bestellung eines Betreuers eingelei-
tet oder das Betreuungsverfahren anhängig ist und das nach § 313 Abs. 1 Nr. 1
FamFG für Unterbringungssachen im Sinne von § 312 Nr. 1 und 2 FamFG aus-
schließlich zuständig wäre, das Unterbringungsverfahren abgeben, wenn der
Betroffene sich im Bezirk des anderen Gerichts aufhält und die Unterbringungs-
maßnahme dort vollzogen werden soll, sofern sich dieses zur Übernahme des
Verfahrens bereit erklärt hat.
§ 314 FamFG ist eine Sondervorschrift zu der allgemeinen Regelung des
§ 4 FamFG (BT-Drucks. 16/6308 S. 273; Keidel/Budde FamFG 18. Aufl. § 314
Rn. 3) und schafft in Unterbringungssachen eine erleichterte Abgabemöglichkeit
gerade für die Fälle, in denen die Unterbringungsmaßnahme in einer Einrichtung
vollzogen wird, die weit vom Wohnort des Betroffenen entfernt ist. Damit soll der
oft erhebliche Aufwand reduziert werden, der entstünde, wenn der für das Be-
treuungsverfahren zuständige Richter die im Rahmen der Unterbringung erfor-
derlichen Verfahrenshandlungen, insbesondere Anhörungen des Betroffenen
(§ 319 FamFG), am Ort der Einrichtung vornehmen müsste (vgl. Keidel/Budde
FamFG 18. Aufl. § 314 Rn. 4; BeckOK FamFG/Günter [Stand: 1. Januar 2016]
§ 314 Rn. 2; Jürgens/Marschner Betreuungsrecht 5. Aufl. § 314 FamFG Rn. 3).
Gleichzeitig trägt die Vorschrift damit auch der Vorgabe des § 319 Abs. 4 FamFG
Rechnung, wonach die Verfahrenshandlungen nach § 319 Abs. 1 FamFG nicht
im Wege der Rechtshilfe erfolgen sollen (vgl. zur Abgabe OLG Karlsruhe Be-
schluss vom 5. November 2013 - 11 AR 7/13 - juris Rn. 23). Die durch § 314
FamFG geschaffene Möglichkeit der isolierten Abgabe eines Unterbringungsver-
fahrens zeigt, dass nach der Intention des Gesetzgebers allein der Zeitaufwand
für die Reise des nach § 313 Abs. 1 Nr. 1 FamFG zuständigen Betreuungsge-
richts zum Ort der Einrichtung, in der sich der Betroffene aufhält, nicht ausreicht,
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um die nach § 319 Abs. 1 FamFG erforderlichen Verfahrenshandlungen durch
einen ersuchten Richter vornehmen zu lassen.
Eine Anhörung des Betroffenen im Wege der Rechtshilfe ist jedenfalls
dann nicht möglich, wenn sich die Unterbringungseinrichtung im Bezirk des nach
§ 313 Abs. 1 Nr. 1 FamFG zuständigen Betreuungsgerichts befindet. Ist die Ent-
scheidung über die beantragte Unterbringungsmaßnahme dringlich und daher
eine Abgabe des Verfahrens vor der Entscheidung aus zeitlichen Gründen nicht
durchführbar, ist vom Betreuungsgericht auch die Möglichkeit in Betracht zu zie-
hen, zunächst nur eine vorläufige Unterbringungsmaßnahme gemäß § 331
Satz 1 FamFG zu genehmigen. Denn im Verfahren der einstweiligen Anordnung
ist nach § 331 Satz 2 FamFG abweichend von § 319 Abs. 4 FamFG die Anhö-
rung des Betroffenen im Wege der Rechtshilfe zulässig.
Für eine persönliche Anhörung des Betroffenen durch den erkennenden
Richter spricht schließlich, dass wegen der Vielgestaltigkeit der möglichen
Beeinträchtigungen und wegen des bedeutenden Eingriffs in die Rechtssphäre
des Betroffenen der Anhörung entscheidende Bedeutung zukommt. Zudem ver-
langt sie regelmäßig die Kenntnis der vollständigen Akten, die der Rechtshilfe-
richter nicht immer haben wird (vgl. Senatsbeschluss vom 16. März 2011
- XII ZB 601/10 - FamRZ 2011, 880 Rn. 19 zu § 278 Abs. 3 FamFG).
3. Gemessen hieran durften weder das Amtsgericht noch das Beschwer-
degericht die Anhörung der Betroffenen im Wege der Rechtshilfe vornehmen.
Umstände, die eine Anhörung durch den ersuchten Richter ausnahmsweise
rechtfertigen könnten, werden in beiden instanzgerichtlichen Entscheidungen
nicht genannt. Allein die geringere Fahrzeit der ersuchten Betreuungsrichterin zu
der Unterbringungseinrichtung genügt nicht. Andere Umstände, die ausnahms-
weise die Durchführung der Anhörung im Wege der Rechtshilfe gerechtfertigt
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hätten, sind nicht ersichtlich. Mit dem Absehen von der persönlichen Anhörung
haben das Amtsgericht und das Beschwerdegericht somit eine elementare Ver-
fahrensgarantie der Betroffenen verletzt.
4. Die Betroffene ist durch diese Verfahrensmängel in ihrem Freiheits-
grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden (vgl. Senatsbeschluss
vom 29. Januar 2014 - XII ZB 330/13 - FamRZ 2014, 649 Rn. 22 ff.). Von einer
weiteren Begründung wird insoweit gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
Dose
Weber-Monecke
Schilling
Günter
Guhling
Vorinstanzen:
AG Dortmund, Entscheidung vom 18.02.2014 - 300 XVII Z 1170 -
LG Dortmund, Entscheidung vom 08.05.2015 - 9 T 245/14 -
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