Urteil des BGH vom 22.08.2012

Leitsatzentscheidung zu Persönliche Anhörung, Behinderung, Psychiatrie, Erfahrung, Qualifikation

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 141/12
vom
22. August 2012
in der Betreuungssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
FamFG §§ 26, 39
a) Die nach § 39 FamFG zu erteilende Rechtsbehelfsbelehrung muss auch
über einen bestehenden Anwaltszwang informieren (im Anschluss an Se-
natsbeschlüsse vom 13. Juni 2012 - XII ZB 592/11 - FamRZ 2012, 1287 und
vom 23. Juni 2010 - XII ZB 82/10 - FamRZ 2010, 1425).
b) Das Gericht ist verpflichtet, sich nach einer kritischen Würdigung des Sach-
verständigengutachtens ein eigenes Bild von der Richtigkeit der durch den
Sachverständigen gezogenen Schlüsse zum Vorliegen einer psychischen
Erkrankung oder geistig-seelischen Behinderung des Betroffenen und zum
Bestehen eines objektiven Betreuungsbedarfes zu machen; die pauschale
Bezugnahme auf den Inhalt des Sachverständigengutachtens lässt eine sol-
che Würdigung regelmäßig vermissen.
BGH, Beschluss vom 22. August 2012 - XII ZB 141/12 - LG Görlitz
AG Görlitz
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. August 2012 durch den
Vorsitzenden Richter Dose, die Richterin Dr. Vézina und die Richter
Dr. Klinkhammer, Dr. Nedden-Boeger und Dr. Botur
beschlossen:
Dem Betroffenen wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ge-
gen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwer-
de gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss
der 2. Zivilkammer des Landgerichts Görlitz vom 17. Februar 2012
aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Land-
gericht zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Der Betroffene wendet sich gegen die Anordnung seiner Betreuung.
Das Amtsgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens
für den 1928 geborenen Betroffenen eine Betreuung mit den Aufgabenkreisen
Vermögenssorge, Vertretung gegenüber Ämtern und Behörden sowie Geltend-
machung von Ansprüchen auf Leistungen aller Art eingerichtet. Das Landge-
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richt hat die Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen wendet
sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde.
II.
1. Dem Betroffenen ist auf seinen Antrag Wiedereinsetzung in den vori-
gen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Rechtsbe-
schwerde zu bewilligen.
a) Der dem Betroffenen am 22. Februar 2012 zugestellte Beschluss des
Landgerichts enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung, die sich zwar zu dem für die
Entgegennahme der Rechtsbeschwerde zuständigen Rechtsbeschwerdegericht
und zur einmonatigen Rechtsbeschwerdefrist, nicht aber dazu verhielt, dass
eine formwirksame Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof nur durch einen
am Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt eingelegt werden kann. Der
Betroffene hat am 21. März 2012 eine privatschriftliche Rechtsbeschwerde bei
dem Bundesgerichtshof angebracht. Nachdem er durch den Senat über den
Anwaltszwang vor dem Bundesgerichtshof belehrt worden ist, hat der Betroffe-
ne am 2. April 2012 innerhalb der zweiwöchigen Wiedereinsetzungsfrist einen
nach Form und Inhalt (§ 18 Abs. 1 und Abs. 2 FamFG) wirksamen Wiederein-
setzungsantrag gestellt.
b) Dieser Antrag hat Erfolg. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats
muss eine Rechtsbehelfsbelehrung auch über einen bestehenden Anwalts-
zwang informieren (vgl. Senatsbeschlüsse vom 13. Juni 2012 - XII ZB 592/11 -
FamRZ 2012, 1287 Rn. 7 und vom 23. Juni 2010 - XII ZB 82/10 - FamRZ 2010,
1425 Rn. 14). Diesen Erfordernissen genügte die vom Landgericht erteilte
Rechtsbehelfsbelehrung nicht. Wegen der Unvollständigkeit der Rechtsbehelfs-
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belehrung wird gemäß § 17 Abs. 2 FamFG gegenüber dem anwaltlich nicht ver-
tretenen Betroffenen vermutet, dass die Versäumung der Frist für die (formrich-
tige) Einlegung der Rechtsbeschwerde durch ihn nicht verschuldet worden ist.
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
a) Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesent-
lichen ausgeführt: Die in erster Instanz abgegebene Stellungnahme des Be-
troffenen zum Gutachten und der Inhalt des (richtig:) zweiundsechzig handge-
schriebene Seiten umfassenden Beschwerdeschriftsatzes bewiesen eindrucks-
voll die Richtigkeit der Einschätzung des Betreuungsgerichts, dass der Be-
troffene dringend betreuungsbedürftig sei. Die Schriftsätze des Betroffenen
zeugten trotz ihres teilweise formell gut geordneten Aufbaus von einem hohen
Grad an Verwirrtheit, der nur durch die diagnostizierte psychische Erkrankung
des Betroffenen erklärt werden könne. Die mehr als ausgeprägte Tendenz zum
Verfolgungswahn und die Ungeordnetheit und die Zusammenhanglosigkeit der
Gedankengänge ließen es dringend geboten erscheinen, an der Anordnung der
Betreuung festhalten. Der Betroffene wende sich bezeichnenderweise auch
nicht gegen die Betreuung als solche, sondern nur dagegen, sich auf das von
dem Amtsgericht eingeholte Gutachten zu stützen. Er habe indessen nicht er-
klären können, warum die Anordnung der Vermögenssorge nach seiner Ansicht
einzuschränken sei bzw. begrifflich präzisiert werden müsse. Auch seinen
Wunsch nach einer beschränkten Dauer der Betreuung habe der Betroffene
nicht begründet.
Es habe davon abgesehen werden können, den Betroffenen erneut per-
sönlich anzuhören. Eine förmliche Anhörung sei in erster Instanz erfolgt und
von einer Wiederholung der Anhörung seien keine neuen Erkenntnisse zu er-
warten. Die Stellungnahmen der Betreuungsbehörde und das Sachverständi-
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gengutachten spiegelten die zugegebenermaßen kurz gehaltenen Angaben des
Amtsrichters im Anhörungsprotokoll wider. Das allein könnte zwar das Erforder-
nis erneuter Anhörung nicht entfallen lassen; die schriftlichen Äußerungen des
Betroffenen im Verfahren könnten allerdings als weiteres Indiz dafür herange-
zogen werden, dass auch eine weitere persönliche Anhörung des Betroffenen
dessen Betreuungsbedürftigkeit lediglich bestätigen würde.
b) Diese Ausführungen halten bereits den Verfahrensrügen der Rechts-
beschwerde nicht stand.
aa) Gemäß § 280 Abs. 1 FamFG hat vor der Bestellung eines Betreuers
eine förmliche Beweisaufnahme durch Einholung eines Gutachtens über die
Notwendigkeit der Maßnahme stattzufinden. Der Gutachter soll Arzt für Psychi-
atrie oder Arzt mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie sein (§ 280 Abs. 1
Satz 2 FamFG). Die Ausgestaltung als Sollvorschrift erlaubt es dem Gericht
zwar in solchen Fällen, in denen nicht psychische Krankheiten oder geistig-
seelische Behinderungen, sondern andere Krankheitsbilder im Vordergrund
stehen, auch Ärzte ohne psychiatrische Erfahrungen zu Gutachtern zu bestellen
(Senatsbeschluss vom 9. Februar 2011 - XII ZB 526/10 - FamRZ 2011, 630
Rn. 11; Keidel/Budde FamFG 17. Aufl. § 280 Rn. 10; Jürgens/Kretz Betreu-
ungsrecht 4. Aufl. § 280 FamFG Rn. 4; MünchKommZPO/Schmidt-Recla
3. Aufl. § 280 FamFG Rn. 10). In jedem Fall muss die Beauftragung eines Gut-
achters, der nicht die Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 Satz 2 FamFG erfüllt,
aber wegen ihres Ausnahmecharakters in der Endentscheidung besonders be-
gründet werden (Senatsbeschluss vom 16. Mai 2012 - XII ZB 454/11 - FamRZ
2012, 1207 Rn. 13).
Gemessen an diesen Maßstäben ist das Verfahren des Beschwerdege-
richts zu beanstanden. Erkenntnisse zu den Spezialisierungen des Sachver-
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ständigen ergeben sich aus dessen Berufsbezeichnung als Diplom-Mediziner
nicht. Das Beschwerdegericht hat den schriftlichen Äußerungen des Betroffe-
nen selbst entnommen, dass dieser mit der Einrichtung einer Betreuung auf der
Grundlage des eingeholten Sachverständigengutachtens nicht einverstanden
ist. Gerade dann, wenn die inhaltliche Richtigkeit des Gutachtens durch einen
Betroffenen erkennbar in Zweifel gezogen wird, muss sich das Beschwerdege-
richt veranlasst sehen, noch fehlende Feststellungen zur Qualifikation des
Sachverständigen zu treffen.
bb) Es ist ebenfalls verfahrensfehlerhaft, dass das Beschwerdegericht
den Betroffenen vor Erlass seiner Entscheidung nicht erneut persönlich ange-
hört hat.
Wie das Beschwerdegericht im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend er-
kannt hat, besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG eine Pflicht zur persönlichen
Anhörung des Betroffenen auch im Beschwerdeverfahren. Allerdings kann das
Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG von der persönlichen An-
hörung absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wor-
den ist und von einer erneuten Anhörung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten
sind. Diese Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise von einer erneuten
Anhörung des Betroffenen abgesehen werden kann, liegen entgegen der Auf-
fassung des Beschwerdegerichts nicht vor.
Eine erneute Anhörung des Betroffenen war schon deshalb erforderlich,
weil der Betroffene ausweislich des Protokolls vom 14. Dezember 2011 bei sei-
ner Anhörung durch den Betreuungsrichter mit der Einrichtung einer Betreuung
für die einzelnen Aufgabenkreise einverstanden war. Das Amtsgericht brauchte
daher nicht mehr zu prüfen, ob der Betroffene noch zur Bildung eines freien
Willens in der Lage war (vgl. § 1896 Abs. 1 a BGB). Diese Sachlage hat sich im
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Beschwerdeverfahren verändert. Zwar hat der Betroffene mit seiner Beschwer-
de in erster Linie erstrebt, die Anordnung der Betreuung nicht auf das eingehol-
te Sachverständigengutachten zu stützen, den Aufgabenkreis der Vermögens-
sorge einzuschränken und die Dauer der Betreuung zu verkürzen. Für den Fall,
dass seinen diesbezüglichen Vorstellungen nicht entsprochen werden sollte,
hat der Betroffene allerdings eindeutig zu erkennen gegeben, hilfsweise ("even-
tuell") eine Aufhebung der gesamten Betreuungsanordnung beantragen zu wol-
len. Es wäre deshalb zu prüfen gewesen, ob der freie Wille des Betroffenen
gemäß § 1896 Abs. 1 a BGB einer Einrichtung der Betreuung entgegenstand.
Sobald die Möglichkeit der freien Willensbildung durch den Betroffenen erst-
mals in der Beschwerdeinstanz entscheidungserheblich wird, sind durch eine
persönliche Anhörung des Betroffenen stets neue Erkenntnisse im Sinne des
§ 68 Abs. 1 Satz 2 FamFG zu erwarten (vgl. Senatsbeschlüsse vom 16. Mai
2012 - XII ZB 454/11 - FamRZ 2012, 1207 Rn. 22 und vom 16. März 2011
- XII ZB 601/10 - FamRZ 2011, 880 Rn. 15 f.). Dann entbinden weder die Ein-
holung eines Sachverständigengutachtens noch die Auswertung schriftlicher
Äußerungen des Betroffenen das Gericht davon, sich im Rahmen seiner Amts-
ermittlungspflicht (§ 26 FamFG) durch eine Anhörung des Betroffenen einen
persönlichen Eindruck davon zu verschaffen, ob dieser tatsächlich zur Bildung
eines freien Willens nicht in der Lage ist.
c) Da nicht auszuschließen ist, dass die angefochtene Entscheidung auf
den dargestellten Verfahrensfehlern beruht, ist sie aufzuheben und die noch
nicht entscheidungsreife (§ 74 Abs. 6 Satz 1 und 2 FamFG) Sache an das
Landgericht zurückzuverweisen.
Im Übrigen ist zu bemerken, dass weder der Entscheidung des Amtsge-
richts noch der Beschwerdeentscheidung des Landgerichts konkrete tatrichterli-
che Feststellungen zu einer bestimmten psychischen Erkrankung oder geistig-
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seelischen Behinderung des Betroffenen und zum Bestehen eines objektiven
Betreuungsbedarfes entnommen werden können, die über eine Bezugnahme
auf das Sachverständigengutachten hinausgehen. Das Gericht ist indessen zu
einer kritischen Würdigung des Sachverständigengutachtens verpflichtet. Nur
auf der Grundlage einer solchen Überprüfung ist das Gericht imstande, sich das
gebotene eigene Bild von der Richtigkeit der durch den Sachverständigen ge-
zogenen Schlüsse zu machen. Die pauschale Bezugnahme auf den Inhalt des
Sachverständigengutachtens lässt eine solche Würdigung regelmäßig vermis-
sen (vgl. BayObLG FamRZ 2001, 1403, 1404).
Dose
Vézina
Klinkhammer
Nedden-Boeger
Botur
Vorinstanzen:
AG Görlitz, Entscheidung vom 14.12.2011 - 5 XVII 0371/11 -
LG Görlitz, Entscheidung vom 17.02.2012 - 2 T 8/12 -