Urteil des BGH vom 02.09.2015

Leitsatzentscheidung zu Faires Verfahren, Unterbringung, Anhörung, Genehmigung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 138 /15
vom
2. September 2015
in der Unterbringungssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
FamFG § 62 Abs. 1
Der Anspruch auf ein faires Verfahren gebietet es, einen anwaltlich nicht vertretenen
Betroffenen eines zivilrechtlichen Unterbringungsverfahrens im Fall der Erledigung
der Hauptsache auf die Möglichkeit hinzuweisen, seinen Antrag auf Feststellung der
Rechtswidrigkeit der Unterbringungsanordnung umzustellen (im Anschluss an Se-
natsbeschluss vom 15. September 2010 - XII ZB 383/10 - FamRZ 2010, 1726).
BGH, Beschluss vom 2. September 2015 - XII ZB 138/15 - LG Hannover
AG Hannover
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 2. September 2015 durch
den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Dr. Klinkhammer, Dr. Nedden-
Boeger, Dr. Botur und Guhling
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des
Amtsgerichts Hannover vom 6. März 2015 sowie der Beschluss der
9. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 26. März 2015 die
Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtsgebührenfrei.
Die in der Rechtsbeschwerdeinstanz entstandenen außergerichtlichen
Kosten der Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe:
I.
Die im Jahre 1943 geborene Betroffene leidet an einer wahnhaften Stö-
rung. Sie steht seit November 2014 unter Betreuung, ihre vorläufige Unterbrin-
gung war bis zum 27. Februar 2015 genehmigt. Diese Genehmigung verlänger-
te das Amtsgericht zunächst bis längstens zum 6. März 2015, was Gegenstand
des Parallelverfahrens XII ZB 114/15 vor dem Senat ist.
Mit Beschluss vom 6. März 2015 hat das Amtsgericht auf entsprechen-
den Antrag der Betreuerin die weitere Unterbringung bis längstens zum
16. März 2015 genehmigt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde hat das Land-
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gericht mit Beschluss vom 26. März 2015 zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbe-
schwerde begehrt die Betroffene die Feststellung, dass sie durch diese beiden
Entscheidungen in ihren Rechten verletzt worden ist.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, insbesondere gemäß § 70 Abs. 3
Satz 1 Nr. 2, Satz 2 FamFG - und da keine einstweilige Anordnung im Sinne
von § 70 Abs. 4 FamFG vorliegt - statthaft. Sie ist auch begründet, weil die Ent-
scheidungen von Amts- und Landgericht die Betroffene in ihren Rechten ver-
letzt haben. Dies ist nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend
anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (Senatsbeschluss vom
29. Januar 2014 - XII ZB 330/13 - FamRZ 2014, 649 Rn. 8 mwN) festzustellen.
1. Die Genehmigung einer Unterbringung nach § 1906 Abs. 2 Satz 1
BGB setzt das Bestehen einer qualifizierten Gefährdungslage voraus. Es muss
die Gefahr bestehen, dass der Betroffene sich selbst tötet oder erheblichen ge-
sundheitlichen Schaden zufügt (§ 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB) oder ein erheblicher
gesundheitlicher Schaden droht (§ 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Der Tatrichter hat
hierzu die erforderlichen Feststellungen zu treffen.
2. Dem werden die Entscheidungen von Amts- und Landgericht nicht ge-
recht.
a) Dem amtsgerichtlichen Beschluss, der sich in seinen Gründen im We-
sentlichen auf die Wiedergabe des Gesetzestextes beschränkt, lassen sich kei-
nerlei Umstände entnehmen, die die Annahme der eine Unterbringung rechtfer-
tigenden Gefährdung zulassen. Das Landgericht führt aus, es bestünden "je-
denfalls Anhaltspunkte, dass die Heilbehandlung zur Abwendung eines drohen-
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den erheblichen gesundheitlichen Schadens erforderlich" sei. Damit wird nicht
die notwendige Gefährdungssituation, sondern lediglich deren Möglichkeit fest-
gestellt.
b) Auch die weiteren landgerichtlichen Erwägungen erlauben nicht den
Schluss auf das Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen.
Dies gilt, soweit das Landgericht im Rahmen seiner Ausführungen zu
§ 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB auf eine bereits seit Anordnung der Betreuung beste-
hende Beinverletzung abstellt, die untersucht werden müsse und zudem schon
antibiotisch behandelt worden sei. Wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt,
bleibt gänzlich unklar, welches der ohne Untersuchung drohende (weitere)
Schaden sein soll. Hinzu kommt, dass sich den Beschlussgründen zum einen
nicht nachvollziehbar entnehmen lässt, inwiefern diese Untersuchung nur im
Rahmen einer Unterbringung durchgeführt werden kann. Zum anderen verhält
sich die Beschwerdeentscheidung auch nicht dazu, ob zu erwarten steht, dass
die Betroffene einer derartigen ärztlichen Maßnahme nicht widerspricht. Inso-
weit musste sich angesichts des Umstands, dass sie vor der verfahrensgegen-
ständlichen Unterbringungsgenehmigung bereits sieben Wochen geschlossen
untergebracht war, ohne dass die Untersuchung vorgenommen werden konnte,
die Notwendigkeit entsprechender Feststellungen aufdrängen. Dies gilt umso
mehr, als das Landgericht schon bei der ersten Verlängerungsentscheidung
tragend auf die Untersuchung des Beins abgestellt hatte, zu der es jedoch wei-
terhin nicht gekommen war.
Soweit das Landgericht die psychische Erkrankung der Betroffenen und
den entsprechenden Behandlungsbedarf anführt, erschließt sich nicht, welche
rechtlichen Folgerungen sich hieraus ergeben sollen. Jedenfalls hat das Land-
gericht daraus - im Ergebnis zu Recht - nicht den Unterbringungsgrund des
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§ 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB abgeleitet. Denn nach den Beschlussgründen hat die
Betroffene offensichtlich eine medikamentöse Behandlung verweigert, so dass
die Genehmigung der Unterbringung zur Durchführung der Heilbehandlung ge-
mäß § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB nur dann zulässig gewesen wäre, wenn die Vo-
raussetzungen für die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vorgele-
gen hätten und diese rechtswirksam genehmigt worden wäre (Senatsbeschluss
vom 30. Juli 2014 - XII ZB 169/14 - FamRZ 2014, 1694 Rn. 23). Jedenfalls
Letzteres war aber nicht der Fall.
Auf § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB hat das Landgericht sich - anders als das
Amtsgericht, das die Selbstgefährdung als Unterbringungsgrund genannt hat -
nicht gestützt, sondern allein mit einer Unterbringung zur Heilbehandlung argu-
mentiert. Im Übrigen würden die im Beschluss enthaltenen Feststellungen eine
Unterbringung wegen Selbstgefährdung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB eben-
falls nicht tragen. Soweit in den Beschlussgründen erwähnt ist, die zuletzt ob-
dachlose Betroffene habe sich "bei Einlieferung in einem körperlich verwahrlos-
ten und unterernährten Zustand" befunden, besagt dies nichts über eine beste-
hende erhebliche Gesundheitsgefährdung, der nur mit einer Unterbringung und
nicht etwa auch im Rahmen ambulanter, gegebenenfalls durch die Berufsbe-
treuerin zu organisierender Hilfen begegnet werden könnte. Die vom Landge-
richt zitierte Aussage aus dem Sachverständigengutachten des Dr. A. vom
17. März 2015, ohne Unterbringung sei mit dem Abbruch eines jeden Aufent-
halts durch die Betroffene und damit einhergehend - gerade unter Berücksichti-
gung ihres Allgemeinzustands - einer sofortigen erheblichen Selbstgefährdung
zu rechnen, reicht nicht aus, um eine Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1
BGB begründen zu können.
3. Darüber hinaus rügt die Rechtsbeschwerde zutreffend als verfahrens-
fehlerhaft, dass das Landgericht den angefochtenen Beschluss des Amtsge-
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richts bestätigt hat, ohne die Betroffene im Beschwerdeverfahren erneut anzu-
hören.
Allerdings kann das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG
von der persönlichen Anhörung absehen, wenn diese bereits im ersten Rechts-
zug vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung keine neuen
Erkenntnisse zu erwarten sind. Das Beschwerdegericht hat aber - wie auch das
erstinstanzliche Gericht - die Gründe, aus denen es von einer Anhörung aus-
nahmsweise absehen will, in den Entscheidungsgründen nachprüfbar darzule-
gen (Senatsbeschluss vom 26. Februar 2014 - XII ZB 503/13 - FamRZ 2014,
828 Rn. 5 mwN).
An einer solchen Begründung fehlt es in der Beschwerdeentscheidung.
Sie war auch nicht ausnahmsweise deshalb entbehrlich, weil aus den weiteren
Entscheidungsgründen ersichtlich würde, dass das Beschwerdegericht in zu-
lässiger Weise von einer erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen ab-
sehen
konnte
(vgl.
dazu
Senatsbeschluss
vom
26. Februar
2014
- XII ZB 503/13 - FamRZ 2014, 828 Rn. 5 mwN). Im Gegenteil: Das Landgericht
hat für seine Entscheidung mit dem Sachverständigengutachten vom 17. März
2015 eine neue Tatsachengrundlage herangezogen, die nach der amtsgerichtli-
chen Anhörung und nach der eigenen Anhörung im Parallelverfahren vom
4. März 2015 datiert, so dass eine erneute Anhörung der Betroffenen geboten
gewesen wäre.
4. Die Betroffene ist durch die Genehmigung der Unterbringung in ihrem
Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt.
Eine Aufhebung und Zurückverweisung zur Nachholung der Feststellun-
gen zum Vorliegen eines Unterbringungsgrundes im Sinn von § 1906 Abs. 1
BGB kommt nicht in Betracht. Der Betroffenen ist die Verfahrensfortsetzung
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nicht zumutbar. Denn eine solche würde sich nach Erledigung der Unterbrin-
gung auf erstmalige nachprüfbare Feststellungen zu den materiell-rechtlichen
Genehmigungsvoraussetzungen richten. Mithin ist davon auszugehen, dass die
angefochtenen Entscheidungen auch inhaltlich auf den mangelhaften Feststel-
lungen beruhen (vgl. Senatsbeschluss vom 30. Juli 2014 - XII ZB 169/14 -
FamRZ 2014, 1694 Rn. 28).
Einem Beruhen steht auch nicht entgegen, dass vorliegend die Erledi-
gung durch Zeitablauf bereits zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung ein-
getreten war, so dass die Betroffene schon im Beschwerdeverfahren einen An-
trag nach § 62 Abs. 1 FamFG hätte stellen müssen, weil damit die Beschwerde
mit dem Ziel der Aufhebung der amtsgerichtlichen Genehmigungsentscheidung
unzulässig geworden war. Dass es an dem erforderlichen Feststellungsantrag
in der zweiten Instanz fehlt, nimmt dem Zurückweisungsbeschluss des Landge-
richts aber hier nicht die Rechtswidrigkeit. Denn das Landgericht hätte bei rich-
tiger Sachbehandlung die anwaltlich nicht vertretene Betroffene auf die Mög-
lichkeit hinweisen müssen, ihren Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit
der Unterbringungsanordnung umzustellen. Dies gebietet der Anspruch der Be-
troffenen auf ein faires Verfahren (OLG München OLGR 2006, 26; Kei-
del/Budde FamFG 18. Aufl. § 62 Rn. 10; Schulte-Bunert/Weinreich/Unger Fa-
mFG 4. Aufl. § 62 Rn. 18; vgl. auch Senatsbeschluss vom 15. September 2010
- XII ZB 383/10 - FamRZ 2010, 1726 Rn. 30). Es ist davon auszugehen, dass
sie bei einem entsprechenden Hinweis des Gerichts - wie nunmehr im Verfah-
ren der Rechtsbeschwerde - einen Antrag auf Rechtswidrigkeitsfeststellung ge-
stellt hätte.
Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse der Be-
troffenen daran, die Rechtswidrigkeit der - hier durch Zeitablauf erledigten - Ge-
nehmigung der Unterbringung feststellen zu lassen, liegt vor. Eine freiheitsent-
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ziehende Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtsein-
griff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (Senatsbeschluss vom 30. Juli
2014 - XII ZB 169/14 - FamRZ 2014, 1694 Rn. 29).
5. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74
Abs. 7 FamFG abgesehen.
Dose Klinkhammer Nedden-Boeger
Botur Guhling
Vorinstanzen:
AG Hannover, Entscheidung vom 06.03.2015 - 663 XVII H 7046 -
LG Hannover, Entscheidung vom 26.03.2015 - 9 T 12/15 -
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