Urteil des BGH vom 23.05.2012

Akte, Eigenes Verschulden, Überprüfung, Nummer, Organisation

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VII ZB 58/10
vom
23. Mai 2012
in dem Rechtsstreit
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Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 23. Mai 2012 durch den Vor-
sitzenden Richter Prof. Dr. Kniffka, den Richter Bauner, die Richterin Safari
Chabestari, den Richter Dr. Eick und den Richter Halfmeier
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss der
1. Zivilkammer des Landgerichts Kassel vom 6. September 2010
aufgehoben.
Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen
Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beru-
fungsgericht zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 4.890,75
Gründe:
I.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 16. Juni 2010 zugestellte Urteil des
Amtsgerichts, mit dem die Klage abgewiesen und die Klägerin auf die Wider-
klage verurteilt worden ist, am 16. Juli 2010 Berufung eingelegt. Der per Telefax
versehentlich an die Faxnummer des Amtsgerichts versandte Schriftsatz des
Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 16. August 2010, mit dem diese die
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Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist "um einen Monat, somit bis zum
16. September 2010"
beantragt
hat,
ist
beim
Berufungsgericht
am
17. August 2010 eingegangen.
Auf die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist und den Eingang
des Fristverlängerungsantrages nach Fristablauf ist die Klägerin mit gerichtli-
cher Verfügung vom 17. August 2010 hingewiesen worden. Mit am 2. Sep-
tember 2010 eingegangenem Schriftsatz vom gleichen Tag hat die Klägerin
beantragt, ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Verlängerung der
Berufungsbegründungsfrist zu gewähren. Sie hat dazu vorgetragen, dass die
mit Fristsachen beauftragte, langjährige, zuverlässige persönliche Sekretärin,
die Rechtsanwalts- und Notarsfachangestellte O. der Prozessbevollmächtigten
der Klägerin, den Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist vor-
ab versehentlich unter der falschen Faxnummer an das Amtsgericht versandt
habe. Sie habe diese Nummer aus dem letzten gerichtlichen Schreiben aus der
Handakte entnommen und dabei übersehen, dass es sich um die Mitteilung des
Amtsgerichts über die Zurückstellung des Kostenfestsetzungsverfahrens ge-
handelt habe. Sie habe an diesem Tag vom Prozessvertreter der Klägerin die
konkrete Anweisung erhalten, einen Fristverlängerungsantrag beim Berufungs-
gericht zu stellen und diesen im Hinblick auf die ablaufende Notfrist vorab per
Fax an das Landgericht zu senden, wozu die Faxnummer direkt aus der Hand-
akte zu entnehmen sei, wo bereits das Aktenzeichen des Berufungsgerichts
mitgeteilt worden sei. Hierzu hat die Klägerin eine eidesstattliche Versicherung
der Fachangestellten O. vorgelegt.
Die Berufungsbegründung vom 16. September 2010 ist am gleichen Tag
beim Berufungsgericht eingegangen.
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Das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 6. September 2010 die be-
antragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Verlängerung der Be-
rufungsbegründungsfrist versagt und die Berufung als unzulässig verworfen.
Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Die nach § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO in Verbindung mit § 238 Abs. 2
Satz 1, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen
zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache Erfolg. Das Berufungsgericht hat
der Klägerin zu Unrecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Ver-
säumung der Berufungsbegründungsfrist versagt und infolgedessen die Beru-
fung als unzulässig verworfen.
1. Das Berufungsgericht hat eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
mit der Begründung verweigert, den Prozessbevollmächtigten der Klägerin tref-
fe ein eigenes Verschulden an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist,
das sich diese nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsse.
Der Anwalt müsse für eine Büroorganisation sorgen, die eine Überprü-
fung der per Telefax übermittelten fristgebundenen Schriftsätze auch auf die
Verwendung einer zutreffenden Empfängernummer gewährleiste. Die vom Pro-
zessbevollmächtigten der Klägerin dargetanen Anordnungen und danach
durchgeführten Kontrollen belegten nur eine Überprüfung der ordnungsgemä-
ßen Versendung, nicht hingegen eine Kontrolle im Hinblick auf eine etwa falsch
ermittelte oder eingesetzte Empfängernummer nach Versendung. Eine Über-
prüfung der Faxnummer und des Empfängers nach Versendung des Faxes an-
hand des Sendeberichts sei nicht dargelegt. Ein etwaiger Fehler bei Ermittlung
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der Faxnummer setze sich daher in der Folge notwendigerweise fort, weil eine
Vorkehr hiergegen durch nachträgliche Überprüfung nicht stattfinde. Auch wenn
der
Bundesgerichtshof
in
seinem
Beschluss
vom
13. Februar 2007
- VI ZB 70/06, NJW 2007, 1690, geringere Anforderungen gestellt habe, halte
die Kammer an ihrer Auffassung fest, denn die Umstände des Einzelfalles be-
gründeten ein gesteigertes Überprüfungserfordernis. Die Akte habe bereits die
Berufungsschrift enthalten, in der die Faxnummer zutreffend angegeben wor-
den sei. Es hätte der Abgleichung bedurft, dass die gewählte Faxnummer die-
ser Faxnummer entspricht.
2. Das hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Der Klägerin ist
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbe-
gründungsfrist zu gewähren.
a) Nach der zum maßgeblichen Zeitpunkt gültigen Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs verstieß ein Anwalt nicht gegen seine Organisationspflich-
ten, wenn er zur Ausgangskontrolle eines per Telefax zu übersendenden
Schriftsatzes die Anweisung erteilte, die Faxnummer des Gerichts, an das der
Schriftsatz adressiert werden muss, aus der Akte zu entnehmen und die ge-
wählte Empfängernummer mit der zuvor in den Schriftsatz eingefügten Nummer
abzugleichen (BGH, Beschluss vom 22. Juni 2004 - VI ZB 14/04, NJW 2004,
3491). Ist die Empfängernummer zuvor aus einem konkret bezeichneten
Schreiben in der Akte ermittelt worden, ist es nicht für erforderlich gehalten
worden, dass organisatorisch eine erneute Überprüfung der Übertragung aus
der Akte angeordnet wird (BGH, Beschluss vom 13. Februar 2007
- VI ZB 70/06, NJW 2007, 1690).
b) Der IX. Zivilsenat hat in seiner Entscheidung vom 14. Oktober 2010
(IX ZB 34/10, NJW 2011, 312) erhöhte Anforderungen an die Organisation der
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Ausgangskontrolle entwickelt, die dahin gehen, dass das Büropersonal ange-
wiesen wird, die angegebene Faxnummer noch einmal auf ihre Zuordnung zu
dem vom Rechtsanwalt bezeichneten Empfangsgericht zu überprüfen. Dem
haben sich weitere Senate des Bundesgerichtshofs angeschlossen (vgl. BGH,
Beschluss vom 27. März 2012 - VI ZB 49/11, juris-Rn. 7 m.w.N.). Danach ist bei
der Entnahme der Empfängernummer aus einem von diesem stammenden, bei
der Akte befindlichen Schreiben stets eine - zweifache - Kontrolle des Inhalts
vorzunehmen, ob die gewählte Nummer mit der in dem Schreiben enthaltenen
Nummer übereinstimmt und ob es sich bei dem Schreiben tatsächlich um ein
solches des Empfängers handelt. Der IX. Zivilsenat hat jedoch das Verschulden
eines Anwalts verneint, der sich wegen der uneinheitlichen Rechtsprechung an
der ihm günstigeren Ansicht orientierte, die sich mit einem Abgleich der gewähl-
ten Empfängernummer mit dem in der Akte befindlichen Schriftsatz begnügt.
c) Danach kann ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Klä-
gerin an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nicht festgestellt wer-
den. Er konnte sich hinsichtlich der Organisation der Ausgangskontrolle auf die
bis dahin ergangene Rechtsprechung verlassen. Es kann dem Prozessbevoll-
mächtigten der Klägerin deshalb entgegen der Auffassung des Berufungsge-
richts nicht vorgeworfen werden, dass er es organisatorisch nicht sichergestellt
hat, dass die von dem Büropersonal nach seiner Anordnung aus der Akte her-
ausgesuchte Faxnummer noch einmal überprüft wird. Im Übrigen wäre fraglich,
ob das Unterlassen einer solchen Anweisung ursächlich für die Fristversäu-
mung gewesen wäre. Denn es liegt nahe und ist auch von der Büroangestellten
unter Darstellung des Ablaufs einer solchen Überprüfung so versichert worden,
dass sie denselben Ablesefehler erneut begangen hätte.
d) Soweit das Landgericht meint, die Überprüfungspflicht sei hier gestei-
gert, weil sich bereits ein Telefax an das Landgericht mit der richtigen Faxnum-
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mer in der Akte befunden habe, betrifft das nicht die Anforderungen an die Or-
ganisation der Ausgangskontrolle. Dazu reichte die Anweisung aus, die sich in
der Akte befindliche Faxnummer des Landgerichts anhand des Schriftstücks, in
dem das Aktenzeichen mitgeteilt wird, herauszusuchen. Eine Anordnung, diese
für den Fall, dass bereits ein Telefax an das Landgericht gesendet worden ist,
mit der in dieser Sendung verwendeten Faxnummer zu vergleichen, übersteigt
die Anforderungen an eine sachgerechte Organisation. Denn die vom Landge-
richt selbst mitgeteilte Nummer ist in jedem Fall richtig. Die vom Berufungsge-
richt zitierte Entscheidung des VI. Zivilsenats (Beschluss vom 1. März 2005
- VI ZB 65/04, NJW-RR 2005, 862) kann nicht herangezogen werden, weil sie
einen anderen Fall betrifft und im Übrigen nicht deutlich erkennbar wird, inwie-
weit die Anforderungen an die Organisation gesteigert sind, weil sich in den Ak-
ten unterschiedliche Faxnummern befinden. Auch der von der Beschwerde-
erwiderung herangezogene Umstand, dass die von der Bürokraft versehentlich
falsch übertragene Faxnummer eine fünfstellige Vorwahl hatte, hat keinen Be-
zug zu den Organisationspflichten, sondern belegt nur, dass dieser möglicher-
weise aus diesem Grund auch hätte auffallen können, dass die Nummer falsch
war.
3. Der Klägerin war somit unter Aufhebung des Beschlusses des Beru-
fungsgerichts vom 6. September 2010 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
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wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Berufung zu gewähren. Da-
mit ist die Verwerfung der Berufung als unzulässig gegenstandslos.
Kniffka
Bauner
Safari Chabestari
Eick
Halfmeier
Vorinstanzen:
AG Hofgeismar, Entscheidung vom 10.06.2010 - 40 C 475/09 -
LG Kassel, Entscheidung vom 06.09.2010 - 1 S 251/10 -