Urteil des BGH vom 16.06.2011

Leitsatzentscheidung zu Ersatzstück, Golf, Fahrzeug, Reifen, Zwangsvollstreckungsverfahren

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VII ZB 114/09
vom
16. Juni 2011
in dem Zwangsvollstreckungsverfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO §§ 811 Abs. 1 Nr. 5, 811a Abs. 1 Satz 1
Die Austauschpfändung eines nach § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO unpfändbaren Kraftfahr-
zeuges ist nur zulässig, wenn das Ersatzstück eine annähernd gleiche Haltbarkeit
und Lebensdauer wie das gepfändete Fahrzeug aufweist.
Das ist dann nicht der Fall, wenn das gepfändete Kraftfahrzeug neun Jahre alt mit
einer Laufleistung von 50.000 km, das Ersatzstück dagegen 19 Jahre alt mit einer
Laufleistung von 200.000 km ist.
BGH, Beschluss vom 16. Juni 2011 - VII ZB 114/09 - LG Hanau
AG Schlüchtern
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Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. Juni 2011 durch den
Richter Dr. Kuffer, die Richterin Safari Chabestari, den Richter Dr. Eick, den
Richter Halfmeier und den Richter Prof. Leupertz
beschlossen:
Auf die Rechtsmittel der Schuldnerin werden der Beschluss der
8. Zivilkammer des Landgerichts Hanau vom 28. Oktober 2009
und der Beschluss des Amtsgerichts Schlüchtern vom 2. April
2009 aufgehoben.
Der Antrag der Gläubigerin vom 13. März 2009, die Austausch-
pfändung des Pkw Audi TT 1,8 T Roadster/Cabrio der Schuldnerin
mit dem amtlichen Kennzeichen M. gegen die Ersatzleis-
tung Volkswagen Golf II 1,3 G-Kat mit der Fahrgestellnummer
W. zuzulassen, wird zurückgewiesen.
Im Übrigen wird die Sache zur Entscheidung über den Hilfsantrag
an das Amtsgericht Schlüchtern zurückverwiesen.
Die Gläubigerin trägt die Kosten der Rechtsmittelverfahren.
Gegenstandswert: 11.750
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Gründe:
I.
Die Gläubigerin betreibt die Zwangsvollstreckung wegen einer Forderung
von insgesamt 46.014,09
€ gegen die Schuldnerin.
Die Schuldnerin ist im Besitz eines Audi TT 1,8 T Roadster/Cabrio, Bau-
jahr 2000, mit einem Händlerverkaufswert von 12.300
€. Mit diesem Fahrzeug
legt sie die Wegstrecke zwischen ihrem Wohnort und ihren Arbeitsstellen in den
M.-K.-Kliniken mit Dienstorten in S. und G. zurück, wo sie als Krankenschwes-
ter im Schichtdienst arbeitet.
Die Gläubigerin hat das Fahrzeug am 8. Mai 2008 durch den Gerichts-
vollzieher pfänden lassen. Mit Schreiben vom 13. März 2009 hat sie beantragt,
eine Austauschpfändung mit der Maßgabe zuzulassen, dass der gepfändete
Pkw auszutauschen ist gegen den Pkw Volkswagen Golf II 1,3 G-Kat, Baujahr
1990. Dieses Fahrzeug weist laut TÜV-Bericht vom April 2008 einen Kilometer-
stand von ca. 200.000 und oberflächliche Verrostungen an der Hinterachse auf
und hat "überalterte" Reifen.
Die Rechtspflegerin beim Amtsgericht hat mit Beschluss vom
2. April 2009 die Austauschpfändung für zulässig erklärt. Die sofortige Be-
schwerde ist ohne Erfolg geblieben. Das Beschwerdegericht hat die Rechtsbe-
schwerde zugelassen. Mit dieser begehrt die Schuldnerin die Aufhebung der
Austauschpfändung.
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II.
Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthafte und auch im Übri-
gen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Das Beschwerdegericht führt aus, der Pkw der Schuldnerin sei nach
§ 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO unpfändbar. Die Voraussetzungen für eine Austausch-
pfändung gemäß § 811a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 ZPO lägen vor, es sei zu
erwarten, dass der Vollstreckungserlös den Wert des Ersatzstückes um ein
Vielfaches übersteigen und daher ein erheblicher Beitrag zur Tilgung der titulier-
ten Forderung geleistet werde. Das Ersatzstück Pkw VW Golf genüge auch
dem geschützten Verwendungszweck, es sei nach Angaben des Zeugen V. und
dem TÜV-Bericht vom April 2008 fahrtüchtig. Die Reifen seien zwar "überaltert",
der Zeuge V., bei dem sich der PKW befinde, habe sich jedoch bereit erklärt,
neue Reifen aufzuziehen. Der Rost auf der Hinterachse sei nach Bekundung
des Zeugen V. lediglich oberflächlich und habe keinen Einfluss auf die Fahr-
tüchtigkeit. Das unterschiedliche Alter der Fahrzeuge stehe der Austauschpfän-
dung nicht entgegen. Auch der gepfändete Audi TT sei kein Neufahrzeug, son-
dern ein solches des Baujahrs 2000.
2. Das hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
a) Zutreffend ist die Ansicht des Beschwerdegerichts, die Schuldnerin
könne sich auf die Unpfändbarkeit des Kraftfahrzeuges Audi TT berufen, § 811
Abs. 1 Nr. 5 ZPO, weil sie das Fahrzeug für ihre Fahrten zur Arbeitsstelle be-
nutze und hierauf zur Erzielung von Einkünften angewiesen sei. Das wird von
der Rechtsbeschwerde hingenommen.
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b) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts genügt das Ersatz-
stück jedoch nicht dem geschützten Verwendungszweck der Fortführung der
Erwerbstätigkeit, § 811a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO.
aa) Die Pfändungsverbote des § 811 Abs. 1 ZPO dienen dem Schutz des
Schuldners aus sozialen Gründen im öffentlichen Interesse und beschränken
die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen mit Hilfe staatlicher Zwangsvollstre-
ckungsmaßnahmen. Sie sind Ausfluss der in Art. 1 GG und Art. 2 GG garantier-
ten Menschenwürde bzw. allgemeinen Handlungsfreiheit und enthalten eine
Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1,
Art. 28 Abs. 1 GG). Dem Schuldner und seinen Familienangehörigen soll durch
sie die wirtschaftliche Existenz erhalten werden, um - unabhängig von
Sozialhilfe - ein bescheidenes, der Würde des Menschen entsprechendes
Leben führen zu können (BGH, Beschluss vom 19. März 2004 - IXa ZB 321/03,
NJW-RR 2004, 789).
Innerhalb dieses allgemeinen Rahmens soll durch § 811 Abs. 1 Nr. 5
ZPO erreicht werden, dass der Schuldner seine Arbeitskraft für sich und seine
Familienangehörigen einsetzen kann; er soll auch künftig den Unterhalt für sich
und seine Familienangehörigen aus eigenen Kräften erwirtschaften können
(BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - VII ZB 16/09, NJW-RR 2010, 642).
bb) Bei Fahrzeugen, die dem Schuldner das Erreichen seines Arbeits-
platzes am Dienstort ermöglichen, ist ein Austausch nach § 811a Abs. 1 ZPO
grundsätzlich möglich. Ein höherwertiges Fahrzeug kann in der Regel gegen
einen einfachen Pkw ausgetauscht werden. Er muss lediglich dem geschützten
Verwendungszweck nach seiner Ausgestaltung genügen, er muss jedoch nicht
von gleicher Art und Güte sein (MünchKomm-ZPO/Gruber, 3. Aufl., § 811a
Rn. 3; Musielak/Becker, ZPO, 7. Aufl., § 811a Rn. 2; PG/Flury, ZPO, § 811a
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Rn. 3; Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 811a Rn. 3; a.M. Zöller/Stöber,
ZPO, 28. Aufl., § 811a Rn. 3).
cc) Allerdings ist dem Schutzzweck des § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO nur dann
genüge getan, wenn die Fortsetzung der Erwerbstätigkeit auch zukünftig und
für einen nicht nur kurzfristigen Zeitraum gewährleistet ist. Der Schutz des
Schuldners nach § 811 ZPO wäre unvollkommen, wenn das Ersatzstück nicht
die annähernd gleiche Haltbarkeit und Lebensdauer wie der gepfändete Ge-
genstand aufweisen würde (Stein/Jonas/Münzberg, aaO Rn. 3; PG/Flury, aaO
Rn. 3; Zöller/Stöber, aaO Rn. 3; Musielak/Becker, aaO Rn. 2; MünchKomm-
ZPO/Gruber, aaO Rn. 3).
dd) Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts kann nicht davon
ausgegangen werden, dass die Haltbarkeit und die Lebensdauer des Ersatz-
stückes der des gepfändeten Gegenstandes annähernd gleich kommt. Der Audi
der Schuldnerin war im Zeitpunkt der Austauschpfändung neun Jahre alt, das
Ersatzstück VW Golf war 19 Jahre alt. Der Audi besaß eine Laufleistung von ca.
50.000 km, der Golf eine solche von 200.000 km. Zudem waren die Reifen des
Golfs überaltert und die Hinterachse angerostet. Die Zusage des Zeugen V.,
neue Reifen aufzuziehen, muss mangels Rechtserheblichkeit außer Betracht
bleiben, da der Zeuge am Zwangsvollstreckungsverfahren nicht beteiligt ist. Es
liegt daher mangels vergleichbarer Haltbarkeit kein Ersatzstück vor, das geeig-
net wäre, den durch das Pfändungsverbot des § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO ge-
schützten Verwendungszweck zu erfüllen.
Die angefochtenen Beschlüsse sind daher aufzuheben und der Antrag
der Gläubigerin auf Zulassung der Austauschpfändung mit dem angebotenen
Ersatzstück VW Golf II ist zurückzuweisen. Das Amtsgericht wird nunmehr über
den hilfsweise gestellten Antrag auf Zulassung der Austauschpfändung nach
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§ 811a Abs. 1 Satz 1 2. Alternative ZPO durch Überlassung des zur Beschaf-
fung eines Ersatzstückes erforderlichen Geldbetrages entscheiden müssen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
Kuffer Safari Chabestari Eick
Halfmeier Leupertz
Vorinstanzen:
AG Schlüchtern, Entscheidung vom 02.04.2009 - 1 M 383/09 -
LG Hanau, Entscheidung vom 28.10.2009 - 8 T 34/09 -
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