Urteil des BGH vom 11.10.2016

Leitsatzentscheidung zu Einwilligung des Patienten, Eingriff, Operation, Begriff

ECLI:DE:BGH:2016:111016UVIZR462.15.0
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 462/15
Verkündet am:
11. Oktober 2016
Böhringer-Mangold
Justizamtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 611, § 280 Abs. 1; § 823 Abs. 1 Aa, Dd
Über das einem ärztlichen Eingriff spezifisch anhaftende Risiko der Lähmung des
Beines oder Fußes, das bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten
besonders belastet, ist der Patient aufzuklären. Ohne Vorliegen besonderer Umstän-
de gibt es grundsätzlich keinen Grund für die Annahme, der im Rahmen der Aufklä-
rung verwendete Begriff "Lähmung" impliziere nicht die Gefahr einer dauerhaften
Lähmung, sondern sei einschränkend dahin zu verstehen, dass er nur vorüberge-
hende Lähmungszustände erfasse. Damit, dass der Patient einer solchen Fehlvor-
stellung unterliegt, muss - bei Fehlen entsprechender Anhaltspunkte - der aufklären-
de Arzt nicht rechnen.
BGH, Urteil vom 11. Oktober 2016 - VI ZR 462/15 - Thüringer Oberlandesgericht
Landgericht Erfurt
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 11. Oktober 2016 durch den Vorsitzenden Richter Galke, den Richter
Wellner, die Richterin von Pentz, den Richter Offenloch und die Richterin Müller
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 4. Zivilsenats
des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena vom 23. Juli 2015 auf-
gehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Beru-
fungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger nimmt die Beklagten wegen behaupteter ärztlicher Behand-
lungs- und Aufklärungsfehler auf Ersatz des materiellen und immateriellen
Schadens in Anspruch.
Dem Kläger, Sportlehrer und Handballtrainer, wurde wegen einer Hüft-
kopfnekrose rechts von dem Beklagten zu 2 im Hause der Beklagten zu 1 am
1. Juni 2010 eine Hüftgelenktotalendoprothese implantiert. Infolge der Operati-
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on leidet der Kläger an einer Plexusläsion, einer Fußheber- einschließlich einer
Zehenheberparese und einer Fußsenkerparese. Ihm ist es seither nicht mehr
möglich, normal zu stehen und zu gehen; auch Sport kann er nicht mehr trei-
ben.
Das Aufklärungsgespräch am Tag vor der Operation hatte die Assistenz-
ärztin Dr. Sch. durchgeführt. An diesem Tag unterzeichnete der Kläger einen
Aufklärungsbogen, in welchem auf das Risiko von "Nervenverletzungen" hin-
gewiesen wurde, die "dauerhafte Störungen wie z.B. eine Teillähmung des Bei-
nes verursachen können."
Der Kläger behauptet, die Nervenverletzung sei durch Behandlungsfehler
während und unmittelbar nach der Operation verursacht worden. Zudem sei er
vor der Operation über das Risiko einer dauerhaften Lähmung nicht aufgeklärt
worden.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klä-
gers hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil dahingehend abge-
ändert, dass es die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von
40.000 EUR verurteilt und die Ersatzpflicht der Beklagten für weitere immateri-
elle und materielle Schäden festgestellt hat. Mit der vom Senat zugelassenen
Revision beantragen die Beklagten die Wiederherstellung des landgerichtlichen
Urteils.
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Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat die Beklagtenwegen Verletzung der Aufklä-
rungspflicht durch die Assistenzärztin Dr. Sch. zum Ersatz der immateriellen
und materiellen Schäden für verpflichtet erachtet. Aus der Rechtsprechung ins-
besondere des Bundesgerichtshofs ergebe sich, dass der Kläger auf das Risiko
einer dauerhaften Lähmung habe hingewiesen werden müssen. Den diesbe-
züglichen Beweis hätten die Beklagten nicht geführt. Die als Zeugin vernomme-
ne Assistenzärztin Dr. Sch. habe lediglich ausgesagt, dass es zum fraglichen
Zeitpunkt eigentlich - so wie heute - zum Standard eines Aufklärungsgesprächs
gehört habe, auf das Risiko einer Lähmung als schlimmste Folge einer Nerven-
verletzung hinzuweisen. Hingegen ergebe sich aus ihrer Aussage nicht, dass
sie den Kläger über das Risiko einer dauerhaften Nervenschädigung bzw. dau-
erhaften Lähmung aufgeklärt habe; vielmehr habe sie ausdrücklich bekundet,
dass ein solcher Hinweis ohne entsprechende Nachfrage des Patienten nicht
automatisch Inhalt der Aufklärung sei. Es reiche nicht aus, dass in dem Aufklä-
rungsbogen der Begriff der Lähmung, der auch die dauerhafte Lähmung erfas-
se, enthalten gewesen sei. Denn der Kläger habe in seiner persönlichen Anhö-
rung erklärt, warum er den Inhalt des Aufklärungsbogens nicht richtig verstan-
den habe. Danach habe er den Bogen nur flüchtig gelesen. Er habe nicht nach-
gefragt, weil er sehr aufgeregt gewesen sei und nur die Hälfte von dem mitbe-
kommen, was die Ärztin gesagt habe. Bei der Nennung des Begriffs Lähmung
habe er sich nicht automatisch vorgestellt, dass das Risiko einer dauernden
Lähmung bestehen könne. In dem Aufklärungsgespräch sei er auf die Gefahr
einer dauerhaften Lähmung nicht hingewiesen worden. Unter diesen Umstän-
den reiche die Indizwirkung der schriftlichen Einwilligungserklärung auf dem
Aufklärungsbogen nicht aus, den Beweis einer Aufklärung über das Risiko einer
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dauerhaften Lähmung als geführt anzusehen. Der Kläger habe weiter glaubhaft
bekundet, dass er sich die "Angelegenheit" sicher nochmals überlegt hätte,
wenn er darüber aufgeklärt worden wäre, dass als Folge einer möglichen Ner-
venverletzung nicht lediglich eine Lähmung, sondern auch eine dauerhafte
Lähmung verbleiben könne. Daraus ergebe sich, dass sich der Kläger bei ord-
nungsgemäßer Aufklärung in einem echten Entscheidungskonflikt befunden
hätte. Mangels wirksamer Einwilligung sei der Eingriff daher rechtswidrig gewe-
sen, so dass die Beklagten für die dadurch entstandenen Gesundheitsschäden
einzustehen hätten.
II.
Das angefochtene Urteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht
stand. Mit Erfolg wendet sich die Revision gegen die Beurteilungdes Beru-
fungsgerichts, der Kläger sei nicht ausreichend aufgeklärt worden.
1. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass ein Arzt grund-
sätzlich für alle den Gesundheitszustand des Patienten betreffenden nachteili-
gen Folgen haftet, wenn der ärztliche Eingriff nicht durch eine wirksame Einwil-
ligung des Patienten gedeckt und damit rechtswidrig ist. Richtig ist auch, dass
eine wirksame Einwilligung des Patienten dessen ordnungsgemäße Aufklärung
voraussetzt (vgl. Senatsurteil vom 30. September 2014 - VI ZR 443/13, VersR
2015, 196 Rn. 6; vom 7. November 2006 - VI ZR 206/05, BGHZ 169, 364 Rn. 7)
und dass der aufklärungspflichtige Arzt nachzuweisen hat, dass er die von ihm
geschuldete Aufklärung erbracht hat (Senatsurteil vom 28. Januar 2014 - VI ZR
143/13, VersR 2014, 588 Rn. 11). Auch trifft es zu, dass insoweit in erster Linie
der Inhalt des Aufklärungsgesprächs maßgeblich ist, weil es jedenfalls bei Ein-
griffen der vorliegenden Art eines solchen bedarf und schriftliche Merkblätter
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nur ergänzend verwendet werden dürfen (vgl. Senatsurteil vom 25. März 2003
- VI ZR 131/02, NJW 2003, 2012, 2013 mwN und nunmehr - zur Notwendigkeit
des Gesprächs - § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB). Das von dem Arzt und dem
Patienten unterzeichnete Formular, mit dem der Patient sein Einverständnis zu
dem ärztlichen Eingriff gegeben hat, ist lediglich ein Indiz für den Inhalt des
Aufklärungsgesprächs (Senatsurteil vom 28. Januar 2014 - VI ZR 143/13,
VersR 2014, 588 Rn. 13).
2. Rechtsfehlerhaft ist allerdings die Annahme des Berufungsgerichts,
dass bei Bestehen des Risikos einer nicht nur vorübergehenden Lähmung der
vorliegenden Art (zur Aufklärung über das Risiko einer Querschnittslähmung
vgl. allerdings Senatsurteil vom 4. April 1995 - VI ZR 95/94, VersR 1995, 1055,
1056) eine Aufklärung über das Risiko einer "Lähmung" nicht genüge, sondern
über das Risiko einer "dauerhaften Lähmung" aufgeklärt werden müsse.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats muss der Patient nur "im
Großen und Ganzen" über Chancen und Risiken der Behandlung aufgeklärt
werden. Nicht erforderlich ist die exakte medizinische Beschreibung der in Be-
tracht kommenden Risiken. Dem Patienten muss aber eine allgemeine Vorstel-
lung von dem Ausmaß der mit dem Eingriff verbundenen Gefahren vermittelt
vom 6. Juli 2010 - VI ZR 198/09, VersR 2010, 1220 Rn. 11; vom 14. März 2006
- VI ZR 279/04, BGHZ 166, 336 Rn. 13; vom 7. April 1992 - VI ZR 192/91,
VersR 1992, 960, 961; vom 7. Februar 1984 - VI ZR 174/82, BGHZ 90, 103,
106, 108). Dabei ist über schwerwiegende Risiken, die mit einer Operation ver-
bunden sind, grundsätzlich auch dann aufzuklären, wenn sie sich nur selten
verwirklichen. Entscheidend für die ärztliche Hinweispflicht ist, ob das betref-
fende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung
die Lebensführung des Patienten besonders belastet (Senatsurteile vom
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30. September 2014 - VI ZR 443/13, VersR 2015, 196 Rn. 6; vom 15. Februar
2000 - VI ZR 48/99, BGHZ 144, 1, 5 f.; vom 21. November 1995 - VI ZR 341/94,
VersR 1996, 330, 331; vom 7. Februar 1984 - VI ZR 174/82, BGHZ 90, 103,
106). Die Aufklärung muss zudem für den Patienten sprachlich und inhaltlich
verständlich sein (vgl. § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB), wobei es auf die indivi-
duelle Verständnismöglichkeit und damit auch auf den Zustand des Patienten
ankommt.
b) Demnach ist auch in für den Patienten verständlicher Weise über das
einem Eingriff spezifisch anhaftende Risiko einer Lähmung aufzuklären. Der
Senat hat in Bezug auf den Inhalt einer solchen Aufklärung bereits entschieden,
dass beispielsweise bei Schluckimpfungen gegen Kinderlähmung der Hinweis
auf das Risiko von "Lähmungen" auch das Risiko der Kinderlähmung sowie ei-
ne Lähmung aufgrund des Guillain-Barré-Syndroms erfasst (Senatsurteil vom
vom 15. Februar 2000 - VI ZR 48/99, BGHZ 144, 1, 7). Hingegen genügt jeden-
falls im Falle einer fremdnützigen Blutspende der bloße Hinweis auf "Schädi-
gungen von Nerven" - anders als ein Hinweis auf eine "Lähmung" als mögliche
Folge einer Nervschädigung - wegen des breiten Spektrums solcher Schädi-
gungen nicht (Senatsurteil vom 14. März 2006 - VI ZR 279/04, BGHZ 166, 336
Rn. 15). In seinem Urteil vom 29. September 1998 - VI ZR 268/97 (VersR 1999,
190, 191) hat der Senat ferner entschieden, dass der in einer schriftlichen Ein-
willigungserklärung zur operativen Beseitigung eines Lipoms am Oberschenkel
als eingriffsspezifisches Risiko erwähnte Begriff "Lähmung" auch die dauernde
Lähmung umfasst. Der Einwilligungserklärung wurde im dortigen Fall nur des-
halb die Indizwirkung für eine ordnungsgemäße Aufklärung abgesprochen, weil
die damalige Patientin substantiiert vorgetragen hatte, auf ihre Nachfrage, was
"Lähmung" bedeute, sei ihr erklärt worden, dass es zu einer durch eine Ein-
klemmung des Nervs bedingten kurzzeitigen Lähmung kommen könne.
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Ohne Vorliegen derartiger besonderer Umstände gibt es hingegen
grundsätzlich keinen Grund für die Annahme, der Begriff "Lähmung" impliziere
in Fällen wie dem vorliegenden nicht die Gefahr einer dauerhaften Lähmung,
sondern sei einschränkend dahin zu verstehen, dass er nur vorübergehende
Lähmungszustände erfasse. Damit, dass der Patient einer solchen Fehlvorstel-
lung unterliegt, muss - bei Fehlen entsprechender Anhaltspunkte - der aufklä-
rende Arzt nicht rechnen. Will der Patient Einzelheiten über Art und Größe des
Lähmungsrisikos wissen, kann er diese erfragen (vgl. Senatsurteil vom 7. Feb-
ruar 1984 - VI ZR 174/82, BGHZ 90, 103, 109).
3. Nach diesen Grundsätzen hatten die Beklagten vorliegend lediglich
nachzuweisen, dass der Kläger vor der Operation über das Risiko einer "Läh-
mung" aufgeklärt worden war; des Nachweises einer Aufklärung über das Risi-
ko einer "dauerhaften Lähmung" bedurfte es hingegen nicht. Etwas anderes
ergibt sich nicht aus den Angaben des Klägers in seiner persönlichen Anhörung
vor dem Berufungsgericht, er habe sich unter dem Begriff "Lähmung" nicht au-
tomatisch vorgestellt, dass das Risiko einer dauernden Lähmung bestehen
könne, und er habe nicht nachgefragt, weil er aufgeregt gewesen sei und auch
nur die Hälfte von dem mitbekommen habe, was die Ärztin geäußert habe. An-
haltspunkte dafür, dass der das Aufklärungsgespräch führenden Assistenzärztin
Dr. Sch. diesbezügliche Fehlvorstellungen, Unklarheiten oder Aufmerksam-
keitsdefizite auf Seiten des Klägers erkennbar waren oder hätten erkennbar
sein müssen, sind weder festgestellt noch ersichtlich.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wurde der Kläger über
das dem Eingriff anhaftende Risiko einer "Lähmung" aufgeklärt. An der Richtig-
keit der Aussage der Zeugin Dr. Sch., dass die Aufklärung über das Risiko einer
Lähmung eigentlich schon im Jahr 2010 zum Standard gehört habe, hat das
Berufungsgericht keinen Zweifel geäußert. Es hat sich bei seiner Beurteilung
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auf die von ihm für glaubhaft erachteten Angaben des Klägers gestützt, er habe
sich bei der Nennung des Begriffs einer Lähmung nicht automatisch vorgestellt,
dass das Risiko einer dauernden Lähmung bestehen könne, und er hätte sich
die Angelegenheit nochmals überlegt, wenn er darüber aufgeklärt worden wäre,
dass als Folge einer möglichen Nervenverletzung nicht lediglich eine Lähmung,
sondern auch eine dauernde Lähmung verbleiben könne.
4. Im weiteren Verfahren wird sich das Berufungsgericht mit den Beru-
fungsangriffen des Klägers gegen die Verneinung eines Behandlungsfehlers
durch das Landgericht zu befassen haben.
Galke
Wellner
von Pentz
Offenloch
Müller
Vorinstanzen:
LG Erfurt, Entscheidung vom 12.12.2013 - 10 O 316/12 -
OLG Jena, Entscheidung vom 23.07.2015 - 4 U 18/14 -
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