Urteil des BGH vom 10.07.2012

Leitsatzentscheidung zu Ausschluss der Haftung, Anhaltende Somatoforme Schmerzstörung, Berufliche Vorsorge, Versorgung, Sicherheit

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 127/11
Verkündet am:
10. Juli 2012
Holmes
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 823 Aa
Für die Verneinung des Zurechnungszusammenhangs zwischen unfallbedingten Ver-
letzungen und Folgeschäden wegen einer Begehrensneurose ist es erforderlich, aber
auch ausreichend, dass die Beschwerden entscheidend durch eine neurotische Be-
gehrenshaltung geprägt sind.
BGH, Urteil vom 10. Juli 2012 - VI ZR 127/11 - OLG Stuttgart
LG Stuttgart
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 10. Juli 2012 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Zoll,
Wellner und Pauge und die Richterin von Pentz
für Recht erkannt:
Die Revision gegen das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlan-
desgerichts Stuttgart vom 29. März 2011 wird auf Kosten des Klä-
gers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger erlitt am 14. Dezember 1993 als Fahrer seines PKW einen
Verkehrsunfall, für dessen Schadensfolgen der Beklagte zu 1 als Fahrer und
die Beklagte zu 2 als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners dem Grunde
nach in vollem Umfang haften. Die Beklagte zu 2 zahlte auf die geltend ge-
machten materiellen Schäden 14.479,55 DM (7.403,28
€) und als Schmerzens-
geld einen Betrag von 2.000 DM (1.022,58
€). Der Kläger begehrt weiteren
Schadensersatz und macht geltend, er leide aufgrund der Unfallverletzungen
fortwährend an Schmerzen und habe deshalb keiner Erwerbstätigkeit mehr
nachgehen können; ihm seien unfallbedingt unter anderem Verdienstausfall, ein
Haushaltsführungsschaden, Kosten für medizinische Behandlung sowie Auf-
wendungen durch Scheidung seiner Ehe entstanden.
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Das Landgericht hat die auf Zahlung von 579.900,41
€, eines Schmer-
zensgeldes von 50.000
€ sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich
weiterer materieller und immaterieller Schäden gerichtete Klage nach Einholung
eines orthopädisch-traumatologischen Gutachtens, eines neurochirurgischen
Gutachtens sowie eines psychosomatischen Gutachtens abgewiesen. Auf die
Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil
teilweise abgeändert und der Klage unter Zurückweisung der weitergehenden
Berufung in Höhe von 15.230,29
€ nebst Zinsen stattgegeben (4.230,29 €
für materielle und 11.000
€ für immaterielle Schäden). Der Kläger nimmt die
Klageabweisung hinsichtlich materieller Schäden aus dem Zeitraum bis zum
31. Dezember 1994 in Höhe von 20.825,44
€ hin. Mit der vom Berufungsgericht
zugelassenen Revision verfolgt er sein Klagebegehren im Übrigen weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht führt aus, der Kläger habe durch den Unfall eine
Wirbelsäulenprellung mit Distorsion der Halswirbelsäule, die dem Grad I nach
Erdmann entspreche, sowie Prellungen des Thorax und des Brustbeins erlitten.
Eine Fraktur der Hals- und Brustwirbelsäule sei ebenso wenig eingetreten wie
Bewusstlosigkeit oder eine Gehirnerschütterung. Eine durch den Unfall verur-
sachte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sei auch nach dem für die
haftungsausfüllende Kausalität geltenden reduzierten Beweismaß des § 287
ZPO nicht festzustellen. Bei dem Kläger habe sich unmittelbar nach dem Unfall
allerdings eine akute Belastungsreaktion entwickelt. Es liege eine Anpassungs-
störung vor, die nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach be-
lastenden Lebensereignissen auftreten könne und durch depressive Stimmung,
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Angst oder Sorge und das Gefühl, mit alltäglichen Gegebenheiten nicht zu-
rechtzukommen, gekennzeichnet sei. Daneben sei eine anhaltende somato-
forme Schmerzstörung eingetreten, deren Chronifizierung auf eine psychische
Somatik hindeute. Ferner habe sich infolge des Unfalls eine dissoziative Stö-
rung der Bewegungs- und Sinnesempfindung entwickelt, die sich mit Sympto-
men wie der auffälligen Körperhaltung des Klägers, Ataxien (Störungen der
Koordination von Bewegungsabläufen), Pelzigkeitsgefühlen sowie einer ver-
stärkten Schmerzwahrnehmung äußere.
Die durch den Unfall ab dem Jahr 1995 eingetretenen Beschwerden sei-
en den Beklagten jedoch schadensrechtlich nicht mehr zuzurechnen. Das vom
Kläger erlittene Halswirbelsäulenschleudertrauma mit Prellungen gehe zwar
über das Maß einer Bagatellverletzung hinaus, die durch ein grobes Missver-
hältnis zwischen einer im Alltagsleben typischen und häufig auftretenden Ver-
letzung und der psychischen Reaktion gekennzeichnet sei. Die Zurechnung sei
aber zu versagen, weil die Beschwerden auf einer Renten- oder Begehrensneu-
rose beruhten. Diese zeichne sich dadurch aus, dass der Geschädigte den erlit-
tenen Unfall in dem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherheit le-
diglich zum Anlass nehme, den Schwierigkeiten und Belastungen des Erwerbs-
lebens auszuweichen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. Hai.
hätten zunächst die somatoform-funktionelle Symptomatik und danach persön-
lichkeitsbedingte Faktoren im Vordergrund gestanden. Im ersten Jahr nach dem
Unfall sei dem Unfallgeschehen etwa 60 % Einfluss auf die Beschwerden zuzu-
ordnen und der Persönlichkeit etwa 40 %; ab dem zweiten Jahr würden die per-
sönlichkeitsbedingten Faktoren überwiegen und etwa 90 % der Beschwerden
und Funktionseinschränkungen bedingen. Da neurotische Fehlentwicklungen
häufig nicht nur auf einer Ursache beruhten, sei es sachgerecht, schon dann
den Zurechnungszusammenhang zum Unfallereignis abzulehnen, wenn der
neurotische Zustand des Geschädigten entscheidend von der Begehrensvor-
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stellung geprägt, der Versorgungswunsch also der wesentliche ausschlagge-
bende Faktor gewesen sei. Dies sei dann der Fall, wenn - wie im Streitfall -
90 % des Krankheitsbildes durch eine Begehrensneurose verursacht würden.
Dem Kläger seien bis zum 31. Januar 1994 materielle Schäden in Höhe
von insgesamt 4.230,29
€ entstanden (76,69 € durch die Beschädigung einer
Jacke, 894,24
€ Aufwendungen im Zusammenhang mit medizinischen Behand-
lungen einschließlich Fahrtkosten, 940,16
€ Verdienstausfall sowie ein Haus-
haltsführungsschaden in Höhe von 2.319,20
€). Als Schmerzensgeld sei für die
zurechenbaren Verletzungsfolgen ein Betrag von insgesamt 12.000
€ ange-
messen. Davon seien dem Kläger unter Berücksichtigung der vorgerichtlichen
Zahlung noch 11.000
€ zuzusprechen. Der Feststellungsantrag sei unbegrün-
det, weil nach den vorgenannten Ausführungen dem Unfall zurechenbare Schä-
den nach dem 31. Dezember 1994 nicht mehr festzustellen seien. Der krank-
heitsbedingt verfallene Resturlaubsanspruch aus dem Jahr 1993 und der
krankheitsbedingt nicht entstandene Urlaubsanspruch für das Jahr 1994 be-
gründeten keinen Schadensersatzanspruch, weil der Kläger hierdurch keine
Vermögenseinbuße erlitten habe.
II.
Die Revision hat keinen Erfolg. Die Beurteilung des Berufungsgerichts,
für die ab dem Jahr 1995 eingetretenen Verletzungsfolgen fehle der haftungs-
rechtliche Zurechnungszusammenhang, ist aus Rechtsgründen nicht zu bean-
standen.
1. Zutreffend ist der rechtliche Ausgangspunkt des Berufungsgerichts zur
Haftung für psychische Folgeschäden.
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a) Der haftungsrechtlich für eine Körperverletzung oder Gesundheits-
schädigung verantwortliche Schädiger hat grundsätzlich auch für Folgewirkun-
gen einzustehen, die auf einer psychischen Prädisposition oder einer neuroti-
schen Fehlverarbeitung beruhen; für die Ersatzpflicht als haftungsausfüllende
Folgewirkung des Unfallgeschehens genügt die hinreichende Gewissheit, dass
diese Folge ohne den Unfall nicht eingetreten wäre (Senatsurteile vom 30. April
1996 - VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341, 343 f., 346; vom 11. November 1997
- VI ZR 376/96, BGHZ 137, 142, 145; vom 9. April 1991 - VI ZR 106/90, VersR
1991, 704, 705; vom 25. Februar 1997 - VI ZR 101/96, VersR 1997, 752, 753
und vom 16. März 2004 - VI ZR 138/03, VersR 2004, 874; MünchKommBGB/
Oetker, 6. Aufl., § 249 Rn. 191; Staudinger/Schiemann, BGB, Neubearbeitung
2005, § 249 Rn. 39). Die Zurechnung von Folgeschäden scheitert nicht daran,
dass sie auf einer konstitutiven Schwäche des Verletzten beruhen. Der Schädi-
ger kann sich nicht darauf berufen, dass der Schaden nur deshalb eingetreten
sei oder ein besonderes Ausmaß erlangt habe, weil der Verletzte infolge von
Anomalien oder Dispositionen zur Krankheit besonders anfällig gewesen sei.
Wer einen gesundheitlich schon geschwächten Menschen verletzt, kann nicht
verlangen, so gestellt zu werden, als wäre der Betroffene gesund gewesen
(Senatsurteile vom 30. April 1996 - VI ZR 55/95, aaO S. 345 und vom 19. April
2005 - VI ZR 175/04, VersR 2005, 945, 946).
b) Mit Recht hat das Berufungsgericht die Zurechnung nicht unter dem
Gesichtspunkt einer Bagatellverletzung abgelehnt, was die Revision als ihr
günstig hinnimmt. In Extremfällen scheitert die Zurechnung psychischer Folge-
schäden, wenn das schädigende Ereignis ganz geringfügig ist, nicht gerade
speziell die Schadensanlage des Verletzten trifft und deshalb die psychische
Reaktion im konkreten Fall, weil in einem groben Missverhältnis zu dem Anlass
stehend, schlechterdings nicht mehr verständlich ist (Senatsurteile vom
30. April 1996 - VI ZR 55/95, aaO S. 346; vom 11. November 1997 - VI ZR
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376/96, aaO S. 146 ff.; vom 25. Februar 1997 - VI ZR 101/96, aaO und vom
11. November 1997 - VI ZR 146/96, VersR 1998, 200, 201; MünchKommBGB/
Oetker, aaO Rn. 192). Das Halswirbelschleudertrauma und die Prellung ande-
rer Körperteile, die der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts
als unmittelbare Unfallfolge erlitten hat, hat das Berufungsgericht mit Recht als
nicht geringfügig bewertet (vgl. Senatsurteile vom 30. April 1996 - VI ZR 55/95,
aaO S. 349 und vom 16. März 2004 - VI ZR 138/03, VersR 2004, 874; Schubert
in Bamberger/Roth, BeckOK, BGB, § 249 Rn. 68 (Stand März 2011)).
c) Zutreffend sind auch die vom Berufungsgericht angenommenen recht-
lichen Voraussetzungen für einen Ausschluss der Zurechnung unter dem Ge-
sichtspunkt einer Begehrensneurose. Folgeschäden, die wesentlich durch eine
Begehrenshaltung des Geschädigten geprägt sind, können dem Schädiger
nicht zugerechnet werden. Nach der Senatsrechtsprechung und einem Teil der
Literatur scheidet eine Zurechnung des Folgeschadens für sogenannte Renten-
oder Begehrensneurosen aus, die dadurch gekennzeichnet sind, dass der Ge-
schädigte den Unfall in dem neurotischen Streben nach Versorgung und Si-
cherheit lediglich zum Anlass nimmt, den Schwierigkeiten des Erwerbslebens
auszuweichen (Senatsurteile vom 29. Februar 1956 - VI ZR 352/54, BGHZ 20,
137, 142; vom 30. April 1996 - VI ZR 55/95, aaO S. 346; vom 11. November
1997 - VI ZR 376/96, aaO S. 148; vom 25. Februar 1997 - VI ZR 101/96, aaO
und vom 16. März 2004 - VI ZR 138/03, aaO; Erman/Ebert, BGB, 13. Aufl., vor
§ 249 Rn. 50; Küppersbusch, Ersatzansprüche bei Personenschaden, 10. Aufl.,
Rn. 16, 223; NK-BGB/Magnus, 2. Aufl., vor § 249 Rn. 79; Palandt/Grüneberg,
BGB, 71. Aufl., vor § 249 Rn. 39; Soergel/Mertens, BGB, 12. Aufl., vor § 249
Rn. 135; vgl. ferner BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196
Rn. 38; a.A.: Esser/Schmidt, Schuldrecht Band I, Teilband 2, 8. Aufl., S. 173 f.;
Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl., S. 140 f.; Staudinger/Schiemann,
aaO Rn. 40 ff.; vgl. Brandt, VersR 2005, 616, 617 f.).
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Der erkennende Senat hält an seiner Rechtsprechung fest. Der Aus-
schluss der Haftung für Schadensfolgen, die durch eine Begehrenshaltung we-
sentlich geprägt sind, soll kein vorwerfbares Verhalten des Geschädigten sank-
tionieren. Vielmehr soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass eine
Haftung des Schädigers nicht gerechtfertigt ist, wenn bei der Entstehung der
Schadensfolgen die Existenz des Schadensersatzanspruchs als solcher eine
entscheidende Rolle gespielt hat. Der Ausschluss der Haftung für solche Scha-
densfolgen, die durch eine Begehrensvorstellung entscheidend geprägt sind,
ergibt sich aus allgemeinen Grundsätzen der Zurechnung.
aa) Zwar beruhen psychische Beschwerden, auch wenn sie wesentlich
durch eine Begehrenshaltung des Geschädigten geprägt sind, äquivalent kau-
sal auf dem Unfallgeschehen, wenn sie ohne dieses nicht oder nicht in dem
erreichten Ausmaß aufgetreten wären. Diese sich aus der Äquivalenz ergeben-
de weite Haftung für Schadensfolgen grenzt die Rechtsprechung aber durch die
weiteren Zurechnungskriterien der Adäquanz des Kausalverlaufs und des
Schutzzwecks der Norm ein (BGH, Urteile vom 11. November 1999 - III ZR
98/99, VersR 2000, 370, 371 f. und vom 11. Januar 2005 - X ZR 163/02, NJW
2005, 1420, 1421).
bb) Auch für Schadensersatzansprüche, die auf § 823 Abs. 1 BGB beru-
hen, ist in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob die äquivalent und adäquat
kausal herbeigeführten Verletzungsfolgen, für die Ersatz begeht wird, in den
Schutzbereich des Gesetzes fallen, ob sich also Gefahren verwirklicht haben,
zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen wurde (vgl. Senatsurteile vom
22. April 1958 - VI ZR 65/57, BGHZ 27, 137, 139 f. und vom 6. Juni 1989
- VI ZR 241/88, BGHZ 107, 359, 364; BGH, Urteil vom 11. Januar 2005 - X ZR
163/02, S. 1421 f.). Der geltend gemachte Schaden muss in einem inneren Zu-
sammenhang mit der durch den Schädiger geschaffenen Gefahrenlage stehen;
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ein rein äußerlicher, gewissermaßen zufälliger Zusammenhang genügt nicht.
Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten (vgl. Senatsurteile vom
20. September 1988 - VI ZR 37/88, VersR 1988, 1273, 1274; vom 6. Mai 2003
- VI ZR 259/02, VersR 2003, 1128, 1130 und vom 22. Mai 2012 - VI ZR 157/11,
juris Rn. 14). So widerspricht es dem Sinn des Schadensausgleichs, durch
Schadensersatzleistungen eine neurotische Begehrenshaltung, die auf der
Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens beruht, zu verfestigen (vgl. Senatsurteil
vom 29. Februar 1956 - VI ZR 352/54, aaO S. 142 f.). Ebenso widerspricht es
dem Normzweck, wenn der Schädiger für Schadensfolgen aufkommen muss,
die zwar äquivalent kausal auf dem Unfallgeschehen beruhen, bei denen aber
ein neurotisches Streben nach Versorgung und Sicherheit prägend im Vorder-
grund steht (vgl. Senatsurteil vom 11. November 1997 - VI ZR 376/96, aaO
S. 149; MünchKommBGB/Oetker, aaO Rn. 190). In solchen Fällen realisiert
sich das allgemeine Lebensrisiko und nicht mehr das vom Schädiger zu tragen-
de Risiko der Folgen einer Körperverletzung (vgl. Senatsurteile vom 12. No-
vember 1985 - VI ZR 103/84, VersR 1986, 240, 242 und vom 16. März 1993
- VI ZR 101/92, VersR 1993, 589, 590).
cc) Dem steht nicht entgegen, dass der Begriff der Unfall- oder Renten-
neurose in medizinischen Fachkreisen abgelehnt wird (vgl. Foerster in Venzlaff/
Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl., S. 590; ders., MED SACH
1997, 44, 46; Köpp/Studt, FPR 1999, 81, 82; Murer/Kind/Binder, Schweizeri-
sche Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge, 1993, 121,
129 f.; Nedopil, Forensische Psychiatrie, 3. Aufl., S. 57). Zwar ist eine Unfall-
oder Rentenneurose, wie auch der Sachverständige Dr. Hai. ausgeführt hat,
keine eigenständige Krankheit. Die Rechtsprechung zielt aber auch nicht auf
den Ausschluss einer bestimmten Krankheit, sondern auf eine Verneinung des
Zurechnungszusammenhangs für Verletzungsfolgen, die auf einer Begehrens-
haltung beruhen. Solche Begehrenshaltungen müssen ihre Ursache nicht in nur
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einer bestimmten Krankheit haben, sondern können aufgrund unterschiedlicher
Umstände entstehen (vgl. Brandenburg, MED SACH 1997, 40; Köpp/Studt,
aaO). Für die Beurteilung, ob eine neurotische Begehrenshaltung prägend im
Vordergrund steht, kommt es auf den Schweregrad des objektiven Unfallereig-
nisses und seiner objektiven Folgen (vgl. dazu Senatsurteil vom 16. März 1993
- VI ZR 101/92, aaO), auf das subjektive Erleben des Unfalls und seiner Folgen
(vgl. Dahlmann, DAR 1992, 325, 326), auf die Persönlichkeit des Geschädigten
(vgl. Dahlmann, aaO S. 326 ff.) und auf eventuell bestehende sekundäre Motive
an (vgl. Foerster, MED SACH 1997, 44; Murer/Kind/Binder, aaO S. 140 ff.; Ne-
dopil, Forensische Psychiatrie, 3. Aufl., S. 57; vgl. dazu auch schon Senatsurteil
vom 29. Februar 1956 - VI ZR 352/54, BGHZ 20, 137, 143).
dd) Die Frage, ob Beschwerden entscheidend durch eine den Zurech-
nungszusammenhang ausschließende Begehrenshaltung geprägt werden,
kann das Gericht in der Regel nicht ohne besondere Sachkunde beantworten.
Bei der hierzu erforderlichen eingehenden Würdigung der Persönlichkeit des
Betroffenen (vgl. Senatsurteil vom 29. Februar 1956 - VI ZR 352/54, aaO) ist es
daher von besonderer Bedeutung, dass sich der Tatrichter ärztlicher Gutachter
bedient, die auf diesem Gebiet die erforderliche Spezialausbildung und Erfah-
rung haben (vgl. Senatsurteil vom 25. Februar 1997 - VI ZR 101/96, aaO;
Murer/Kind/Binder, aaO, 213, 215 ff.; Schneider/Frister/Olzen, Begutachtung
psychischer Störungen, 2. Aufl. S. 390).
2. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Beschwerden des
Klägers ab dem Jahr 1995 entscheidend durch eine neurotische Begehrenshal-
tung geprägt sind, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
a) Die Revision vermisst Feststellungen zu der Frage, ob bei der seeli-
schen Fehlentwicklung des Klägers ein neurotisches Streben nach Versorgung
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und Sicherheit prägend im Vordergrund stehe. Das Gutachten Dr. Hai. führe
zwar aus, dass die Beschwerden des Klägers zu 90 % auf persönlichkeitsbe-
dingten Faktoren beruhten. Dies allein schließe den Zurechnungszusammen-
hang nicht aus, denn die psychosomatischen Schadensfolgen, die auf der Per-
sönlichkeit des Verletzten beruhten, seien eine Schadensanlage, die der Zu-
rechnung nicht entgegenstehe (vgl. Senatsurteil vom 30. April 1996 - VI ZR
55/95, aaO S. 349).
b) Aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergibt sich jedoch,
dass nach dem Gutachten Dr. Hai., dem das Berufungsgericht folgt, das Be-
schwerdebild ab 1995 entscheidend durch eine Begehrenshaltung des Klägers
geprägt wird. Die dieser Erkenntnis zugrundeliegenden medizinischen Befund-
tatsachen folgert der Sachverständige nicht ausschließlich aus der persönlich-
keitsbedingten Disposition des Klägers zur Entwicklung solcher Störungen.
Vielmehr setzt sich das Gutachten mit der objektiven Schwere der Unfallverlet-
zungen und deren Erleben durch den Kläger auseinander. Es beschäftigt sich
eingehend mit der Persönlichkeitsstruktur des Klägers und seinen sekundären
Motiven. Es legt dar, woran es eine beim Kläger bestehende Begehrenshaltung
festmacht, und liefert die tatsächliche Grundlage für die nicht zu beanstandende
Wertung, dass angesichts der Unfallverletzungen, des Unfallerlebnisses und
der Persönlichkeitsstruktur des Klägers die ab 1995 eingetretenen Beschwer-
den entscheidend durch eine Begehrenshaltung geprägt wurden.
Das Berufungsgericht führt aus, der Sachverständige Dr. Hai. habe dar-
gelegt, dass die Begehrenshaltung ab dem zweiten Jahr nur noch einen eher
äußeren Bezug zu dem Unfall aufgewiesen habe, da das Unfallgeschehen zum
Anlass genommen werde, einen Ausgleich für die durch das Störungsbild erleb-
ten Verluste zu erhalten. Bei der Untersuchung des Klägers habe Dr. Hai. zwar
keine Simulation, wohl aber eine deutliche Diskrepanz der subjektiven Be-
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schwerdebeschreibung zu den körperlichen Beeinträchtigungen festgestellt,
was für eine Begehrensneurose typisch sei. In der Untersuchung habe sich ge-
zeigt, dass bei der Aufrechterhaltung des Beschwerdebildes das Motiv der Wie-
dergutmachung und der Gerechtigkeit eine große Rolle spiele. Die Person und
der Alltag des Klägers seien, was biographisch ableitbar sei, schon vor dem
Unfall einerseits von dem unbewussten Wunsch nach Sicherheit und Versor-
gung sowie andererseits nach Anerkennung geprägt gewesen. Diese Determi-
nierung lasse die Entwicklung einer Begehrensneurose im Anschluss an das
Unfallgeschehen und damit die Beurteilung des Sachverständigen Dr. Hai.
plausibel erscheinen. Diese werde gestützt durch das Verhalten des Klägers
gegenüber weiteren Sachverständigen und deren Feststellungen. So seien in
verschiedenen Gutachten Übertreibungen, Verdeutlichungstendenzen, vorge-
täuschte Beschwerden, eine chronifizierte psychische Fehlhaltung und eine
Rentenfixierung dokumentiert. Bei dieser Sachlage ist die Beurteilung des Beru-
fungsgerichts, bei dem Kläger liege eine Begehrensneurose vor, aus Rechts-
gründen nicht zu beanstanden.
3. Auch die weiteren Rügen, mit denen sich die Revision gegen die Ab-
lehnung des Zurechnungszusammenhangs wendet, greifen nicht durch.
a) Entgegen der Ansicht der Revision kann der Zurechnungszusammen-
hang für später eingetretene Folgeschäden auch dann verneint werden, wenn
sie sich aus Beschwerden entwickelt haben, die zunächst überwiegend dem
Unfallgeschehen zuzurechnen sind, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt
- einem nicht ungewöhnlichen Verlauf entsprechend - wesentlich durch eine
Begehrenshaltung geprägt sind.
Sind Schadensfolgen wesentlich durch eine Begehrenshaltung geprägt,
entfällt - wie ausgeführt - der Schutzzweckzusammenhang. Das Erfordernis des
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Schutzzweckzusammenhangs besteht nicht nur für die Primärverletzung, son-
dern auch für den haftungsausfüllenden Tatbestand (Palandt/Grüneberg, aaO
Rn. 29; Lange/Schiemann, Schadensersatz, aaO, S. 125 f.). Daraus ergibt sich
die Möglichkeit, dass der Schutzzweckzusammenhang für von einem bestimm-
ten Zeitpunkt an eingetretene Schadensfolgen zu verneinen ist, selbst wenn sie
auf einem gewöhnlichen Verlauf einer psychischen Störung - hier der anhalten-
den somatoformen Schmerzstörung - beruhen. Nahezu jeder Unfall beinhaltet
ein Unfallerlebnis, das verarbeitet werden muss. Diese Verarbeitung kann un-
terschiedlich gut gelingen; misslingt sie, können beim Unfallgeschädigten psy-
chische Beschwerden unterschiedlicher Intensität und Dauer auftreten (vgl.
Foerster, MED SACH 1997, 44). Die Schadensfolgen können entscheidend
durch eine Begehrenshaltung geprägt sein. Sie müssen nicht von Anfang an
wesentlich durch eine Begehrenshaltung geprägt sein; die Begehrenshaltung
kann sich - wie auch hier - im weiteren Verlauf verstärken, bis sie schließlich
prägend im Vordergrund steht. Das Berufungsgericht hat den Zeitpunkt, ab dem
die Begehrenshaltung prägend im Vordergrund steht, in revisionsrechtlich nicht
zu beanstandender Weise auf den 1. Januar 1995 festgelegt.
b) Ohne Erfolg beanstandet die Revision, dass das Berufungsgericht ei-
nen auf einer Begehrenshaltung beruhenden Anteil von 90 % der Schadensfol-
gen ausreichen lässt, um die Schadensersatzpflicht für die ab dem Jahr 1995
bestehenden Beschwerden in vollem Umfang zu verneinen.
aa) Für die Verneinung des Zurechnungszusammenhangs ist es erfor-
derlich, aber auch ausreichend, dass die Beschwerden entscheidend durch ei-
ne neurotische Begehrenshaltung geprägt sind. Nichts anderes ergibt sich aus
dem Senatsurteil vom 16. November 1999 (- VI ZR 257/98, VersR 2000, 372,
373 unter II. 2. b) bb)), in dem von einer "reinen" Begehrensneurose die Rede
ist. Diese Formulierung darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass
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der Ausschluss der haftungsrechtlichen Zurechnung unter dem Gesichtspunkt
einer prägend im Vordergrund stehenden Begehrenshaltung nur dann möglich
ist, wenn sie die einzige Ursache des Beschwerdebildes ist. Eine alleinige Ur-
sache für eine Begehrenshaltung wird schon deswegen kaum jemals auszu-
machen sein, weil psychoreaktive Symptome nach äußeren Ereignissen immer
aus einem Geflecht verschiedener Ursachen bestehen (Foerster in Venzlaff/
Foerster, aaO S. 680; vgl. Senatsurteil vom 11. November 1997 - VI ZR 376/96,
aaO S. 150 f.; G. Müller, VersR 1998, 129, 133). Der für die hier zu beurteilende
Zurechnung maßgebliche Gesichtspunkt ist daher, ob der neurotische Zustand
des Geschädigten entscheidend von der Begehrenshaltung geprägt wird (vgl.
Senatsurteil vom 11. November 1997 - VI ZR 376/96, aaO S. 150). Dabei han-
delt es sich um eine Wertungsfrage, die, wie vorstehend dargelegt, auf der
Grundlage von - regelmäßig nach sachverständiger Beratung - zu treffenden
Feststellungen zu den bestehenden Beschwerden, den primären Unfallverlet-
zungen und ihren Folgen, dem Unfallerlebnis, der Persönlichkeitsstruktur des
Betroffenen und eventuellen sekundären Motiven vorzunehmen ist. Im Einzelfall
kann die Wertung schon dann eine das Beschwerdebild prägende Begehrens-
haltung ergeben, wenn - wie nach den Feststellungen des Berufungsgerichts -
90 % des Krankheitsbildes auf eine Begehrenshaltung zurückzuführen ist.
bb) Dass das Berufungsgericht die Haftung für die ab dem zweiten Jahr
nach dem Unfall bestehenden Beschwerden in vollem Umfang verneint hat, ist
aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Zwar nimmt das OLG Schleswig (Ur-
teile vom 2. Juni 2005 - 7 U 124/01, OLGR 2006, 5, 7 und vom 6. Juli 2006
- 7 U 148/01, NJW-RR 2007, 171, 172 f.) bei einer auf einer Prädisposition be-
ruhenden endgültigen Fehlverarbeitung eines Unfallgeschehens eine anteilige
Anspruchskürzung vor (vgl. dazu auch G. Müller, aaO S. 134). Eine solche
kommt hier aber auf der Grundlage der rechtsfehlerfreien Feststellungen des
Berufungsgerichts nicht in Betracht. Hier geht es - anders als bei einem Mitver-
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schulden im Sinne von § 254 BGB - nicht um eine Abwägung der Verursa-
chungsbeiträge, sondern um eine Frage des Schutzzweckzusammenhangs.
Sind die Schadensfolgen entscheidend durch eine Begehrensvorstellung ge-
prägt, rechtfertigt dies, die Haftung in vollem Umfang zu verneinen, weil gerade
die maßgebliche Ursache in dem neurotischen Streben nach Versorgung be-
steht.
4. Auch die Verfahrensrügen verhelfen der Revision nicht zum Erfolg.
a) Die Revision rügt, das Berufungsgericht habe entgegen § 286 ZPO
beim Ausschluss der vom Kläger unter Vorlage der Privatgutachten Dr. E. und
Dr. R. behaupteten Fraktur des Dens axis (Dorn des zweiten Halswirbels) nicht
alle zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ausgeschöpft. Sie macht gel-
tend, der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. M. habe die Röntgenbilder des
Dens axis unzureichend begutachtet. Im Schriftsatz vom 17. Mai 2004 habe der
Kläger kritisiert, dass der Sachverständige von seinem Fachgebiet her nicht
qualifiziert sei, einen Bruch des Dens axis auszuschließen; die Begutachtung
der Röntgenaufnahme sei in unzureichender Weise durch eine Stehlampe oder
Schreibtischlampe erfolgt, obwohl hierfür ein Lichtkasten erforderlich sei.
Das Berufungsgericht hat sich jedoch ausreichend mit der Behauptung
des Klägers auseinandergesetzt und die Privatgutachten bei seiner Beweiswür-
digung berücksichtigt. Das Berufungsgericht stellt in rechtlich nicht zu bean-
standender Weise darauf ab, dass das radiologische Privatgutachten Dr. R.
aufgrund einer am 29. Dezember 2004 gefertigten CT-Aufnahme lediglich die
Möglichkeit einer alten Fraktur annehme, wohingegen ein Bruch bei der Unter-
suchung im unmittelbaren Zusammenhang mit dem mehr als zehn Jahre zuvor
geschehenen Unfall nicht diagnostiziert worden sei, obwohl im Kreiskranken-
haus B. eine Spezialaufnahme des Dens axis gerade zum Ausschluss einer
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Fraktur gefertigt worden sei. Auch die Röntgenuntersuchungen und die Kern-
spintomographie, die im Rahmen der ebenfalls in größerer zeitlicher Nähe zum
Unfall erstellten Begutachtung durch Prof. Dr. Har. erfolgten, haben nach den
vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen keine Anhaltspunkte für einen
Bruch ergeben. Dass Prof. Dr. Har. als Orthopäde nicht über die zur Beurteilung
knöcherner Verletzungen aufgrund von Röntgenaufnahmen erforderliche Sach-
kunde verfüge, zeigt die Revision nicht auf und ist auch sonst nicht ersichtlich.
Eine erneute Begutachtung des Dens axis unter Heranziehung der CT-
Aufnahmen und von früher gefertigten Röntgenaufnahmen war unter den be-
sonderen Umständen des Streitfalls entbehrlich. Das Berufungsgericht durfte
das prozessuale Vorgehen des Klägers als stillschweigenden Verzicht auf eine
erneute Begutachtung verstehen. Der Sachverständige Prof. Dr. M. hat in sei-
nem Schreiben vom 4. Juni 2004 mitgeteilt, dass er ohne Vorlage eines Dünn-
schicht-CTs mit Rekonstruktionen nichts Neues sagen könne, und eine ergän-
zende Begutachtung von der Vorlage aller Röntgenaufnahmen und des CTs
abhängig gemacht. In der Folgezeit ist der Kläger darauf nicht mehr zurückge-
kommen. Nach Vorliegen des psychosomatischen Gutachtens von Dr. Hai. ha-
ben beide Parteien in der mündlichen Verhandlung vom 22. September 2006
einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt. Weder in der münd-
lichen Verhandlung noch in den nachfolgend eingereichten Schriftsätzen hat
der Kläger die Frage einer erneuten Begutachtung durch Prof. Dr. M. angespro-
chen. Auch in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am
25. Juni 2010 hat er sein früheres Anliegen nicht mehr vorgebracht. Da der Klä-
ger auch zur Frage der Übermittlung der Aufnahmen an den Sachverständigen
nicht mehr Stellung genommen hat, durfte das Berufungsgericht unter den be-
sonderen Umständen des Falles davon ausgehen, dass er seine sechs Jahre
zuvor erhobenen Bedenken gegen die Begutachtung nicht aufrechterhalte (vgl.
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BGH, Urteile vom 28. Mai 1998 - VI ZR 160/97, VersR 1998, 776 und vom
14. Januar 2010 - III ZR 173/09, VersR 2010, 814 Rn. 21).
b) Die Revision rügt, das Berufungsgericht habe das Privatgutachten von
Prof. Dr. C. nicht ausreichend gewürdigt. Es habe, ohne die eigene Sachkunde
aufzuzeigen, den unzutreffenden Erfahrungssatz aufgestellt, dass derjenige,
der ein Fahrzeug auf sich zukommen sehe, aber dennoch damit rechne, der
Fahrer könne seine Fahrtrichtung noch korrigieren, nicht dergestalt überrascht
werden könne, dass muskuläre Abwehrmechanismen unterlaufen würden.
Die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts wird den Anforderungen
des § 286 ZPO jedoch gerecht, insbesondere verstößt sie nicht gegen Denk-
und Erfahrungssätze. Das Berufungsgericht hat sich in rechtlich nicht zu bean-
standender Weise mit dem Privatgutachten von Prof. Dr. C. auseinanderge-
setzt. Dieser nimmt an, dass die muskulären Abwehrmechanismen im Augen-
blick unmittelbar vor dem Aufprall "wohl" unterlaufen worden seien. Der Privat-
gutachter geht deshalb davon aus, dass das Trauma ein "Kopfhalteorgan" ge-
troffen habe, welches nicht auf Abwehr eingestellt gewesen sei. Aufgrund der
polizeilichen Unfallaufnahme und der polizeilichen Zeugenvernehmung des
Klägers hat das Berufungsgericht jedoch rechtsfehlerfrei festgestellt, dass der
Unfall für den Kläger nicht überraschend war. Es hat dargelegt, dass das Pri-
vatgutachten diesen Umstand nicht berücksichtigt habe, und ist deshalb bei der
Feststellung der unmittelbaren unfallbedingten körperlichen Verletzungen
rechtsfehlerfrei dem gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. Har. gefolgt. Mit-
hin hat sich das Berufungsgericht weder eigene Sachkunde angemaßt noch
unzutreffende Erfahrungssätze aufgestellt, sondern lediglich eine Anknüpfungs-
tatsache anders als der Privatgutachter beurteilt. Es hat zudem darauf hinge-
wiesen, dass sich auch der neurologische Sachverständige Prof. Dr. M., dem
das Privatgutachten von Prof. Dr. C. vorlag, mit dieser Frage beschäftigt habe
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und der gerichtliche Sachverständige klinische Anzeichen für eine Instabilität
und Verletzungsfolgen im Bereich des Übergangs zwischen Kopf und Hals nicht
habe feststellen können.
c) Die Revision rügt, das Berufungsgericht habe sich zu Unrecht an die
Feststellungen des Landgerichts gebunden gesehen, soweit dieses eine post-
traumatische Belastungsstörung auf der Grundlage des gerichtlichen Sachver-
ständigengutachtens Dr. Hai. verneint habe. Die Revision vermisst insoweit ei-
ne kritische Auseinandersetzung mit dem Privatgutachten von Prof. Dr. B.. Sie
sieht einen Widerspruch in der Verneinung einer zur Annahme einer posttrau-
matischen Belastungsstörung erforderlichen Situation ungewöhnlicher Bedro-
hung oder katastrophalen Ausmaßes zu der vom Berufungsgericht bejahten
akuten Belastungsreaktion, weil auch das Gutachten Dr. Hai. davon ausgehe,
dass der Kläger sich nach dem Unfall "emotional wie betäubt" gefühlt und unter
Schock gestanden habe.
Das Berufungsgericht hat jedoch in rechtlich nicht zu beanstandender
Weise ohne Verstoß gegen § 287 Abs. 1, § 286 Abs. 1 ZPO eine posttraumati-
sche Belastungsstörung verneint und sich dabei hinreichend mit dem Privatgut-
achten von Prof. Dr. B. auseinandergesetzt. Eine posttraumatische Belastungs-
störung (ICD10: F43.1) entsteht nach den vom Berufungsgericht zugrunde ge-
legten Kriterien des ICD10 als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf
ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit
außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast
jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (Dilling/Freyberger, Taschen-
führer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, 5. Aufl., S. 173 f.).
Demgegenüber erfordert eine akute Belastungsreaktion (ICD10: F43.0) lediglich
eine außergewöhnliche psychische oder physische Belastung (Dilling/Frey-
berger, aaO S. 171 f.); der Betroffene muss also nicht, anders als bei einer
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posttraumatischen Belastungsstörung, einer Situation außergewöhnlicher Be-
drohung oder mit katastrophenartigem Ausmaß ausgesetzt sein, die bei nahezu
jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde. Deshalb erfüllt das Unfaller-
lebnis nach den Feststellungen der Vorinstanzen zwar die diagnostischen Krite-
rien einer akuten Belastungsreaktion, nicht jedoch diejenigen einer posttrauma-
tischen Belastungsstörung. Der von der Revision behauptete Widerspruch be-
steht demnach nicht.
5. Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht dem
Kläger zu Recht keinen Schadensersatz für krankheitsbedingt verfallenen oder
nicht entstandenen Urlaub zugesprochen. Einen Vermögensschaden hat der
Kläger durch entgangenen Urlaub nicht erlitten.
Galke
Zoll
Wellner
Pauge
von Pentz
Vorinstanzen:
LG Stuttgart, Entscheidung vom 30.07.2010 - 27 O 293/96 -
OLG Stuttgart, Entscheidung vom 29.03.2011 - 10 U 106/10 -
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