Urteil des BGH vom 17.03.2015

Leitsatzentscheidung zu Gerichtliche Zuständigkeit, Factoring, Anleger, Zedent, Lugü

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 11/14
Verkündet am:
17. März 2015
Holmes
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 513 Abs. 2; § 545 Abs. 2; LuGÜ II Art. 5 Nr. 3; BGB § 826 B
a) § 513 Abs. 2 ZPO und § 545 Abs. 2 ZPO finden Anwendung, wenn die Frage
der örtlichen Zuständigkeit des Erstgerichts nicht von denselben Vorausset-
zungen abhängt, die für die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte
maßgebend sind.
b) Zu den Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch nach § 826
BGB wegen der Ausgabe völlig wertloser Aktien.
BGH, Urteil vom 17. März 2015 - VI ZR 11/14 - OLG Düsseldorf
LG Düsseldorf
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 17. März 2015 durch den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Wellner,
Pauge und Stöhr und die Richterin Dr. Oehler
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 7. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 6. Dezember 2013 aufgeho-
ben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt aus abgetretenem Recht ihres Bruders von den Be-
klagten Schadensersatz im Zusammenhang mit dem Erwerb von Aktien der ES
AG, einer nicht börsennotierten Schweizer Aktiengesellschaft mit Sitz in der
Schweiz.
Geschäftsgegenstand der ES AG, die 22 Millionen Namensakten zu ei-
nem Nennwert von 0,01 Schweizer Franken herausgegeben hatte, war das
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Factoring. Aus dem operativen Geschäft erzielte sie ausweislich ihrer Bilanzen
verhältnismäßig geringe Erlöse, denen Ausgaben unter anderem für Dienstleis-
tungen und Beratungen gegenüberstanden. Der Großteil der Umsätze erfolgte
durch den Verkauf ihrer eigenen Aktien sowie der Aktien ihrer Hauptaktionärin,
der I. SA mit Sitz auf den Bahamas, die 62 % der Aktien der ES AG hielt. Die
Aktien wurden von bei der ES AG angestellten Telefonverkäufern unter ande-
rem in Deutschland über eine unselbständige Niederlassung in Düsseldorf an
Privatanleger veräußert. Ein Wertpapierprospekt stand auf der Webseite der ES
AG zum Download bereit. In gedruckter Form wurde der Prospekt potentiellen
Anlegern nur auf Anforderung übersandt.
Der Beklagte zu 1 war vom 8. November 2004 bis zum 18. Februar 2010
Mitglied des Verwaltungsrates und Geschäftsführer der ES AG. Der Beklagte zu
2 war vom 8. November 2004 bis zum 27. November 2008, nach dem Vortrag
der Klägerin bis zum 5. Januar 2009, Präsident des Verwaltungsrates der ES
AG, der gemäß Ziffer 4.1 des Organisationsreglements die Oberaufsicht über
die mit der Geschäftsführung betrauten Personen, namentlich im Hinblick auf
die Befolgung der Gesetze, Statuten, Reglemente und Weisungen hatte und
der gemäß dem Anhang des Organisationsreglements für die Marketing- und
Verkaufspolitik im Sinne einer Gesamtverantwortung zuständig war.
Der Zedent erwarb zwischen dem 28. November 2006 und dem 5. Au-
gust 2009 insgesamt 20.000 Namensaktien für zusammen 61.000 €. Die Akti-
enkäufe erfolgten jeweils nach Telefonaten zwischen dem Zedenten und einem
Mitarbeiter der Zweigniederlassung der ES AG in Düsseldorf. Die Zahlungen
leistete der Zedent von seinem in Deutschland geführten Konto auf ein eben-
falls in Deutschland geführtes Konto der ES AG. Am 18. Juni 2010 wurde über
das Vermögen der ES AG das Insolvenzverfahren eröffnet. Die von dem Ze-
denten gezeichneten Aktien sind wertlos.
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Die Klägerin macht geltend, der Beklagte zu 1 habe die Telefonverkäufer
angewiesen, Kaufinteressenten durch unrichtige Angaben über die Umsätze
und Gewinne sowie einen geplanten Börsengang der ES AG zu täuschen. Über
die Risiken der Anlage sei der Zedent nicht ordnungsgemäß aufgeklärt worden.
Ihm seien bei der telefonischen Beratung falsche Angaben über die Umsätze
und Gewinne aus dem operativen Geschäft gemacht worden, die durch Pres-
semitteilungen und Newsletter der ES AG gestützt worden seien. Die Telefon-
verkäufer hätten zu den Erträgen der ES AG nicht klar genug dargestellt, dass
aus dem operativen Geschäft praktisch keine Einnahmen erfolgten und dass
die in der Bilanz ausgewiesenen Gewinne überwiegend aus dem Verkauf der
eigenen Aktien resultierten. Der Beklagte zu 2 hätte für eine ordnungsgemäße
Aufklärung interessierter Anleger Sorge tragen und den Beklagten zu 1 ent-
sprechend überwachen müssen.
Das Landgericht hat den Beklagten zu 1 antragsgemäß u.a. zum Ersatz
des Anlagebetrages verurteilt und die Klage gegen den Beklagten zu 2 abge-
wiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Auf die Berufung des
Beklagten zu 1 hat das Oberlandesgericht auch die gegen ihn gerichtete Klage
abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die
Klägerin ihr Zahlungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im We-
sentlichen ausgeführt:
Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte folge aus Art. 5 Nr. 3
LugÜ, weil der Erfolgsort in Deutschland liege. Die örtliche Zuständigkeit könne
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in der Berufungsinstanz gemäß § 513 Abs. 2 ZPO nicht geprüft werden. Deut-
sches Recht sei gemäß Art. 40 Abs. 1 EGBGB anwendbar.
Der Klägerin stehe kein Anspruch aus § 826 BGB aus abgetretenem
Recht zu. Eine Haftung des Beklagten zu 1 ergebe sich nicht daraus, dass er
ein von vornherein chancenloses Geschäftsmodell zum ausschließlich eigenen
Vorteil hätte vertreiben wollen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme könne
nicht davon ausgegangen werden, dass die ES AG von vornherein ausschließ-
lich dazu bestimmt gewesen sei, ihre eigenen Aktien oder die Aktien des ver-
bundenen Großaktionärs an Anleger zu vermitteln, ohne das satzungsgemäß
vorgesehene Geschäft des Factorings zu betreiben. Ausweislich der Umsatz-
zahlen seien tatsächlich Einnahmen aus Factoring erzielt worden. Die geringe
Höhe lasse sich damit erklären, dass die ES AG noch am Beginn ihrer Ge-
schäftstätigkeit gestanden habe und das Eintreiben von abgetretenen Forde-
rungen eine gewisse Zeit beanspruche.
Eine Haftung ergebe sich auch nicht aus einem Unterlassen der gebote-
nen Aufklärung über die Anlagegeschäfte. Bei dem Erwerb der Aktien der ES
AG habe es sich nicht um ein hochspekulatives Geschäft gehandelt. Auf die mit
dem Geschäft verbundenen Risiken sei in dem von der ES AG auf ihrer Web-
seite veröffentlichten Wertpapierprospekt umfassend hingewiesen worden.
Selbst wenn dies nicht ausreichend sei, läge allenfalls ein Verstoß gegen ver-
tragliche Pflichten vor, nicht hingegen ein Verstoß gegen das Anstandsgefühl
aller billig und gerecht Denkenden, zumal die von der ES AG gewählte Art der
Publikation den Vorgaben von § 14 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 5 WpPG entsprochen
habe.
Es sei auch nicht bewiesen, dass der Beklagte zu 1 auf die Telefonver-
käufer direkt oder indirekt über den Leiter der örtlichen Niederlassung oder über
die für das Marketing zuständigen Mitarbeiter eingewirkt habe, um die Anleger
zu täuschen. Im Übrigen sei die Kausalität eines unterstellt sittenwidrigen Han-
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delns oder Unterlassens des Beklagten zu 1 für den von der Klägerin geltend
gemachten Schaden nicht festzustellen.
Der Beklagte zu 2 hafte nicht für eigenes Handeln. Auch könne nicht
festgestellt werden, dass er in sittenwidriger Weise vorsätzlich durch Unterlas-
sen eine Pflicht verletzt habe, die aufgrund des Organisationsreglements aus
seiner Oberaufsicht über die mit der Geschäftsführung betrauten Personen,
namentlich im Hinblick auf die Befolgung der Gesetze, Statuten, Reglemente
und Weisungen oder aus seiner Gesamtverantwortung für die Marketing- und
Verkaufspolitik folge. Wenn dies nicht einmal für den Beklagten zu 1 als ge-
schäftsführendem Mitglied des Verwaltungsrats bewiesen sei, gelte das für den
Beklagten zu 2 erst recht.
II.
Die Revision hat Erfolg.
1. Zutreffend hat das Berufungsgericht allerdings die internationale Zu-
ständigkeit deutscher Gerichte bejaht, die auch im Revisionsrechtszug von
Amts wegen zu prüfen ist (vgl. Senatsurteile vom 2. März 2010 - VI ZR 23/09,
BGHZ 184, 313 Rn. 7; vom 5. Oktober 2010 - VI ZR 159/09, BGHZ 187, 156
Rn. 8; vom 31. Mai 2011 - VI ZR 154/10, BGHZ 190, 28 Rn. 16, jeweils mwN
und vom 24. Juni 2014 - VI ZR 315/13, WM 2014, 1614 Rn. 12). Diese Zustän-
digkeit besteht nach Art. 5 Nr. 3 des Übereinkommens über die gerichtliche Zu-
ständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zi-
vil- und Handelssachen, geschlossen in Lugano am 30. Oktober 2007, ABl. EU
L 339 S. 3, nachfolgend LuGÜ II). Nach ständiger Rechtsprechung des Europä-
ischen Gerichtshofs (nachfolgend: Gerichtshof) ist die Wendung "Ort, an dem
das schädigende Ereignis eingetreten ist" in Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. so zu
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verstehen, dass sie sowohl den Ort des ursächlichen Geschehens (Handlungs-
ort) als auch den Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs (Erfolgsort) meint
(EuGH, NJW 2013, 2099 Rn. 25 mwN; NZG 2013, 1073 Rn. 51; NJW 2013,
3627 Rn. 26; NJW 2014, 1793 Rn. 27; GRUR 2014, 806 Rn. 46; zu Art. 5 Nr. 3
LugÜ I und II bereits Senatsurteil vom 24. Juni 2014 - VI ZR 315/13, WM 2014,
1614 Rn. 29 mwN).
Für die internationale Zuständigkeit kann offenbleiben, ob der Hand-
lungsort in Deutschland liegt, da nach dem schlüssigen Vortrag der Klägerin
jedenfalls der Erfolgsort in Deutschland liegt. Denn danach ist der Vermögens-
schaden des Zedenten, den sie mit der Klage ersetzt verlangt, an dem Gutha-
ben auf dessen Girokonto bei einem Kreditinstitut in Deutschland eingetreten,
von dem er infolge der von den Beklagten zu verantwortenden Täuschung das
angelegte Kapital auf ein Konto der ES AG bei einem Kreditinstitut in Deutsch-
land überwiesen hat (vgl. BGH, Urteil vom 12. Oktober 2010 - XI ZR 394/08,
WM 2010, 2214 Rn. 30).
2. Ohne Erfolg macht die Revisionserwiderung geltend, das Berufungs-
gericht habe zu Unrecht angenommen, dass ihm die Prüfung der örtlichen Zu-
ständigkeit gemäß § 513 Abs. 2 ZPO verwehrt sei.
a) Nach § 513 Abs. 2 ZPO kann die Berufung nicht darauf gestützt wer-
den, dass das Gericht des ersten Rechtszuges seine Zuständigkeit zu Unrecht
angenommen hat. Ob dies vorliegend der Fall ist, ist einer revisionsrechtlichen
Überprüfung entzogen, denn gemäß § 545 Abs. 2 ZPO kann die Revision nicht
darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszuges seine Zu-
ständigkeit zu Unrecht angenommen oder verneint hat. Demgemäß findet in der
Revisionsinstanz eine Prüfung der örtlichen Zuständigkeit des Landgerichts
grundsätzlich auch dann nicht statt, wenn die internationale Zuständigkeit der
deutschen Gerichte vom Revisionsgericht zu prüfen ist (BGH, Beschluss vom
20. September 2010 - XI ZR 57/08, juris; im Ergebnis ebenso BGH, Urteil vom
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9. Juli 2009 - Xa ZR 19/08, BGHZ 182, 24 Rn. 7 ff.; zu § 549 Abs. 2 ZPO a.F.
vom Senat noch offen gelassen im Urteil vom 16. Dezember 1997 - VI ZR
408/96, VersR 1998, 378, 379; OLG Köln, Urteil vom 19. Februar 2014 - 6 U
163/13, juris Rn. 7; aA Wagner in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Art. 24 EuGVVO
Rn. 33). Zu der insoweit entsprechenden Regelung in § 549 Abs. 2 ZPO a.F.
hat der Bundesgerichtshof allerdings entschieden, dass diese Vorschrift bezüg-
lich der örtlichen Zuständigkeit nicht anzuwenden ist, soweit daneben die inter-
nationale Zuständigkeit im Streit ist und beide Zuständigkeiten von denselben
Voraussetzungen abhängen (BGH, Urteil vom 21. November 1996 - IX ZR
264/95, BGHZ 134, 127, 130). Ein solcher Fall ist hier aber nicht gegeben, denn
der Erfolgsort lag nach dem Vortrag der Klägerin, wie dargelegt, in Deutsch-
land. Während sich die Frage, ob das Landgericht örtlich zuständig war, danach
richtet, ob der Erfolgsort in seinem Bezirk liegt, kommt es für die internationale
Zuständigkeit deutscher Gerichte nur darauf an, ob sich das geschädigte Gut-
haben des Zedenten an irgendeinem Ort in Deutschland befand. Die Frage der
örtlichen Zuständigkeit hängt vorliegend mithin nicht von denselben Vorausset-
zungen ab, die für die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte maßge-
bend sind.
b) Diese Auslegung von § 545 Abs. 2 ZPO verstößt weder gegen deut-
sches Verfassungsrecht noch gegen Unionsrecht. Zwar führen § 513 Abs. 2
und § 545 Abs. 2 der deutschen Zivilprozessordnung dazu, dass die nach Uni-
onsrecht zu bestimmende örtliche Zuständigkeit - anders als die internationale
Zuständigkeit - in der Berufungsinstanz (im Falle ihrer erstinstanzlichen Beja-
hung) und in der Revisionsinstanz grundsätzlich nicht mehr überprüft werden
kann. Die Normen verstoßen jedoch nicht gegen den unionsrechtlichen Grund-
satz der Effektivität. Das Unionsrecht läuft durch § 513 Abs. 2, § 545 Abs. 2
ZPO nicht leer, weil die erstinstanzlich international zuständigen deutschen Ge-
richte berufen sind, ihre örtliche Zuständigkeit entsprechend den unionsrechtli-
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chen Bestimmungen zu prüfen und das Unionsrecht wie das deutsche Verfas-
sungsrecht keinen Instanzenzug vorschreibt.
c) Ob die örtliche Zuständigkeit entgegen § 513 Abs. 2, § 545 Abs. 2
ZPO dann in den Rechtsmittelinstanzen überprüfbar ist, wenn das erstinstanzli-
che Gericht oder das Berufungsgericht sie willkürlich angenommen und damit
den Beklagten seinem gesetzlichen Richter entzogen haben (so OLG Olden-
burg, NJW-RR 1999, 865; Gerken in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl., § 513
Rn. 33; Althammer in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 513 Rn. 11; MünchKomm-
ZPO/Rimmelspacher, 4. Aufl., § 513 Rn. 19; MünchKomm-ZPO/Krüger, aaO,
§ 545 Rn. 17; BeckOK ZPO/Kessal-Wulf, § 545 Rn. 18 [Stand: 1. Januar 2015];
bezüglich der Zuständigkeitsabgrenzung von Zivil- und Handelskammer auch
OLG Karlsruhe, NJW-RR 2013, 437, 439; aA Zöller/Heßler, ZPO, 30. Aufl.,
§ 513 Rn. 10; BeckOK ZPO/Wulf, § 513 Rn. 9 [Stand: 1. Januar 2015]; Lemke
in Prütting/Gehrlein, ZPO, 6. Aufl., § 513 Rn. 10; Hk-ZPO/Wöstmann, 6. Aufl.,
§ 513 Rn. 3), kann dahinstehen.
aa) Zwar begegnet die Auffassung des Landgerichts Bedenken, es sei,
obwohl die Beklagten die örtliche Zuständigkeit in der Klageerwiderung gerügt
haben, infolge rügeloser Verhandlung örtlich zuständig geworden, zumal es
unzutreffend auf § 39 ZPO statt auf Art. 24 LugÜ II (zur Geltung für die örtliche
Zuständigkeit Wagner in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Art. 24 EuGVVO Rn. 1;
Zöller/Geimer, ZPO, 30. Aufl., Art. 24 EuGVVO Rn. 1; Geimer/Schütze, Europä-
isches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl., Art. 24 EuGVVO Rn. 32) abgestellt hat. Da
die Beklagten ausweislich des erstinstanzlichen Protokolls zur Sache verhan-
delt haben, ohne dort die Zuständigkeitsrüge zu wiederholen, ist die Beurteilung
des Landgerichts indessen noch nicht willkürlich. Objektiv willkürlich ist ein
Richterspruch nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und
sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen be-
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ruht. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung
jedoch nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst dann vor, wenn eine offen-
sichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in kras-
ser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise
angewendet wird, so dass die Entscheidung auf schweren Rechtsanwendungs-
fehlern beruht (BVerfG, FamRZ 2010, 25; NJW 2014, 3147 Rn. 13; jeweils
mwN).
bb) Hier ist das Landgericht, das die schriftsätzliche Zuständigkeitsrüge
ausweislich seines Urteilstatbestandes gesehen hat, offenbar davon ausgegan-
gen, die Beklagten hätten die Rüge stillschweigend fallengelassen, nachdem
das Gericht, wie sich aus seinem Beschluss vom 15. Dezember 2011 über den
Tatbestandsberichtigungsantrag des Beklagten zu 1 ergibt, in der mündlichen
Verhandlung ausführlich dargelegt hatte, warum es seine örtliche Zuständigkeit
für gegeben erachte und die Beklagten dazu keine weiteren Erklärungen abge-
geben hatten. Zwar muss die bereits schriftsätzlich vorgetragene Zuständig-
keitsrüge sowohl im Anwendungsbereich des § 39 ZPO als auch des Art. 24
LugÜ II in der mündlichen Verhandlung nicht wiederholt werden, sofern auf sie
stillschweigend Bezug genommen wird (vgl. BGH, Urteil vom 2. März 2006
- IX ZR 15/05, NJW 2006, 1806 Rn. 9). Möglich ist aber ein nachträglicher
- auch stillschweigender - Rügeverzicht (vgl. zu § 39 ZPO BGH, Urteil vom 2.
März 2006 - IX ZR 15/05, aaO; OLG Koblenz, OLGR Koblenz 1998, 429, 430)
oder eine Rücknahme der Zuständigkeitsrüge (zu § 39 ZPO Künzl, BB 1991,
757; Zöller/Vollkommer, ZPO, 30. Aufl., § 39 Rn. 5; Wern in Prütting/Gehrlein,
ZPO, 6. Aufl., § 12 Rn. 9; zu Art. 24 EuGVVO a.F. Hk-ZPO/Dörner, 5. Aufl., Art.
24 EuGVVO Rn. 8; Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3.
Aufl., Art. 24 EuGVVO Rn. 52). Ob die Beklagten hier nachträglich auf die Zu-
ständigkeitsrüge verzichtet oder sie zurückgenommen haben, bedarf keiner
Entscheidung. Denn selbst wenn dies nicht der Fall wäre, läge hier ein bloßer
Rechtsanwendungsfehler vor, der nicht den Schluss darauf zuließe, die Beja-
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hung der örtlichen Zuständigkeit beruhe auf sachfremden Erwägungen und sei
willkürlich.
3. Die angefochtene Entscheidung hält jedoch in der Sache revisions-
rechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Zu Recht - und von den Parteien auch nicht angegriffen - hat das Be-
rufungsgericht seiner Beurteilung deutsches Deliktsrecht zugrunde gelegt. Dies
folgt, soweit die Klägerin ihre Klage auf Aktienerwerbe vor dem 11. Januar 2009
stützt, aus Art. 40 Abs. 1 Satz 2 EGBGB und für Aktienerwerbe ab dem 11. Ja-
nuar 2009 auf Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertrag-
liche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II-Verordnung).
b) Die Angriffe der Revision bleiben im Ergebnis auch insoweit ohne Er-
folg, als sie sich gegen die Verneinung einer Haftung wegen unzureichender
Aufklärung über die mit der Anlage verbundenen Risiken richten. Dabei kann
offen bleiben, ob der Auffassung des Berufungsgerichts zu folgen ist, das Un-
terlassen einer rechtlich gebotenen schriftlichen Aufklärung sei dann nicht sit-
tenwidrig, wenn auf die Anlagerisiken in einem zum Abruf im Internet bereit ge-
stellten Prospekt hingewiesen werde. Auf diese Frage, zu deren Klärung das
Berufungsgericht die Revision zugelassen hat, kommt es vorliegend nicht an,
denn nach den getroffenen Feststellungen beruht der eingetretene Schaden
nicht auf einer unzureichenden Aufklärung des Anlegers. Anders als die Revisi-
on meint, hat das Berufungsgericht insoweit keine Beweislastentscheidung zum
Nachteil der Klägerin getroffen. Es hat sich vielmehr davon überzeugt, dass der
Zedent sich zum mehrfachen Erwerb von Aktien entschlossen hat, obwohl ihm
nach seinen eigenen Angaben klar war, dass es sich bei der ES AG um ein
"Start-up Unternehmen" handelte, von dem noch keine aussagekräftigen Zah-
len vorlagen. Die Anlagen seien für ihn erkennbar spekulativ gewesen. Nach
den Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ist
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das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass der Zedent die Anlagen auch
bei einer weitergehenden Aufklärung getätigt hätte. Damit hat das Berufungsge-
richt ersichtlich den für einen Schadensersatzanspruch erforderlichen Ursa-
chenzusammenhang verneint.
c) Mit
Erfolg wendet sich die Revision aber dagegen, dass das Beru-
fungsgericht einen Schadensersatzanspruch der Klägerin gemäß § 826 BGB
unter dem Gesichtspunkt des Vertriebs eines von vornherein chancenlosen Ge-
schäftsmodells verneint hat.
aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs haftet ein Vermitt-
ler wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung nach § 826 BGB, wenn sein
Geschäftsmodell darauf angelegt ist, für den Anleger chancenlose Geschäfte
zum ausschließlich eigenen Vorteil zu vermitteln (BGH, Urteile vom 9. März
2010 - XI ZR 93/09, BGHZ 184, 365 Rn. 26; vom 2. Februar 1999 - XI ZR
381/97, VersR 1999, 976 und vom 22. November 2005 - XI ZR 76/05, VersR
2006, 365). Wie das Berufungsgericht nicht verkennt, ist eine Haftung unter
diesem Gesichtspunkt nicht auf Vermittler und nicht auf solche Fallgestaltungen
beschränkt, bei denen es allein darum geht, durch möglichst viele Geschäfte
hohe Gewinne aufgrund überhöhter Gebühren und Aufschläge zu realisieren.
So kann sich ein Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB auch gegen Vor-
standsmitglieder einer Aktiengesellschaft richten und insbesondere dann in Be-
tracht kommen, wenn ein Anleger völlig wertlose Aktien dieser Gesellschaft er-
wirbt (vgl. Senatsurteil vom 11. September 2012 - VI ZR 92/11, VersR 2012,
1525 Rn. 21 ff.). Dies kann dann der Fall sein, wenn sich das Geschäftsmodell
der Gesellschaft als von vornherein chancenlos erweist und die Aktien praktisch
allein zu dem Zweck ausgegeben werden, sich auf Kosten des Anlegers zu be-
reichern.
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bb) Das Berufungsgericht hält einen solchen Fall vorliegend für nicht ge-
geben und führt aus, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und dem ge-
samten Inhalt der Verhandlungen könne nicht davon ausgegangen werden,
dass die ES AG von vornherein ausschließlich dazu bestimmt gewesen sei, ihre
eigenen Aktien oder die Aktien ihrer Großaktionärin an Anleger zu vermitteln,
ohne das satzungsgemäß vorgesehene Geschäft des Factorings zu betreiben.
Zur Begründung führt das Berufungsgericht an, ausweislich der Umsatzzahlen
seien tatsächlich - wenn auch nur geringe - Einnahmen aus Factoring erzielt
worden. Die geringe Höhe der Einnahmen lasse sich aber noch damit erklären,
dass die ES AG am Beginn ihrer Geschäftstätigkeit gestanden habe und das
Eintreiben von abgetretenen Forderungen eine gewisse Zeit beanspruche.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe eine Akquisition von Forderun-
gen zum Zwecke des Factorings tatsächlich stattgefunden. Angesichts dessen
könne die Behauptung des Beklagten zu 1, er habe an das von ihm initiierte
Geschäftsmodell geglaubt und ein ertragsstarkes Factoringunternehmen auf-
bauen wollen, nicht als widerlegt angesehen werden. Die erstmals im Beru-
fungsverfahren aufgrund von Erkenntnissen des Ermittlungsverfahrens vorge-
tragenen hohen Barabhebungen reichten dazu nicht aus.
cc) Gegen diese Beurteilung wendet sich die Revision mit Erfolg. Zwar ist
die Würdigung der Beweise grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten. An des-
sen Feststellungen ist das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebun-
den. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem
Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen um-
fassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung
also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Er-
fahrungssätze verstößt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Senatsurteile vom
1. Oktober 1996 - VI ZR 10/96, VersR 1997, 362, 364; vom 8. Juli 2008 - VI ZR
274/07, VersR 2008, 1126 Rn. 7; vom 16. April 2013 - VI ZR 44/12, VersR
2013, 1045 Rn. 13 und vom 11. November 2014 - VI ZR 76/13, VersR 2015,
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327 Rn. 13; BGH, Urteil vom 5. Oktober 2004 - XI ZR 210/03, BGHZ 160, 308,
316 f. mwN). Solche Fehler sind im Streitfall gegeben.
dd) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung der Frage, ob das Ge-
schäftsmodell der ES AG von vornherein chancenlos war, wesentlichen Sach-
vortrag der Parteien unbeachtet gelassen. Zutreffend weist die Revision auf
eine Reihe von Umständen hin, die in ihrer Gesamtheit zu einer anderen Beur-
teilung des Geschäftsmodells führen könnten, vom Berufungsgericht in diesem
Zusammenhang aber außer Acht gelassen worden sind.
So ist zu berücksichtigen, dass die ES AG 22 Millionen Namensaktien zu
einem Nennwert von je 0,01 CHF ausgegeben hat und diese den Anlegern un-
streitig
zu Preisen von 1,60 € bis zu 5,20 € verkauft worden sind. Damit über-
stieg der Verkaufspreis der Aktien deren Nennwert um mehr als das 159- bis
519-fache. Umstände, die ein Aufgeld in dieser Höhe bei einem jungen Unter-
nehmen als gerechtfertigt erscheinen lassen könnten, waren und sind nicht an-
satzweise erkennbar. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass diese - von der ES
AG selbst festgelegten - hohen Ausgabepreise mit aus dem Factoring zu erwar-
tenden Erträgen korrespondierten. Nach den vom Berufungsgericht getroffenen
Feststellungen erzielte die Gesellschaft aus dem Factoring nämlich nur geringe
Einnahmen. Nach dem nicht bestrittenen Vortrag der Klägerin betrug der Um-
satz aus dem operativen Geschäft im Geschäftsjahr 2007/2008 1,6 % und im
Geschäftsjahr 2008/2009 3,1 % des gesamten Umsatzes der ES AG. Der Er-
tragsanteil aus dem Verkauf eigener Aktien betrug dagegen 98,4 % bzw.
96,9 %. Auch wenn der Geschäftszweck der ES AG nicht ausschließlich in dem
Verkauf eigener Aktien bestand, so können diese Umsatzzahlen doch darauf
hindeuten, dass in Wahrheit darin der Schwerpunkt ihrer Geschäftstätigkeit lag
und das Factoring von ihr nicht ernsthaft und eher nur am Rande betrieben
wurde. Nicht auszuschließen ist, dass das Berufungsgericht bei Berücksichti-
gung dieser Umstände zu einer anderen Bewertung des Beweisergebnisses
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und des Vortrags der Beklagten gekommen wäre. Die Revision verweist dane-
ben auf zahlreiche weitere Fakten, die für die Beurteilung der Werthaltigkeit der
ausgegebenen Aktien von Bedeutung sein können, so auf mehrfach erfolgte
bilanzielle Wertberichtigungen, auf den Verwendungszweck der entnommenen
Gewinne, auf erhebliche Barabhebungen, auf hohe Aufwendungen u.a. für Be-
raterverträge und Niederlassungen der Gesellschaft, auf entstandene Emissi-
onskosten sowie auf hohe Zahlungen an die Hauptaktionärin der ES AG. Diese
Auffälligkeiten können bei der Bewertung des Geschäftsmodells der Gesell-
schaft nicht unberücksichtigt bleiben. Sie sind in eine Gesamtbetrachtung ein-
zubeziehen, die - gegebenenfalls unter Inanspruchnahme sachverständiger
Hilfe - nachzuholen sein wird.
ee) Die für einen Schadensersatzanspruch wegen des Vertriebs völlig
wertloser Aktien erforderliche Ursächlichkeit für den eingetretenen Schaden
kann auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht verneint werden,
zumal der Zedent zu dieser Frage nicht gehört worden ist.
III.
Das Berufungsurteil kann daher gegenüber beiden Beklagten keinen Be-
stand haben, sondern ist aufzuheben (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Da das Beru-
fungsgericht keine eigenen Feststellungen zu den subjektiven Voraussetzungen
eines Sittenverstoßes und zum Schädigungsvorsatz der Beklagten und bezüg-
lich des Beklagten zu 2 - aus seiner Sicht folgerichtig - auch keine Feststellun-
gen zum konkreten Inhalt seiner Pflichten getroffen hat, ist die Sache zur neuen
Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Dieses wird bei der erneuten Befassung zu beachten haben, dass die Klägerin
ihr ursprüngliches Feststellungsbegehren nicht weiterverfolgt, die Zug-um-Zug-
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Einschränkung fallengelassen und den Zahlungsantrag zuletzt unbeschränkt
gestellt hat.
Galke
Wellner
Pauge
Stöhr
Oehler
Vorinstanzen:
LG Düsseldorf, Entscheidung vom 29.09.2011 - 8 O 773/10 -
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 06.12.2013 - I-7 U 36/12 -