Urteil des BGH vom 26.07.2016

Leitsatzentscheidung zu Faires Verfahren, Rechtliches Gehör, Akte, Anweisung

ECLI:DE:BGH:2016:260716BVIZB58.14.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VI ZB 58/14
vom
26. Juli 2016
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 85 Abs. 2, § 233 B
Überträgt eine Kanzleiangestellte die anzuwählende Telefaxnummer des Ge-
richts aus einem in der Akte befindlichen Schreiben des Gerichts in einen frist-
gebundenen Schriftsatz, erfordert die Ausgangskontrolle, die Richtigkeit der
gewählten Nummer auch nochmals darauf zu kontrollieren, ob sie tatsächlich
einem Schreiben des Empfangsgerichts entnommen wurde (Anschluss an
BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2010 - IX ZB 34/10, NJW 2011, 312).
BGH, Beschluss vom 26. Juli 2016 - VI ZB 58/14 - OLG Nürnberg
LG Nürnberg-Fürth
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. Juli 2016 durch den Vor-
sitzenden Richter Galke, den Richter Wellner, die Richterinnen Dr. Oehler und
Dr. Roloff und den Richter Dr. Klein
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 8. Zivilsenates
des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 20. August 2014 wird auf
Kosten des Beklagten als unzulässig verworfen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt
268.341,70
€.
Gründe:
I.
Das Landgericht hat den Beklagten zur Zahlung
von 200.000 € an die
Klägerin verurteilt und festgestellt, dass der Rechtsgrund der Zahlungspflicht
des Beklagten in einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung liegt. Gegen das
ihm am 12. März 2014 zugestellte Urteil hat der Beklagte rechtzeitig Berufung
eingelegt. Das Berufungsgericht hat die Berufungsbegründungsfrist bis zum
12. Juni 2014 verlängert. Die auf den 12. Juni 2014 datierte Berufungsbegrün-
dung ging brieflich am 14. Juni 2014 auf der gemeinsamen Poststelle Justiz
Nürnberg, der sowohl Oberlandesgericht als auch Landgericht angehören, ein.
Bereits am 12. Juni 2014, einem Donnerstag, um 15.38 Uhr hatte die Prozess-
bevollmächtigte des Beklagten die Berufungsbegründung per Fax übersandt,
aufgrund eines Fehlers ihrer Rechtsanwaltsfachangestellten aber an die Tele-
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faxnummer des Landgerichts, nicht des Berufungsgerichts. Das Landgericht
leitete die gefaxte Berufungsbegründung mit Verfügung vom Folgetag, Freitag
dem 13. Juni 2014, an das Berufungsgericht. Die Berufungsbegründung traf am
Montag, dem 16. Juni 2014, bei der gemeinsamen Poststelle Justiz Nürnberg
ein. Nach Hinweis der Vorsitzenden des Berufungsgerichts, die Berufungsbe-
gründung sei verspätet, beantragte der Beklagte am 4. Juli 2014, ihm insoweit
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und unter Abänderung
des landgerichtlichen Urteils die Klage abzuweisen.
Zur Begründung dieses Antrags hat der Beklagte im Wesentlichen aus-
geführt, die zuverlässige und sorgfältige Rechtsanwaltsfachangestellte seiner
Prozessbevollmächtigten, Frau O., die in der Vergangenheit zu keinerlei Bean-
standungen Anlass gegeben habe, sei mit dem Heraussuchen von Anschrift
und Telefaxnummer des Berufungsgerichts betraut gewesen. Nach Fertigstel-
lung des Schriftsatzes habe Frau O. die Telefaxnummer des Landgerichts ein-
gefügt. Grund für das Versehen sei, dass Frau O. die - ebenfalls falsche - Tele-
faxnummer aus der Berufungsschrift wiederverwendet habe. Bereits dort habe
sie versehentlich die Telefaxnummer des Landgerichts eingesetzt. Da die Beru-
fungsschrift fristwahrend per Post eingegangen sei, sei dieser Fehler nicht auf-
gefallen. Frau O. habe bei der Ausgangskontrolle den Sendebericht nur mit der
im Schriftsatz eingetragenen Telefaxnummer abgeglichen. Die Rechtsanwalts-
fachangestellte habe (mehrfach) weisungswidrig gehandelt. In der Kanzlei der
Prozessbevollmächtigten des Beklagten bestehe die generelle Anweisung,
beim Heraussuchen und Ergänzen von Telefaxnummern eines Empfängerge-
richts die Telefaxnummer anhand des letzten in der Handakte befindlichen,
zeitnahen Schreibens dieses Gerichts zu ermitteln. Sofern sich ein solches
Schreiben nicht in der Akte befinde, sei die Telefaxnummer auf der Homepage
des Empfängergerichts zu ermitteln. Bei der Ausgangskontrolle sei anhand des
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Sendeberichts zu prüfen, ob die Sendung vollständig beim bezeichneten Emp-
fänger angekommen sei, ob also die Zustellung des Telefaxes mit sämtlichen
Seiten korrekt erfolgt sei und ob die richtige, dem Empfängergericht zugeordne-
te Faxnummer verwendet worden sei. Hierfür werde die Telefaxnummer des
Empfängergerichts anhand des letzten in der Akte befindlichen Schreibens die-
ses Gerichts abgeglichen. Dem Wiedereinsetzungsantrag war eine entspre-
chende eidesstattliche Versicherung der Frau O. beigefügt.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 20. August 2014 hat das Beru-
fungsgericht die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt
und die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es im Wesent-
lichen ausgeführt, das rechtzeitig eingegangene Wiedereinsetzungsgesuch
bleibe in der Sache ohne Erfolg. Die Versäumung der Berufungsbegründungs-
frist beruhe auf einem Verschulden der Prozessbevollmächtigten des Beklag-
ten, das dieser sich nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsse. Es sei
durch eine entsprechende Büroorganisation zu gewährleisten gewesen, dass
eine Überprüfung der durch Telefax übermittelten fristgebundenen Schriftsätze
auf die Verwendung der zutreffenden Empfängernummer stattfinde. Vorliegend
fehle es an einer ordnungsgemäßen Kanzleiorganisation, weil die eingesetzte
Empfangsnummer vom Personal lediglich dahin abzugleichen war, ob sie mit
der Nummer aus einem bei der Akte befindlichen - vermeintlich vom Beru-
fungsgericht herrührenden - Schreiben übereinstimme, aber die weitergehende
Prüfung, wer Absender des Schreibens ist, versäumt worden sei.
Gegen den Beschluss des Berufungsgerichts vom 20. August 2014 wen-
det sich der Beklagte mit der Rechtsbeschwerde.
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II.
Die Rechtsbeschwerde bleibt ohne Erfolg. Sie ist statthaft (§ 522 Abs. 1
Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO), aber unzulässig.
Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbe-
schwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss
gewahrt sein müssen (Senatsurteil vom 15. Dezember 2015 - VI ZB 15/15,
NJW 2016, 873 Rn. 5), sind nicht erfüllt. Eine Entscheidung des Rechtsbe-
schwerdegerichts ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574
Abs. 2 Nr. 2 ZPO) nicht erforderlich; insbesondere verletzt der angefochtene
Beschluss nicht den Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103
Abs. 1 GG), effektiven Rechtsschutz und ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG
i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip).
1. Das Berufungsgericht weicht - entgegen der Auffassung der Rechts-
beschwerde - mit seiner Entscheidung nicht von der bisherigen Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs ab.
a) Zutreffend geht es davon aus, dass der Beklagte nicht vorgetragen
und glaubhaft gemacht hat, dass ein ursächliches Verschulden seiner Prozess-
bevollmächtigten an der Fristversäumung, das dem Beklagten nach § 85 Abs. 2
ZPO zuzurechnen ist, nicht vorliegt.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der
Rechtsanwalt bei der Versendung fristgebundener Schriftsätze per Telefax
durch organisatorische Vorkehrungen sicherstellen, dass die Telefaxnummer
des angeschriebenen Gerichts verwendet wird (Senatsbeschlüsse vom
27. März 2012 - VI ZB 49/11, VersR 2013, 208 Rn. 7; vom 12. Juni 2012 - VI ZB
54/11, VersR 2012, 1411 Rn. 7; vom 10. September 2013 - VI ZB 61/12, VersR
2014, 1350 Rn. 7). Weiter ist zu fordern, dass auch bei der Entnahme der Tele-
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faxnummer des Empfangsgerichts aus der Akte den Grundsätzen der selbstän-
digen Prüfung der Empfängernummer folgend eine zweifache Prüfung durchge-
führt wird, ob die gewählte Nummer mit der im Schreiben enthaltenen überein-
stimmt und ob es sich bei dem Schreiben tatsächlich um ein solches des Emp-
fängers handelt (BGH, Urteil vom 14. Oktober 2010 - IX ZB 34/10, NJW 2011,
312 Rn. 10; vgl. Senat, Beschluss vom 10. September 2013 - VI ZB 61/12,
VersR 2014, 1350, 1351).
Diesen Anforderungen genügte die Kanzleiorganisation der Prozessbe-
vollmächtigten des Beklagten nicht. Die Anweisung, die Zuordnung der Tele-
faxnummer anhand "des letzten in der Akte befindlichen Schreibens dieses Ge-
richts" abzugleichen, lässt offen, ob die Herkunft des Schreibens nochmals in
einem zweiten Schritt zu überprüfen ist. Geboten sind aber klare organisatori-
sche Anweisungen, deren Verbindlichkeit für die Mitarbeiter außer Frage steht,
weil nur so die Wichtigkeit der einzuhaltenden Schritte in der gebotenen Deut-
lichkeit hervorgehoben wird (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2013 - V ZB
154/12, NJW 2014, 1390 Rn. 15).
Zu Recht davon ausgehend, dass Hilfstätigkeiten geschultem Personal
eigenverantwortlich überlassen werden dürfen (BGH, Beschluss vom 14. Okto-
ber 2010 - IX ZB 34/10, NJW 2011, 312 Rn. 6; vom 9. Juni 2015 - VIII ZB
100/14, juris Rn. 9), stellt das Berufungsgericht weiter richtig darauf ab, dass
das Büropersonal stets wegen der häufig auftretenden Verwechselung der in
einem Verfahren beteiligten Instanzgerichte angewiesen werden muss, die an-
gegebene Faxnummer noch einmal auf ihre Zuordnung zu dem vom Rechtsan-
walt bezeichneten Empfangsgericht zu überprüfen. Nur so kann die bekannte
Fehlerquelle beherrscht werden, dass fristgebundene Rechtsmittelschriften trotz
richtiger postalischer Adressierung weiter per Fax an das Gericht der Vor-
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instanz geleitet werden. Diese Gefahr ist durch die zunehmende Vereinheitli-
chung des äußeren Erscheinungsbildes der Entscheidungen und Schreiben der
Gerichte innerhalb der Bundesländer in den letzten Jahren noch größer gewor-
den. Die genannten Anforderungen gelten auch für die Ausgangskontrolle.
Hätte eine entsprechende klare Anweisung bestanden, wäre der Rechts-
anwaltsfachangestellten nicht verborgen geblieben, dass sie - wiederholt - die
Telefaxnummer des Landgerichts und nicht des Berufungsgerichts eingetragen
und verwendet hat. Der Organisationsfehler der Prozessbevollmächtigten des
Beklagten ist damit zumindest mitursächlich für den Fehler der Büroangestellten
geworden (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juni 2015 - VIII ZB 100/14, juris Rn. 12;
vom 24. Oktober 2013 - V ZB 154/12, NJW 2014, 1390 Rn. 15).
b) Es liegt auch keine Abweichung von der Entscheidung des erkennen-
den Senats vom 23. April 2013 (VI ZB 27/12, VersR 2013, 830) vor, wonach
eine unzumutbare, von Verfassungs wegen nicht hinzunehmende Zugangser-
schwerung zu den Gerichten vorliegt, wenn bei Bestehen einer gemeinsamen
Post- und Faxannahmestelle der Zugang eines Telefaxes bei einem dem Ver-
bund angeschlossenen Gericht nicht auch als Zugang beim ebenfalls der ge-
meinsamen Annahmestelle angeschlossenen Empfängergericht gewertet wird
(vgl. BVerfG, 1 BvR 1784/05, auszugsweise abgedruckt in NJW-RR 2008, 446).
Landgericht und Berufungsgericht teilen sich - mit anderen Justizbehörden -
eine gemeinsame Postannahmestelle. Feststellungen zu einer gemeinsamen
Telefaxannahmestelle liegen nicht vor. Zu Recht weist die Rechtsbeschwerde-
erwiderung zudem darauf hin, dass der Beklagte in seinem Vortrag zur Wieder-
einsetzung selbst davon ausgeht, dass das Telefax an die falsche Telefax-
nummer gesandt wurde mit der Folge, dass die Berufungsbegründung verspä-
tet beim zuständigen Gericht eingegangen ist.
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c) Aus den gleichen Erwägungen heraus liegt der angefochtenen Ent-
scheidung kein Rechtsanwendungsfehler zugrunde, der eine Entscheidung des
Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Das Berufungsgericht stellt den von der
Rechtsbeschwerde monierten - unzutreffenden - Obersatz, es gebe keine Ver-
mutung, dass das Fax beim richtigen Empfängergericht eingegangen sei, wenn
Gerichte sich Gebäude teilten und sich kein Eingangsstempel auf dem Telefax
befinde, nicht auf. Der Beklagte geht selbst davon aus, dass das Faxschreiben
versehentlich an das Landgericht gerichtet worden ist.
2. Die in der Rechtsbeschwerde erhobene Rüge der Verletzung von Ver-
fahrensgrundrechten erweist sich ebenfalls nicht als durchgreifend.
a) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde liegt keine grundle-
gende Verkennung der Rechtsprechung vor. Wie dargelegt geht das Beru-
fungsgericht in Einklang mit den Grundsätzen der höchstrichterlichen Recht-
sprechung davon aus, dass die Prozessbevollmächtigte des Beklagten eine
Kanzleiorganisation, die den strengen Anforderungen zur Vermeidung einer
Fehlleitung fristwahrender Schriftsätze per Telefax genügt, nicht vorgetragen
hat.
b) Soweit die Rechtsbeschwerde geltend macht, es sei unberücksichtigt
geblieben, dass der Beklagte davon ausgehen durfte, dass die an das falsche
Gericht gefaxte Berufungsbegründung noch am gleichen Tag beim Empfänger-
gericht eingehe, überspannt sie die allgemeine Fürsorgepflicht der Gerichte
(vgl. Senatsbeschluss vom 15. Juni 2004 - VI ZB 75/03, VersR 2005, 247; BGH,
Beschluss vom 19. Dezember 2012 - XII ZB 61/12, NJW-RR 2013,
701; BVerfG, NJW 2006, 1579). Zutreffend geht die Rechtsbeschwerde im An-
satz davon aus, dass Gerichte fehlgeleitete Schriftsätze im üblichen Geschäfts-
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gang an das zuständige Gericht weiterleiten. Es besteht aber grundsätzlich kei-
ne Verpflichtung der Gerichte, fehlerhaft adressierte Schriftsätze, die am Tag
des Fristablaufs und zumal zum Ende der normalen Geschäftszeiten eingehen,
ohne Zuständigkeitskontrolle, gleichsam von Hand zu Hand an den vom Ab-
sender intendierten Empfangsort zu bringen. Jedenfalls mit der Übersendungs-
verfügung vom Folgetag, dem 13. Juni 2014, hat das Landgericht hier seiner
Fürsorgepflicht durch eine Weiterleitung im Rahmen des üblichen Geschäfts-
ganges genügt.
Galke
Wellner
Oehler
Roloff
Klein
Vorinstanzen:
LG Nürnberg-Fürth, Entscheidung vom 12.02.2014 - 2 O 6335/10 -
OLG Nürnberg, Entscheidung vom 20.08.2014 - 8 U 884/14 -