Urteil des BGH vom 12.12.2014

Leitsatzentscheidung zu Genehmigung, Beschränkung, Betriebskosten, Versammlung, Anfechtungsfrist

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
V ZR 53/14
Verkündet am:
12. Dezember 2014
Mayer
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
WEG § 46
Auch bei einer Beschlussanfechtungsklage darf die Auslegung des Klageantrags -
wie allgemein im Prozessrecht - nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks haf-
ten, sondern hat den wirklichen Willen der Partei zu erforschen; nur wenn sich das
Rechtsschutzziel des Klägers auch durch die gebotene Auslegung unter Einbezie-
hung der gesamten Klageschrift nicht eindeutig ermitteln lässt, gehen die verblei-
benden Unklarheiten zu seinen Lasten.
BGH, Urteil vom 12. Dezember 2014 - V ZR 53/14 - LG München I
AG München
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 12. Dezember 2014 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die
Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, den Richter Dr. Roth, die Richterin
Dr. Brückner und den Richter Dr. Göbel
für Recht erkannt:
Auf die Rechtsmittel des Klägers werden das Urteil des Landge-
richts München I - 1. Zivilkammer - vom 13. Januar 2014 aufgeho-
ben
und
das
Urteil
des
Amtsgerichts
München
vom
27. Dezember 2012 im Kostenpunkt und insoweit abgeändert, als
die Klage hinsichtlich TOP 4 Antrag 2 abgewiesen worden ist.
Der in der ordentlichen Eigentümerversammlung der WEG L.
straße 249, M. , vom 22. Mai 2012 zu TOP 4 Antrag 2 ge-
fasste Beschluss wird für ungültig erklärt.
Die Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz werden gegenei-
nander aufgehoben. Die Beklagten tragen die Kosten der Rechts-
mittelverfahren.
Von Rechts wegen
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Tatbestand:
Die Parteien bilden eine Wohnungseigentümergemeinschaft. Deren Ge-
meinschaftsordnung sieht vor, dass eine Änderung „um wirksam zu werden, der
Zustimmung von 4/5 aller vorhandenen Stimmen der Wohnungseigentümer“
bedarf.
Die mit der Einladung zu der Eigentümerversammlung vom 22. Mai 2012
übersandte Tagesordnung führte unter TOP 4 „Beschluss über die Genehmi-
gung der Einzel- und Gesamtabre
chnung 2011 incl. Heizkostenabrechnung“ auf
und unter TOP 6 „Beschluss über den Einzel- und Gesamtwirtschaftsplan 2012
(…)“. In der Eigentümerversammlung wurde zu TOP 4 unter Antrag 1 die Ge-
nehmigung der Gesamt- und Einzelabrechnung für das Wirtschaftsjahr 2011
mehrheitlich beschlossen. Unter der Bezeichnung TOP 4 Antrag 2 wurde noch
ein weiterer Beschluss gefasst, mit dem der in der Teilungserklärung vorgese-
hene Kostenverteilungsschlüssel ab dem Geschäftsjahr 2012 geändert wurde.
Die zu TOP 6 gefassten Beschlüsse betreffen den Einzel- und Gesamtwirt-
schaftsplan 2012.
Gegen die „zu TOP 4 und TOP 6 gefassten Beschlüsse betreffend Ge-
samt- und Einzelabrechnung 2011 und Einzel- und Gesamtwirtschaftsplan
2012“ hat der Kläger Anfechtungsklage erhoben. Das Amtsgericht hat die zu
TOP 6 gefassten Beschlüsse für ungültig erklärt und die Klage im Übrigen ab-
gewiesen. Die auf TOP 4 Antrag 2 beschränkte Berufung des Klägers ist erfolg-
los geblieben. Das Landgericht hat die Revision „bezüglich der Frage zugelas-
sen, ob das Nichterreichen eines Quorums im Rahmen einer vereinbarten Öff-
nungsklausel zur Nichtigkeit eines Mehrheitsbeschlusses oder lediglich zu des-
sen Anfechtbarkeit führt“. Mit der Revision will der Kläger erreichen, dass der zu
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TOP 4 Antrag 2 gefasste Beschluss für ungültig erklärt wird. Die Beklagten be-
antragen die Zurückweisung des Rechtsmittels.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht, dessen Urteil unter anderem in ZMR 2014, 480 ff.
abgedruckt ist, sieht die Anfechtungsfrist im Hinblick auf TOP 4 Antrag 2 nicht
als gewahrt an. Die Auslegung der Klageschrift ergebe hinsichtlich TOP 4, dass
lediglich ein Beschluss über die Genehmigung der Einzel- und Gesamtabrech-
nung 2011 angefochten werden solle. Dies betreffe nur Antrag 1, nicht aber An-
trag 2. Dessen Anf
echtung ergebe sich auch nicht daraus, dass die „zu TOP 4
und TOP 6 gefassten Beschlüsse“ unter Verwendung des Plurals genannt wor-
den seien; zudem sei die Anfechtung inhaltlich auf TOP 4 Antrag 1 beschränkt
worden. Dass sie sich auch auf die zu TOP 4 Antrag 2 erfolgte Änderung des
Kostenverteilungsschlüssels mit Wirkung ab dem Wirtschaftsjahr 2012 bezie-
hen solle, lasse sich weder der Klageschrift noch dem beigefügten Einladungs-
schreiben entnehmen. Zwar habe der Kläger in der Klageschrift mitgeteilt, dass
er selbst bei der Versammlung nicht anwesend gewesen sei; dies gebiete es
aber nicht, die Klage dahin auszulegen, dass er auch einen ihm gegebenenfalls
unbekannten Beschluss anfechten wolle.
Die Beschlusskompetenz für die Änderung des Kostenverteilungsschlüs-
sels ergebe sich zwar nicht aus § 16 Abs. 3 und 4 WEG, weil auch eine allge-
meine Regelung für Instandhaltungskosten getroffen worden sei. Hieraus folge
aber nicht die Nichtigkeit des gefassten Beschlusses, weil die Gemeinschafts-
ordnung eine Öffnungsklausel enthalte. Werde - wie hier - ein in einer solchen
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Klausel vorgesehenes Quorum nicht erreicht, führe dies nur zur Anfechtbarkeit,
nicht aber zur Nichtigkeit des Beschlusses.
II.
1. Die Revision, mit der sich der Kläger gegen die Abweisung der auf
TOP 4 Antrag 2 bezogenen Anfechtungsklage wendet, ist zulässig; insbesonde-
re ist das Rechtsmittel insoweit ohne Einschränkung zugelassen. Zwar bezieht
sich die von dem Berufungsgericht zur Begründung seiner Zulassungsentschei-
dung angeführte Rechtsfrage nur auf die Nichtigkeitsklage. Dies ist aber nicht
als inhaltliche Beschränkung der Zulassungsentscheidung zu verstehen, die
ohnehin unzulässig wäre. Da Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage denselben
Streitgegenstand haben (vgl. nur Senat, Urteil vom 26. Oktober 2012 - V ZR
7/12, NJW 2013, 65 Rn. 8 mwN), kann die Revision nämlich nicht auf die Nach-
prüfung von Nichtigkeitsgründen begrenzt werden; die Zulassung kann nur auf
einen tatsächlich und rechtlich abgrenzbaren Teil des Gesamtstreitstoffs be-
schränkt werden, der Gegenstand eines Teil- oder Grundurteils sein kann oder
auf den der Rechtsmittelkläger selbst sein Rechtsmittel beschränken könnte
(BGH, Urteil vom 27. Mai 2009 - XII ZR 111/08, NJW 2009, 2450 Rn. 8 mwN).
2. Die Revision ist auch begründet. Mit Erfolg wendet sich der Kläger ge-
gen die Annahme des Berufungsgerichts, er habe hinsichtlich TOP 4 Antrag 2
die Anfechtungsfrist versäumt.
a) Die Auslegung des Klageantrags unterliegt vollen Umfangs der revisi-
onsrechtlichen Nachprüfung. Zwar ist die Einhaltung der Klage- und der Be-
gründungsfrist nach § 46 Abs. 1 Satz 2 WEG keine Voraussetzung für die Zu-
lässigkeit der Beschlussanfechtungsklage; ihre Versäumung führt vielmehr zu
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einem materiell-rechtlichen Ausschluss von Anfechtungsgründen (Senat, Urteil
vom 16. Januar 2009 - V ZR 74/08, BGHZ 179, 230 Rn. 7 ff.). Das ändert aber
nichts daran, dass die Klage und ihre Begründung Prozesshandlungen darstel-
len, deren Auslegung das Revisionsgericht nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs uneingeschränkt nachprüfen kann (vgl. Senat, Urteil vom
27. März 2009 - V ZR 196/08, NJW 2009, 2132 Rn. 8 mwN).
b) Im Ausgangspunkt zutreffend nimmt das Berufungsgericht an, dass
der Kläger zwecks Wahrung der Klagefrist mitteilen muss, gegen welchen Be-
schluss aus welcher Eigentümerversammlung er sich wenden will (vgl. Senat,
Urteil vom 6. November 2009 - V ZR 73/09, NJW 2010, 446 Rn. 15), und dass
die Auslegung eine Beschränkung auf einzelne Beschlüsse oder abtrennbare
Punkte ergeben kann. Aber auch bei einer Beschlussanfechtungsklage darf die
Auslegung - wie allgemein im Prozessrecht - nicht am buchstäblichen Sinn des
Ausdrucks haften, sondern hat den wirklichen Willen der Partei zu erforschen.
Dabei ist der Grundsatz zu beachten, dass im Zweifel dasjenige gewollt ist, was
nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstande-
nen Interessenlage entspricht (vgl. Senat, Urteil vom 19. Oktober 2012 - V ZR
233/11, ZWE 2013, 47 Rn. 11 f. mwN). Nur wenn sich das Rechtsschutzziel des
Klägers auch durch die gebotene Auslegung nicht eindeutig ermitteln lässt, ge-
hen die verbleibenden Unklarheiten zu seinen Lasten (Niedenführ in Nieden-
führ/Kümmel/Vandenhouten, WEG, 11. Aufl., § 46 Rn. 63; missverständlich in-
soweit Suilmann in Jennißen, WEG, 4. Aufl., § 46 Rn. 85; zum früheren Verfah-
ren nach dem FGG OLG Celle, OLGZ 1989, 183 ff.; OLGR 1994, 195; OLG
Frankfurt, OLGR 2005, 80, 81; OLG Zweibrücken, NJW-RR 1995, 397 f.).
c) Bei umfassender Würdigung des Klageantrags unter Einbeziehung
des weiteren Inhalts der Klageschrift erweist sich die Auslegung des Beru-
fungsgerichts als rechtsfehlerhaft. Der Kläger hat nämlich mitgeteilt, an der Ver-
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sammlung persönlich nicht teilgenommen und eine Niederschrift noch nicht er-
halten zu haben. Da er keine näheren Kenntnisse von den gefassten Beschlüs-
sen hatte und sie folglich nicht genau bezeichnen konnte, ist sein Antrag im
Zweifel so zu verstehen, dass er die zu TOP 4 gefassten Beschlüsse (jedenfalls
zunächst) umfassend anfechten wollte. Dagegen lässt sich der Klageschrift
nicht eindeutig entnehmen, dass seine Anfechtung der
„zu TOP 4 und TOP 6
gefassten Beschlüsse betreffend Gesamt- und Einzelabrechnung 2011 und
Einzel-
und Gesamtwirtschaftsplan 2012“ nur TOP 4 Antrag 1 betreffen sollte.
Eine solche Beschränkung ergibt sich insbesondere n
icht aus dem Zusatz „be-
treffend Gesamt-
und Einzelabrechnung 2011“, der zwar der Konkretisierung
dienen soll, aber lediglich den Wortlaut der vor der Versammlung mitgeteilten
und der Klageschrift als Anlage beigefügten Tagesordnung wiedergibt.
Dies gilt umso mehr, als der Kläger sein Rechtsschutzziel durch die Mit-
teilung verdeutlicht hat, ihm sei berichtet worden, dass „insbesondere bei der
Aufteilung der Wohngelder zu seinem Nachteil von den Vorgaben der Teilungs-
erklärung abgewichen worden“ sei. Diese Begründung konnte zwar auch den
zu TOP 4 Antrag 1 gefassten Beschluss betreffen, sofern die Gesamt- und Ein-
zelabrechnung 2011 mit den Vorgaben der Teilungserklärung nicht im Einklang
stand; vornehmlich und offenkundig bezog sie sich jedoch - wie die Revision zu
Recht hervorhebt - auf die dauerhafte Änderung des in der Teilungserklärung
vorgesehenen Kostenverteilungsschlüssels, die Gegenstand des Beschlusses
zu TOP 4 Antrag 2 war und über die der Kläger erklärtermaßen nur vom Hören-
sagen berichten konnte.
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III.
Das Urteil kann danach keinen Bestand haben. Die Sache ist zur Ent-
scheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO).
1. Der geltend gemachte Anfechtungsgrund besteht.
a) Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass die Mehrheit von 4/5 aller
vorhandenen Stimmen der Wohnungseigentümer nicht erreicht worden ist, die
nach der Gemeinschaftsordnung eine Änderung derselben erlaubt. Aus § 16
Abs. 3 WEG ergibt sich keine Beschlusskompetenz. Diese Norm erlaubt unter
näher geregelten Voraussetzungen eine generelle Änderung des gesetzlichen
Verteilungsschlüssels gemäß § 16 Abs. 2 WEG durch Mehrheitsbeschluss.
Über ihren Wortlaut hinaus gilt sie zwar auch für die Änderung eines - wie hier -
durch Vereinbarung festgelegten Verteilungsschlüssels (Senat, Urteil vom
9. Juli 2010 - V ZR 202/09, NJW 2010, 2654 Rn. 9 mwN), aber stets nur im
Hinblick auf die Betriebskosten des gemeinschaftlichen Eigentums oder des
Sondereigentums im Sinne des § 556 Abs. 1 BGB und die Kosten der Verwal-
tung. D
agegen setzt sich das vereinbarte „Nutzungsentgelt“, dessen Aufbrin-
gung der angefochtene Beschluss verändern soll, aus Betriebs- und Instand-
setzungskosten zusammen; im Hinblick auf letztere kann die Kostenverteilung
nur unter den Voraussetzungen von § 16 Abs. 4 WEG im Einzelfall, nicht aber
generell geändert werden.
b) Der Beschluss kann auch nicht gemäß § 139 BGB, § 16 Abs. 3 WEG
beschränkt auf die Betriebskosten aufrechterhalten bleiben. Nach dem hypothe-
tischen Parteiwillen kann schon deshalb nicht zweifelsfrei davon ausgegangen
werden, dass der Beschluss auch als Teilregelung beschlossen worden wäre
(zu diesem Erfordernis näher Senat, Urteil vom 10. Oktober 2014 - V ZR 315/13
Rn. 21, juris, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen), weil dies zur Folge
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hätte, dass Betriebs- und Instandhaltungskosten nach unterschiedlichen Vertei-
lungsschlüsseln abzurechnen wären.
2. Einer Klärung der umstrittenen und höchstrichterlich noch nicht ent-
schiedenen Frage nach der Nichtigkeit eines solchen Beschlusses, die das Be-
rufungsgericht von seinem Standpunkt aus zu Recht zu der Zulassung der Re-
vision veranlasst hat, bedarf es nicht; denn in Fallkonstellationen wie der vorlie-
genden kann das Gericht den Beschluss ohne weiteres für ungültig erklären
(näher Senat, Urteil vom 2. Oktober 2009 - V ZR 235/08, BGHZ 182, 307
Rn. 21 f.).
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 1 ZPO.
Stresemann
Schmidt-Räntsch
Roth
Brückner
Göbel
Vorinstanzen:
AG München, Entscheidung vom 27.12.2012 - 483 C 15927/12 WEG -
LG München I, Entscheidung vom 13.01.2014 - 1 S 1817/13 WEG -
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