Urteil des BGH vom 21.01.2016

Rechtliches Gehör, Beratungsvertrag, Abgabe, Wohnung

ECLI:DE:BGH:2016:210116BVZR183.15.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZR 183/15
vom
21. Januar 2016
in dem Rechtsstreit
- 2 -
Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. Januar 2016 durch
die
Vorsitzende
Richterin
Dr. Stresemann,
die
Richterinnen
Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und Dr. Brückner, den Richter Dr. Göbel und
die Richterin Haberkamp
beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil
des 26. Zivilsenats des Kammergerichts vom 8. Juli 2015 aufge-
hoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbe-
schwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der
Gegenstandswert
des
Beschwerdeverfahrens
beträgt
140.000
€.
Gründe:
I.
Die Beklagte war Eigentümerin von 22 Eigentumswohnungen in einem
Gebäude. Im Jahr 2008 ließ sie den Verkehrswert der Wohnungen sachver-
ständig begutachten. Am 6. Dezember 2008 gaben der Kläger und seine Ehe-
frau, vermittelt durch eine GmbH, ein notariell beurkundetes Kaufangebot über
die Wohnung Nr. 22 nebst Stellplatz zu einem Kaufpreis von insgesamt
132.500
€ ab. Am 18. Dezember 2008 nahm die Beklagte das Angebot an. Der
Kläger und seine Ehefrau wurden als Eigentümer im Grundbuch eingetragen.
1
- 3 -
Der Kläger verlangt aus eigenem und abgetretenem Recht seiner Ehe-
frau die Rückabwicklung des Kaufvertrags, gestützt u.a. auf eine Anfechtung
des Kaufvertrags. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Beru-
fung der Beklagten hat das Kammergericht sie abgewiesen. Die Revision hat es
nicht zugelassen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des
Klägers.
II.
Das angefochtene Urteil ist auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klä-
gers nach § 544 Abs. 7 ZPO insgesamt aufzuheben, weil das Berufungsgericht
dessen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungs-
erheblicher Weise verletzt hat.
1. Der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör ist verletzt.
a) Der Bundesgerichtshof entnimmt Art. 103 Abs. 1 GG in ständiger
Rechtsprechung, dass eine in erster Instanz siegreiche Partei darauf vertrauen
darf, von dem Berufungsgericht rechtzeitig einen Hinweis zu erhalten, wenn
dieses in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der
Vorinstanz nicht folgen will und auf Grund seiner abweichenden Ansicht eine
Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält. Ein
solcher Hinweis muss so rechtzeitig erteilt werden, dass der Berufungsbeklagte
noch vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung reagieren kann. Die Partei-
en müssen Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen können; sie
dürfen nicht gehindert sein, ihren Sachvortrag zu ergänzen (vgl. zum Ganzen
Senat, Beschluss vom 16. September 2015 - V ZR 8/15, juris Rn. 6 mwN).
b) Diesen Anforderungen wird das Vorgehen des Berufungsgerichts nicht
gerecht.
2
3
4
5
6
- 4 -
aa) Ein Hinweis war gemäß § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderlich, soweit
das Berufungsgericht meint, der Kläger habe nicht ausreichend aufgezeigt,
dass die angeblich in Aussicht gestellte monatliche Zuzahlung von 190
€ falsch
gewesen sei.
(1) In erster Instanz bedurfte es keines solchen Hinweises, da das Land-
gericht den Kaufvertrag als sittenwidrig ansah. Nachdem das Berufungsgericht
diese Auffassung nicht teilte, war der auf den Beratungsvertrag bezogene Vor-
trag erstmals entscheidungserheblich. Hielt das Berufungsgericht die hierauf
bezogene Darlegung für unzureichend, musste es dem Kläger rechtzeitig mittei-
len, dass und in welcher Hinsicht es eine Ergänzung des Vortrags für erforder-
lich hielt. Eine Partei darf nämlich darauf vertrauen, dass das Gericht sie darauf
hinweist, wenn es ihren bisherigen Vortrag als nicht ausreichend substantiiert
erachtet, und dass sie sodann Gelegenheit zur Ergänzung ihres Vortrags erhält
(vgl. BGH, Urteil vom 13. Januar 1999 - IV ZR 7/98, NJW-RR 1999, 605, 606;
Beschluss vom 13. März 2008 - I ZB 59/07, NJW 2008, 1742 Rn. 13 f.; MüKo-
ZPO/Wagner, 4. Aufl., § 139 Rn. 23 mwN). An der Hinweispflicht ändert es
nichts, wenn der Gegner seinerseits die fehlende Substantiierung rügt.
(2) Um eine solche, von Seiten des Gerichts für erforderlich gehaltene
weitere Substantiierung des Tatsachenvortrags geht es, nicht dagegen - wie
das Berufungsgericht meint - um die Mitteilung der Rechtsmeinung des Ge-
richts zu dem zentralen Streitpunkt des Rechtsstreits, auf die sich die Hinweis-
pflicht im Grundsatz nicht erstreckt (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom
16. September 2015 - V ZR 8/15, juris Rn. 10 mwN). Das Berufungsgericht
vermisst lediglich eine Ergänzung des für sich genommen schlüssigen Vortrags
im Hinblick auf die erzielten Steuervorteile.
bb) Den erforderlichen Hinweis hat das Berufungsgericht erstmals erteilt,
indem es die Rechtslage im Hinblick auf den Beratungsvertrag in der mündli-
7
8
9
10
- 5 -
chen Verhandlung erörtert hat. Dies war jedoch nicht rechtzeitig. Daher musste
die Sache entweder vertagt werden oder jedenfalls - wie die Nichtzulassungs-
beschwerde zu Recht geltend macht - gemäß § 139 Abs. 5 ZPO der beantragte
Schriftsatznachlass gewährt werden; eine sofortige Erklärung zu den Einzelhei-
ten der steuerlichen Auswirkungen war dem Kläger nicht zuzumuten.
2. Der Verfahrensfehler ist entscheidungserheblich. Ob ein Beratungs-
vertrag zwischen den Parteien zustande gekommen ist, hat das Berufungsge-
richt offen gelassen; dies ist im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zu
unterstellen.
a) Der Kläger hat mit der Nichtzulassungsbeschwerde im Einzelnen dar-
gelegt, dass nach Abzug der Mieteinnahmen ein Defizit von 451,54 € verblieb
und die Steuervorteile angesichts des zu versteuernden Jahreseinkommens der
Eheleute von weniger als 50.000 € lediglich 180 € bis 190 € pro Monat betru-
gen. Danach lag die Unterdeck
ung deutlich über 190 €. Nach dem ergänzten
Vortrag des Klägers war die behauptete Beratung fehlerhaft.
b) Zu Unrecht meint das Berufungsgericht, der Kläger habe nicht darge-
legt, dass die Zusage einer monatlichen Zuzahlung von 190 € vor Abgabe des
Kaufangebots erfolgt sei. Insoweit nimmt es nämlich, wie die Nichtzulassungs-
beschwerde zutreffend darlegt, den detaillierten Vortrag in der Klageschrift zu
dem Ablauf der Beratung nicht vollständig zur Kenntnis. Dort hat der Kläger un-
ter Beweisantritt vorgetragen, der Abgabe des notariellen Kaufangebots sei ei-
ne umfangreiche Beratung durch die Vermittlerin vorausgegangen. Sämtliche
Verhandlungen mit dieser hätten vor Abschluss des Kaufvertrags stattgefunden.
Der Kläger und seine Ehefrau hätten dem Mitarbeiter der Vermittlerin angefor-
derte Unterlagen wie Gehaltsabrechnungen und Versicherungsunterlagen
übergeben. Daraufhin sei ein mehrseitiges Berechnungsbeispiel der „Süddeut-
schen Finanzsoftware“ erstellt und erläutert worden, aus dem sich eine monatli-
11
12
13
- 6 -
che Zuzahlung
nach Steuern von 195 € bis 198 € ergeben habe. Das Berech-
nungsbeispiel habe der Vermittler jedoch wieder an sich genommen.
Schon da-
raus ergab sich, dass als Anlage zur Klageschrift nicht der konkret verwendete
Berechnungsbogen eingereicht wurde. Dementsprechend ist das vorgelegte
Berechnungsbeispiel ausdrücklich als „Musterbeispiel“ bezeichnet, das zudem
auf jeder Seite den Zusatz „Süddeutsche Finanzsoftware - Unverbindliche Mo-
dellrechnung“ trägt. Erst nach Erstellung des konkreten Berechnungsbeispiels
sei die später erworbene Wohnung als Kaufobjekt vorgestellt worden.
c) Weil das Berufungsgericht den Vortrag zu dem Berechnungsbeispiel
nicht vollständig erfasst, wertet es die Angaben des Vermittlers zu Unrecht als
bloße werbende Anpreisung.
3. Soweit die Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt wird, dass das
Berufungsgericht anders als die Vorinstanz die Sittenwidrigkeit verneint, hat der
Senat die geltend gemachten Zulassungsgründe geprüft und als nicht durch-
14
15
- 7 -
greifend angesehen; von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 544
Abs. 4 Satz 2 ZPO).
Stresemann
Schmidt-Räntsch
Brückner
Göbel
Haberkamp
Vorinstanzen:
LG Berlin, Entscheidung vom 10.11.2011 - 9 O 136/10 -
KG Berlin, Entscheidung vom 08.07.2015 - 26 U 223/11 -