Urteil des BGH vom 19.05.2011

Leitsatzentscheidung zu Persönliche Anhörung, Abschiebung, Haftgrund, Anzeigepflicht, Sicherungshaft

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 36/11
vom
19. Mai 2011
in der Freiheitsentziehungssache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
AufenthG § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Nr. 5
a) Der Haftgrund gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG setzt in der Regel vo-
raus, dass die Ausländerbehörde den Ausländer auf die Anzeigepflicht nach § 50
Abs. 5 AufenthG und die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthalts-
wechsels verbundenen Folgen hingewiesen hat.
b) Gründet sich der Verdacht der Entziehungsabsicht allein auf Umstände, die in
§ 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG geregelt sind, kann die Haft nicht zusätzlich auf
§ 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG gestützt werden.
BGH, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 36/11 - LG Heilbronn
AG Öhringen
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. Mai 2011 durch den Vor-
sitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richterin Dr. Stresemann, den Richter
Dr. Roth und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:
Dem Betroffenen wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ge-
gen die Versäumung der Fristen für die Einlegung und die Begrün-
dung der Rechtsbeschwerde gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass
der Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Heilbronn vom
30. November 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt
hat.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zweckentsprechenden
außergerichtlichen Auslagen des Betroffenen werden dem Land
Baden-Württemberg auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
3.000 €.
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Gründe:
I.
Der Betroffene ist kasachischer Staatsangehöriger und hält sich seit dem
Jahre 2007 im Bundesgebiet auf. Er wurde mit Verfügung vom 25. September
2009 unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aus dem Bundesgebiet
innerhalb eines Monats aufgefordert. Der von dem Betroffenen gegen die Ab-
schiebungsandrohung beantragte einstweilige Rechtsschutz vor dem Verwal-
tungsgericht ist ohne Erfolg geblieben.
In der Folgezeit hielt sich der Betroffene nicht mehr in der ihm zugewie-
senen Unterkunft auf. Am 15. November 2010 wurde er in Gewahrsam ge-
nommen, als er bei der Stadtverwaltung seine Eheschließung anmelden wollte.
Auf Antrag des Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht mit Beschluss vom
16. November 2010 Haft zur Sicherung der Abschiebung für die Dauer von
höchstens zwei Monaten und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung an-
geordnet. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Land-
gericht zurückgewiesen. Nach Beendigung des Beschwerdeverfahrens ist er
aus der Haft entlassen worden. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt er, den
Beschluss des Landgerichts aufzuheben.
II.
Das Beschwerdegericht meint, die Anordnung der Sicherungshaft sei zu
Recht erfolgt. Die Haftgründe des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 5 AufenthG sei-
en gegeben. Der Betroffene habe seinen Aufenthaltsort gewechselt, ohne dies
der Ausländerbehörde bekannt zu geben, und sei damit untergetaucht, was den
Verdacht begründe, er werde sich seiner Abschiebung entziehen. Dieser An-
nahme stehe die beabsichtigte Eheschließung nicht entgegen. Von einer erneu-
ten persönlichen Anhörung des Betroffenen habe es abgesehen, da aufgrund
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der anwaltlichen Vertretung des Betroffenen und seiner erst kurz zuvor erfolg-
ten persönlichen Anhörung durch das Amtsgericht keine neuen Erkenntnisse zu
erwarten gewesen seien.
III.
1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig.
a) Der Betroffene hat infolge seiner Bedürftigkeit die Fristen für die Einle-
gung der Rechtsbeschwerde (§ 71 Abs. 1 Satz 1 FamFG) und ihre Begründung
(§ 71 Abs. 2 Satz 1 FamFG) versäumt. Ihm ist daher gegen die Versäumung
beider Fristen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, § 17
Abs. 1 FamFG. Nach Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe hat er die Einle-
gung und die Begründung der Rechtsbeschwerde fristgerecht nachgeholt (§ 18
Abs. 1, Abs. 3 Satz 2, § 71 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 FamFG).
b) Der von ihm gestellte Antrag auf Aufhebung der Beschwerdeentschei-
dung ist dem erkennbar verfolgten Rechtsschutzziel entsprechend in einen
Feststellungsantrag nach § 62 Abs. 1 FamFG hinsichtlich der Beschwerdeent-
scheidung umzudeuten. Die Auslegung des Rechtsschutzbegehrens lässt je-
doch keine Umdeutung dahingehend zu, dass auch die Feststellung der
Rechtswidrigkeit der Entscheidung des Amtsgerichts beantragt ist. Einen sol-
chen Antrag hat er weder in der Beschwerdeinstanz gestellt noch hat er die
Haftanordnung zum Gegenstand des Rechtsbeschwerdeverfahrens gemacht.
3. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Beschwerdeentscheidung
hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
a) Die Feststellungen tragen nicht den angenommenen Haftgrund nach
§ 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG.
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(1) Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer zur Sicherung der Abschie-
bung in Haft zu nehmen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Auslän-
der seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde eine An-
schrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Der nicht angezeigte Aufenthalts-
wechsel begründet in diesem Fall die Vermutung, dass die Abschiebung ohne
die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird (Senat, Beschluss vom 9. Februar
2011
– V ZB 16/11 Rn. 8, juris; Beschluss vom 1. Juli 1993 – V ZB 19/93, NJW
1993, 3069, 3070 zu § 57 Abs. 2 AuslG). Wegen dieser einschneidenden Folge
muss die Ausländerbehörde in der Regel auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs.
5 AufenthG und die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswech-
sels verbundenen Folgen hinweisen (Senat, Beschluss vom 9. Februar 2011
– V ZB 16/11 Rn. 8, juris; OLG Celle, InfAuslR 2004, 118; OLG München,
OLGR München 2007, 144, 145; OLG Zweibrücken, InfAuslR 2006, 376;
Hailbronner, AuslR, 61. Aktualisierung, § 62 AufenthG Rn. 44 a.E.). Bei der
Anwendung der Vorschrift ist zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu
beachten, der in Ausnahmefällen dazu führt, dass die Vermutung widerlegt
werden kann (BVerfG, InfAuslR 1994, 342, 344 zu § 57 Abs. 2 AuslG; insoweit
unzutreffend Senat, Beschluss vom 9. Februar 2011
– V ZB 16/11 Rn. 8, juris,
im Anschluss an den Beschluss vom 1. Juli 1993
– V ZB 19/93, NJW 1993,
3069, 3070 zu § 57 Abs. 2 AuslG). Will sich der Ausländer offensichtlich nicht
der Abschiebung entziehen, ist der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel allein
kein ausreichender Haftgrund (BVerfG, InfAuslR 1994, 342, 344; Hailbronner,
AuslR, 61. Aktualisierung, § 62 AufenthG Rn. 44).
(2) Der Betroffene hat dem Beteiligten zu 2 seinen Aufenthaltsort im
Bundesgebiet zwar nicht mitgeteilt. Dass er auf seine Pflicht zur Mitteilung sei-
nes Aufenthalts an die Ausländerbehörde hingewiesen worden ist, lässt sich
den Feststellungen des Beschwerdegerichts aber nicht entnehmen.
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b) Der Hinweis auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 AufenthG ist nicht
deshalb entbehrlich, weil das Beschwerdegericht sich zusätzlich auf den Haft-
grund der Entziehungsabsicht nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG gestützt
hat. § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG enthält eine gegenüber der generalklau-
selartig formulierten Bestimmung des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG spezi-
ellere Regelung (vgl. Senat, Beschluss vom 3. Februar 2005
– V ZB 48/04 zu
§ 57 Abs. 2 AuslG; a.A. OLG Köln, OLGR Köln 2006, 29, 30). Gründet sich der
Verdacht der Entziehungsabsicht allein auf Umstände, die in § 62 Abs. 2 Satz 1
Nr. 2 AufenthG geregelt sind, ist ein Rückgriff auf die Generalklausel verwehrt.
§ 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG kommt als zusätzlicher Haftgrund nur dann
in Betracht, wenn weitere konkrete Umstände die Feststellung der Entzie-
hungsabsicht tragen. Daran fehlt es hier, weil das Beschwerdegericht die Ent-
ziehungsabsicht des Betroffenen nur mit dem nicht angezeigten Aufenthalts-
wechsel begründet hat. Dieser rechtfertigt allein unter den Voraussetzungen
des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG die Anordnung von Sicherungshaft.
c) Die Entscheidung des Beschwerdegerichts hat den Betroffenen
schließlich in seinen Rechten verletzt, weil er in dem Beschwerdeverfahren
– wie von der Rechtsbeschwerde gerügt – nicht persönlich angehört worden ist.
Die persönliche Anhörung des Betroffenen ist nach § 68 Abs. 3 Satz 1
i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG und Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1
GG auch im Beschwerdeverfahren grundsätzlich zwingend vorgeschrieben.
Hiervon darf das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG nur abse-
hen, wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anhörung des Betroffenen in ers-
ter Instanz erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhö-
rung nicht zu erwarten sind (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010
– V ZB 3/10
Rn. 8, FGPrax 2010, 261; Beschluss vom 4. März 2010
– V ZB 222/09 Rn. 13,
BGHZ 184, 323; Beschluss vom 28. Januar 2010
– V ZB 2/10, FGPrax 2010,
163). An diesen Voraussetzungen fehlte es. Dabei kann dahinstehen, ob eine
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Anhörung schon im Hinblick auf den möglichen Eingriff in das Recht auf Schutz
des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK erfolgen musste. Denn je-
denfalls musste der Betroffene zu der unterlassenen Anzeige des Aufenthalts-
wechsels an die Ausländerbehörde angehört werden. Dies war in der Be-
schwerdeinstanz nicht wegen der in erster Instanz erfolgten Anhörung entbehr-
lich. Diese Frage ist ausweislich des Protokolls nicht thematisiert worden und
die im Anschluss daran ergangene Haftanordnung lässt schon nicht erkennen,
auf welchen Haftgrund sich das Amtsgericht gestützt hat.
III.
1. Die Sache ist zur Entscheidung reif, § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG. Zwar
wäre möglicherweise noch feststellbar, ob die erforderliche Belehrung des Be-
troffenen erfolgt ist. Dazu ist der Betroffene aber nicht angehört worden. Das
Unterlassen der notwendigen persönlichen Anhörung im Beschwerdeverfahren
drückt wegen deren grundlegender Bedeutung der gleichwohl aufrechterhalte-
nen Sicherungshaft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf, der
durch die Nachholung der Maßnahme - jedenfalls im Fall der Erledigung der
Hauptsache - rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (Senat, Beschluss vom
21. Oktober 2010 - V ZB 176/10 Rn. 12, juris; Beschluss vom 4. März 2010
–Rn. 12,
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 83 Abs. 2, § 81 Abs. 1, § 430
FamFG; unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht
es billigem Ermessen, das Land Baden-Württemberg als derjenigen Körper-
schaft, der der Beteiligte zu 2 angehört, zur Erstattung der zur zweckentspre-
chenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflich-
ten(vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010
– V ZB 28/10 Rn. 18, juris). Die
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Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30
Abs. 2 KostO.
Krüger
Stresemann
Roth
Brückner
Weinland
Vorinstanzen:
AG Öhringen, Entscheidung vom 16.11.2010 - XIV 4/10 -
LG Heilbronn, Entscheidung vom 30.11.2010 - 1 T 547/10 Ri -