Urteil des BGH vom 09.06.2011

Ablauf des Verfahrens, Abschiebung, Persönliche Anhörung, Unterliegen, Beschwerdeinstanz

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 230/10
vom
9. Juni 2011
in der Abschiebungshaftsache
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. Juni 2011 durch den Vorsit-
zenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richter Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und
Dr. Roth und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:
Der Antrag des Betroffenen auf Bewilligung von Verfahrens-
kostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird zurück-
gewiesen.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Be-
schluss des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 13. August
2010 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts
Kempten vom 15. Juni 2010 und des Landgerichts Kempten
(Allgäu) vom 13. August 2010 den Betroffenen in seinen
Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zweckentsprechen-
den notwendigen Auslagen des Betroffenen werden dem Be-
teiligten zu 2 auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens be-
trägt 3.000
€.
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Gründe:
I.
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss
vom 15. Juni 2010 gegen den aus der Türkei stammenden Betroffenen, der be-
reits aufgrund der Haftanordnung vom 19. März 2010 zur Sicherung der Ab-
schiebung inhaftiert war, die Haftanordnung für die Dauer von höchstens drei
Monaten verlängert. Nach Einlegung der Beschwerde gegen die erneute
Haftanordnung ist der Betroffene am 12. Juli 2010 in die Türkei abgeschoben
worden. Seitdem beantragt er die Feststellung, dass er in seinen Rechten ver-
letzt worden ist. Das Landgericht hat das Rechtsmittel zurückgewiesen. Mit der
Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene seinen Antrag weiter. Für die Durch-
führung des Rechtsbeschwerdeverfahrens hat er Verfahrenskostenhilfe bean-
tragt.
II.
Das Beschwerdegericht meint, die Voraussetzungen für die Anordnung
der Sicherungshaft hätten vorgelegen. Insbesondere sei die Abschiebung auch
mit dem notwendigen Nachdruck betrieben worden.
III.
1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist ohne Zulassung statthaft,
auch wenn das Beschwerdegericht bereits über den Feststellungsantrag nach
§ 62 FamFG entschieden hat (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010
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- V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 4). Das auch im Übrigen zulässige
Rechtsmittel (§ 71 FamFG) ist begründet.
a) Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die Entscheidungen der
Vorinstanzen den Betroffenen schon deshalb in seinen Rechten verletzen, weil
keine ausreichenden Feststellungen zur Verhältnismäßigkeit der Haftverlänge-
rung getroffen worden sind.
aa) Die Regelung delässt erkennen, dass
im Regelfall die Dauer von drei Monaten Haft nicht überschritten werden soll
und eine darüber hinausgehende Haftdauer nicht ohne weiteres als verhältnis-
mäßig angesehen werden darf (Senat, Beschluss vom 25. März 2010 -
Rn. 19). Daraus folgt, dass die Verlängerung ei-
ner auf drei Monate befristeten Haftanordnung unzulässig ist, wenn die Ab-
schiebung aus Gründen unterblieben ist, die von dem Ausländer nicht zu vertre-
ten sind (Senat, Beschluss vom 25. März 2010 -
Rn. 19; Beschluss vom 11. Juli 1996 -BGHZ 133, 235, 238 f.
zu § 57 Abs. 2 AuslG). Dies erfordert eine Prognose, dass die Abschiebung
innerhalb von drei Monaten, gerechnet ab dem Zeitpunkt der (ersten) Haftan-
ordnung (Senat, Beschluss vom 10. Juni 2010 -
Rn. 18; Beschluss vom 25. März 2010 -
Rn. 18), überhaupt - also ohne Berücksichtigung der von dem Aus-
länder zurechenbar veranlassten Verzögerungen - hätte durchgeführt werden
können (Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11, juris Rn. 7).
Diese Prognose hat der Haftrichter grundsätzlich auf alle im konkreten
Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe, die der Abschiebung entgegen-
stehen oder sie verzögern können, zu erstrecken (Senat, Beschluss vom
25. März 2010 -Rn. 17; Senat, Beschluss
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vom 14. April 2011 - V ZB 76/11, juris Rn. 8). Hierzu sind konkrete Angaben
zum Ablauf des Verfahrens und zu dem Zeitraum, in welchem die einzelnen
Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden können, erforderlich
(Senat, Beschluss vom 25. März 2010 -
Rn. 17: Senat, Beschluss vom 14. April 2011 - V ZB 76/11, aaO). Der Tatrichter
darf sich insoweit nicht auf die Wiedergabe der Einschätzung der Ausländerbe-
hörde beschränken, die Abschiebung werde voraussichtlich innerhalb von drei
Monaten stattfinden können. Soweit die Ausländerbehörde keine konkreten
Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es gemäß § 26 FamFG dem Gericht nachzu-
fragen (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 193/09, InfAuslR 2010, 361,
363).
bb) Diesen Grundsätzen werden die Entscheidungen der Vorinstanzen
schon deshalb nicht gerecht, weil keine Feststellungen dazu getroffen worden
sind, dass ein türkischer Staatsangehöriger üblicherweise innerhalb von drei
Monaten (§ 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG) abgeschoben werden kann. Nur dann
aber hätte ein verzögerndes Verhalten des Betroffenen ursächlich dafür sein
können, dass die Abschiebung nicht innerhalb des genannten Zeitraums durch-
geführt worden ist. Hinzu kommt, dass auch unter dem Blickwinkel des Be-
schleunigungsgebots (vgl. nur Senat, Beschluss vom 7. April 2011 - V ZB
111/10, juris Rn. 12), das mit zunehmender Haftdauer verstärkte Anstrengun-
gen der Behörde bei der Beseitigung von nicht in der Person des Betroffenen
liegenden Hindernissen verlangt, keine subsumtionsfähigen Tatsachen festge-
stellt worden sind. Die floskelhafte Wendung, die Abschiebung sei mit dem not-
wendigen Nachdruck betrieben worden, ersetzt nicht die erforderliche Feststel-
lung der dieser Wertung zugrunde liegenden Tatsachen.
b) Die Sache ist zur Endentscheidung reif (§ 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG).
Denn selbst wenn man unterstellt, dass die Abschiebung ohne ein schuldhaft
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verzögerndes Verhalten des Betroffenen innerhalb von drei Monaten hätte
durchgeführt werden können und mit der erforderlichen Zügigkeit betrieben
worden ist, hätte der - mittlerweile abgeschobene - Betroffene persönlich auch
zu dem Ausmaß der ihm vorwerfbaren zeitlichen Verzögerungen angehört wer-
den müssen. Eine inhaltlich unzureichende persönliche Anhörung des Betroffe-
nen führt dazu, dass der Sachverhalt nicht in dem gebotenen Umfang aufge-
klärt ist und die Haftanordnung nicht hätte ergehen dürfen (Senat, Beschluss
vom 17. Juni 2010 - V ZB 3/10, FGPrax 2010, 261, 262 Rn. 22).
c) Im Übrigen gibt die Beschwerdeentscheidung Anlass zu dem Hinweis,
dass nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Senat, Be-
schluss vom 11. November 2010 - V ZB 113/10, juris Rn. 3; Senat, Beschluss
vom 16. September 2010 - V ZB 95/10, juris Rn. 3; Senat, Beschluss vom
18. August 2010 - V ZB 119/10, juris Rn. 7; Senat, Beschluss vom 7. Mai 2009 -
juris Rn. 5;
BGH, Beschluss vom 5. August 2002 -
BGH, Beschluss vom 12. Juli 2004 - II ZB 3/02
BGH, Beschluss vom 7. April 2005 -
Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, den für die Entschei-
dung maßgeblichen Sachverhalt wiedergeben müssen. Eine Bezugnahme auf
Aktenbestandteile oder auf Feststellungen des ersten Rechtszuges ist dabei
nicht ausgeschlossen, setzt aber voraus, dass ihr Umfang zweifelsfrei gekenn-
zeichnet ist und die Entscheidung des Beschwerdegerichts verständlich bleibt
(BayObLG NJW-RR 1997, 396, 397; Bork/Jacoby/Schwab-Müther, FamFG,
§ 69 Rn. 5). Denn nach § 74 Abs. 3 Satz 4 FamFG, § 559 ZPO Abs. 2 Satz 4,
hat das Rechtsbeschwerdegericht grundsätzlich von dem Sachver-
halt auszugehen, den das Beschwerdegericht festgestellt hat (vgl. Senat, Be-
schluss vom 18. August 2010 aaO; Senat, Beschluss vom 14. Mai 2009
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- V ZB 172/08, NJW 2009, 2135). Wird diesen Anforderungen nicht genügt, liegt
ein von Amts wegen zu berücksichtigender Verfahrensmangel vor, der die Auf-
hebung der Beschwerdeentscheidung nach sich zieht (vgl. Senat, Beschluss
vom 11. November 2010 aaO; Senat, Beschluss vom 11. Mai 2006
-Senat, Beschluss vom 16. September 2010
-juris Rn. 3 f.
aaO). Hier liegt es nur deshalb anders, weil der Sachverhalt, der für die Beurtei-
lung der von dem Senat für entscheidungserheblich erachteten Rügen maßgeb-
lich ist, in gerade noch ausreichender Weise den Gründen der Beschwerdeent-
scheidung in Verbindung mit den darin enthaltenen Bezugnahmen zu entneh-
men ist. So liegt es hier.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf bs. 1 Satz 1 und 2,
§die Festsetzung des Gegen-
standswerts folgt aui.V.m(Senat, Beschluss
vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, juris, Rn. 27 f.).
IV.
Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe lie-
gen nicht vor. Die Bezugnahme des Betroffenen auf seine Erklärung zu den
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen vom 1. Juli 2010 ist nicht aus-
reichend. Hat ein Betroffener in der Beschwerdeinstanz das nach § 117 Abs. 4
ZPO, § 1 i.V.m. Anlage 1 PKHVV vorgeschriebene Formular vollständig ausge-
füllt zu den Akten gereicht, genügt in der Rechtsbeschwerdeinstanz eine Be-
zugnahme auf die vorliegende Erklärung, wenn sie unmissverständlich ist und
Veränderungen seitdem nicht eingetreten sind (Senat, Beschluss vom
14. Oktober 2010 - V ZB 214/10, juris Rn. 4; Senat, Beschluss vom 7. Oktober
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2004 - V ZB 8/04, FamRZ 2004, 1961). Dies gilt auch, wenn auf eine Erklärung
in einem Parallelverfahren Bezug genommen wird (BGH, Beschluss vom
12. Juni 2001 - XI ZR 161/01, BGHZ 148, 66; BGH, Beschluss vom
27. November 1996 - XII ZB 84/96, FamRZ 1997, 546; Zöller/Geimer, ZPO,
28. Aufl., § 119 Rn. 53 mwN). So verhält es sich hier jedoch nicht. Aufgrund der
Abschiebung in die Türkei am 12. Juli 2010 haben sich die persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen vor Erhebung der Rechtsbe-
schwerde grundlegend verändert. Eine Erklärung des Betroffenen hierzu, von
der auch unter dem Gesichtspunkt eines effektiven Rechtsschutzes zumindest
grundsätzlich nicht abzusehen ist (Senat, Beschluss vom 14. Oktober 2010 aaO
Rn. 10 f), liegt nicht vor.
Krüger
Schmidt-Räntsch
Roth
Brückner
Weinland
Vorinstanzen:
AG Kempten (Allgäu), Entscheidung vom 15.06.2010 - 2 XIV 26/10 -
LG Kempten, Entscheidung vom 13.08.2010 - 43 T 1273/10 -