Urteil des BGH vom 29.03.2012

Ungültigerklärung, Überprüfung, Rechtsstaatsprinzip, Anfechtung, Entlastung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 176/11
vom
29. März 2012
in dem Rechtsstreit
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 29. März 2012 durch den
Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richter Dr. Lemke und
Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss der
1. Zivilkammer des Landgerichts Landau in der Pfalz vom
5. Mai 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung über die Beru-
fung der Beklagten an das Berufungsgericht zurückverwiesen, das
auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu ent-
scheiden hat.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
15.617,25 €.
Gründe:
I.
Die Parteien sind die Mitglieder einer Wohnungseigentümergemein-
schaft. In der Eigentümerversammlung beschlossen die Wohnungseigentümer
die Genehmigung der Gesamt- und Einzelabrechnungen für das Wirtschaftsjahr
2009 (TOP 1), die Entlastung von Beirat, Rechnungsprüfer und Verwaltung
(TOP 2) sowie die Gesamt- und Einzelwirtschaftspläne für 2011 (TOP 3). Das
Amtsgericht hat die Beschlüsse auf Antrag der Klägerin für unwirksam erklärt.
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Das Landgericht hat die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Da-
gegen wenden sie sich mit der Rechtsbeschwerde.
II.
Das Berufungsgericht meint, es liege keine den Anforderungen des
§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 ZPO genügende Berufungsbegründungsschrift vor.
Im Hinblick auf die Erklärung der Beklagten, das Urteil werde zur Überprüfung
durch das Berufungsgericht gestellt, soweit sie hierdurch noch belastet seien,
könne nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass das Urteil des
Amtsgerichts insgesamt angegriffen werden solle. Klarheit habe auch nicht
durch die Berufungsgründe gewonnen werden können.
III.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
1. Sie ist statthaft und zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert
(§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat den Zugang der Beklagten
zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug in unzumutba-
rer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert, indem
es die Berufung als nicht hinreichend begründet angesehen hat. Dies verletzt
ihren Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1
GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, vgl. BVerfGE 77, 275, 284) und eröffnet die
Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO (vgl. nur Senat, Be-
schluss vom 23. Oktober 2003 - V ZB 28/03, NJW 2004, 367, 368 mwN).
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2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
a) Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 ZPO muss die Berufungsbegründung
die Erklärung enthalten, inwieweit das erstinstanzliche Urteil angefochten wird
und welche Abänderungen beantragt werden. Für diese Erklärung bedarf es
keiner ausdrücklichen Stellung eines Sachantrags; es reicht aus, wenn die Be-
gründung den Schluss auf die Weiterverfolgung des erstinstanzlichen Begeh-
rens zulässt (vgl. nur BGH, Urteil vom 22. März 2006 - VIII ZR 212/04, NJW
2006, 2705 Rn. 8 mwN). Bei der Beurteilung ist im Grundsatz davon auszuge-
hen, dass ein Rechtsmittel im Zweifel gegen die gesamte angefochtene Ent-
scheidung gerichtet ist, diese also insoweit angreift, als der Rechtsmittelführer
durch sie beschwert ist (vgl. nur BGH, Beschluss vom 9. September 2008
- VI ZB 53/07, NJW-RR 2009, 208 f. mwN).
b) Danach hält die Auffassung des Berufungsgerichts, dass der Umfang
der Anfechtung nicht erkennbar sei, der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Zwar enthält die Berufungsbegründung keine Anträge. Aus ihr lässt sich
aber erkennen, dass die Beklagten das amtsgerichtliche Urteil in vollem Um-
fang angreifen. Sie setzen sich mit allen Punkten auseinander, die nach der
Entscheidung des Amtsgerichts die Ungültigerklärung der Beschlüsse tragen,
und verbinden dies mit der Feststellung, dass der Klage zu Unrecht stattgege-
ben worden sei. Der Annahme einer unbeschränkten Berufung steht nicht ent-
gegen, dass die Beklagten in der Berufungsbegründung erklärt haben, sie stell-
ten das Urteil insoweit zur Überprüfung, als sie hierdurch noch belastet sind.
Diese Formulierung ist ersichtlich allein dem Umstand geschuldet, dass sich die
Klägerin mit einigen gegen die Wirksamkeit der Beschlüsse vorgebrachten Ar-
gumenten bei dem Amtsgericht nicht hat durchsetzen können; dies ändert aber
nichts daran, dass sich die Beklagten mit der Berufung erkennbar in vollem Um-
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fang gegen die Ungültigerklärung der Beschlüsse durch das Amtsgericht wen-
den.
Krüger
RiBGH Dr. Lemke ist infolge
Schmidt-
Räntsch
Urlaubs an der Unterschrift
gehindert.
Karlsruhe, den 2. April 2012
Der Vorsitzende
Krüger
RinBGH Dr. Brückner ist infolge
Weinland
Urlaubs an der Unterschrift
gehindert.
Karlsruhe, den 2. April 2012
Der Vorsitzende
Krüger
Vorinstanzen:
AG Ludwigshafen am Rhein, Entscheidung vom 20.01.2011 - 2m C 37/10 -
LG Landau in der Pfalz, Entscheidung vom 05.05.2011 - 1 S 24/11 -