Urteil des BGH vom 20.12.2011

Rechtliches Gehör, Gerichtliche Zuständigkeit, Unbeteiligter Dritter, Zivilprozessordnung, Entlastung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
StB 16/11
vom
20. Dezember 2011
in dem Verfahren
über den Einsatz besonderer Mittel der verdeckten Datenerhebung
des
Polizeipräsidiums
- Antragsteller/Beschwerdeführer/Rechtsbeschwerdeführer -
Verfahrensbevollmächtigte: Rechtsanwälte
Betroffener:
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. Dezember 2011 be-
schlossen:
Der Beschluss des Landgerichts Mainz vom 5. September 2011
wird aufgehoben.
Die Sache wird an das Oberlandesgericht Zweibrücken verwie-
sen.
Gründe:
Der Antragsteller beabsichtigt, zu Zwecken der Gefahrenabwehr den
Eingangsbereich des Mehrfamilienhauses, in dem der Betroffene wohnt, für
einen Zeitraum von 30 Tagen mit einer Videoanlage heimlich zu überwachen,
um auf der Grundlage eines Bewegungsbildes weitere Observationsmaßnah-
men gegen den Betroffenen zu ermöglichen. Das Amtsgericht Mainz hat den
Antrag auf richterliche Entscheidung über den Einsatz besonderer Mittel der
verdeckten Datenerhebung nach § 28 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 Satz 4 des Polizei-
und Ordnungsbehördengesetzes Rheinland-Pfalz (POG RP) mit Beschluss
vom 29. Juli 2011 abgelehnt. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Antrag-
stellers hat das Landgericht Mainz durch Beschluss vom 5. September 2011
zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner - vom
Landgericht zugelassenen - Rechtsbeschwerde. Das Rechtsmittel hat insofern
Erfolg, als die Beschwerdeentscheidung mangels Zuständigkeit des Landge-
richts aufzuheben und die Sache an das zuständige Beschwerdegericht zu
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verweisen ist. Eine eigene Sachentscheidung des Senats kommt derzeit nicht
in Betracht.
1. Der Bundesgerichtshof ist zur Entscheidung über die Rechtsbe-
schwerde entsprechend § 133 GVG berufen.
Der Landesgesetzgeber hat durch die Regelungen des § 21 Abs. 1
Satz 2, Satz 3, § 28 Abs. 4 Satz 6 POG RP die ihm nach § 40 Abs. 1 Satz 2
VwGO eröffnete Möglichkeit genutzt, bestimmte grundsätzlich dem Verwal-
tungsrechtsweg zugehörige Streitigkeiten der länderpolizeilichen Gefahrenab-
wehr einem anderen Rechtsweg mitsamt dem dafür geltenden Verfahrensrecht
und Instanzenzug zuzuweisen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. Dezember 2010
- StB 21/10, NJW 2011, 690; vom 1. März 2011 - StB 28/10). Zwar verweist
§ 21 Abs. 1 Satz 3 POG RP ausdrücklich lediglich auf das Gesetz über das
Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit (FamFG), nicht aber auf das Gerichtsverfassungsgesetz, das u.a.
die Gerichtszuständigkeit im Rechtsmittelverfahren regelt. Aufgrund der Anord-
nung der Geltung des FamFG ergibt sich indes auch eine entsprechende An-
wendung derjenigen Regelungen des Gerichtsverfassungsgesetzes, die den
Instanzenzug für Verfahren nach dem FamFG betreffen. Ohne den Rückgriff
auf die Normen des Gerichtsverfassungsgesetzes liefen die durch die Gesamt-
verweisung auf das FamFG mit in Bezug genommenen Vorschriften über das
Rechtsmittelverfahren leer, weil weder das FamFG selbst die gerichtliche Zu-
ständigkeit normiert noch der Landesgesetzgeber hierzu - ihm grundsätzlich
mögliche - eigene Regelungen getroffen hat (im Ergebnis ebenso OLG Zwei-
brücken, Beschluss vom 3. Mai 2011 - 3 W 45/11, NJW 2011, 3527; OLG Düs-
seldorf, Beschluss vom 24. August 2011 - 3 Wx 188/11, juris Rn. 13). Ange-
sichts dessen kommt es nicht entscheidend darauf an, dass sich aus der Be-
gründung zur Neufassung des § 21 Abs. 1 Satz 3 POG RP (LT-
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Drucks. 15/4879 S. 29) nicht ohne Weiteres entnehmen lässt, ob der Landes-
gesetzgeber bewusst den zuvor eröffneten Instanzenzug abändern wollte, der
nach der früheren Verweisung auf das Gesetz über die Angelegenheiten der
freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) bestand.
2. Es fehlt eine Entscheidung des zuständigen Beschwerdegerichts, die
als Grundlage einer Sachentscheidung des Senats dienen könnte. Dies ist im
hier vorliegenden Verfahren von Amts wegen zu berücksichtigen. Die Sache ist
daher an das zuständige Beschwerdegericht zu verweisen. Im Einzelnen:
a) Nach § 21 Abs. 1 Satz 3, § 28 Abs. 4 Satz 6 POG RP, § 58 FamFG,
§ 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG war zur Entscheidung über die Beschwerde
des Antragstellers nicht das Landgericht, sondern das Oberlandesgericht zu-
ständig (ebenso OLG Zweibrücken, Beschluss vom 3. Mai 2011 - 3 W 45/11,
NJW 2011, 3527; vgl. auch BT-Drucks. 16/6308 S. 167; aA, allerdings ohne
nähere Begründung, Roos/Lenz, POG RP, 4. Aufl., § 21 Rn. 6). Ein Ausnahme-
fall, bei dem nach § 72 Abs. 1 Satz 2, § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG die
Zuständigkeit des Landgerichts gegeben ist, liegt nicht vor.
b) Der Senat hat im Rechtsbeschwerdeverfahren die fehlende Zustän-
digkeit des Beschwerdegerichts von Amts wegen zu berücksichtigen. Hierzu
gilt:
aa) Nach dem Wortlaut des § 72 Abs. 2 FamFG kann die Rechtsbe-
schwerde nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechts-
zugs seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat. Danach liegt es nahe,
dass lediglich die Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts, nicht aber die-
jenige des Beschwerdegerichts im Rechtsbeschwerdeverfahren von der Über-
prüfung ausgeschlossen und damit die Zuständigkeit des Beschwerdegerichts
als wesentliche Sachentscheidungsvoraussetzung von Amts wegen zu beach-
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ten ist. Dies stünde auch mit der Gesetzesbegründung in Einklang, nach der
zur Entlastung der Rechtsmittelgerichte von rein prozessualen Streitigkeiten
Rechtsmittel und damit auch Rechtsbeschwerden vermieden werden sollen,
"die ausschließlich die fehlende Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts
rügen" (BT-Drucks. 16/6308 S. 206, 210).
bb) Allerdings hat der Bundesgerichtshof für das Rechtsbeschwerdever-
fahren nach der Zivilprozessordnung angenommen, dass auch die Zuständig-
keit des Beschwerdegerichts nicht zu prüfen sei (vgl. BGH, Beschluss vom
4. Juli 2007 - VII ZB 6/05, NJW-RR 2007, 1498), und zur Begründung auf den
Regelungsgehalt der § 576 Abs. 2, § 571 Abs. 2 Satz 2 ZPO sowie entspre-
chende Rechtsprechung zum zivilrechtlichen Revisionsverfahren (vgl. BGH,
Urteil vom 22. Februar 2005 - KZR 28/03, NJW 2005, 1660, 1661 f.; vgl. auch
BGH, Beschluss vom 5. November 2008 - XII ZR 103/07, NJW-RR 2009, 434,
435) verwiesen. Dort wird im Wesentlichen darauf abgestellt, der Gesetzgeber
habe bei der Umgestaltung der Zivilprozessordnung durch das Zivilprozess-
Reformgesetz vom 27. Juli 2001 (BGBl. I S. 1887) im Interesse der Verfah-
rensbeschleunigung und der Entlastung der Rechtsmittelgerichte die Nachprü-
fung der Zuständigkeit des vorinstanzlichen Gerichts durch das Rechtsmittelge-
richt deutlich einschränken und damit zugleich vermeiden wollen, dass die von
dem vorinstanzlichen Gericht geleistete Sacharbeit hinfällig werde.
cc) Ob diese über den Gesetzeswortlaut hinausgehende Einschränkung
der Prüfungskompetenz grundsätzlich auch für das an das Verfahren nach der
Zivilprozessordnung angelehnte Rechtsbeschwerdeverfahren nach dem
FamFG (vgl. etwa § 72 Abs. 3 FamFG; BT-Drucks. 16/6308 S. 166) gilt (dafür
Joachim, in: Bahrenfuss [Hrsg.], FamFG, § 72 Rn. 9), bedarf hier letztlich keiner
Entscheidung; denn jedenfalls aufgrund der gegebenen besonderen Verfah-
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renskonstellation ist vorliegend die Zuständigkeit des Beschwerdegerichts von
Amts wegen zu beachten. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:
(1) Anders als bei bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, deren Verfahren in
der Zivilprozessordnung geregelt ist, geht es hier um die Anordnung einer ver-
deckten polizeilichen Maßnahme. Diese hoheitliche, der Gefahrenabwehr die-
nende Datenerhebung, die dem Bereich des öffentlichen Rechts zugehört, ist
notwendigerweise mit Eingriffen in die Grundrechte des Betroffenen sowie un-
beteiligter Dritter verbunden. Diese Grundrechtsbeeinträchtigungen sind von
derartigem Gewicht, dass ihre Anordnung einer richterlichen Entscheidung be-
darf. Unter diesen Umständen kommt dem Umstand, dass das instantiell bzw.
funktionell zuständige Gericht über die Maßnahme entscheidet, besondere Be-
deutung zu.
(2) Trotz des drohenden Grundrechtseingriffs werden der Betroffene so-
wie Dritte, deren Rechte berührt werden können, vor der gerichtlichen Ent-
scheidung entgegen der grundsätzlichen Regelung in § 23 Abs. 2, § 68 Abs. 3
Satz 1 FamFG nicht angehört. Zwar ist der durch die polizeiliche Maßnahme
unmittelbar Betroffene nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG i.V.m. § 21 Abs. 1 Satz 3
POG RP Verfahrensbeteiligter. Jedoch widerspräche seine nach dem Geset-
zeswortlaut vorgesehene Beteiligung an dem Verfahren dem eindeutigen poli-
zeirechtlichen Gesetzeszweck, da § 28 POG RP ausdrücklich die
Datenerhebung regelt. Auch wenn § 28 Abs. 4 Satz 6, § 21 Abs. 1 Satz 3 POG
RP allgemein auf das FamFG und damit auch auf die Vorschriften über die Be-
teiligung des Betroffenen verweisen, die keine etwa den § 33 Abs. 4 Satz 1,
§ 308 Abs. 1 Satz 2 StPO entsprechenden Regelungen zur Einschränkung des
rechtlichen Gehörs enthalten, ist nach der Gesetzessystematik der Betroffene
vor der Beendigung einer derartigen Maßnahme nicht am Verfahren zu beteili-
gen. Ansonsten wäre eine sinnvolle Gesetzesanwendung nicht möglich (vgl.
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BVerfG, Beschluss vom 8. Januar 1959 - 1 BvR 396/55, BVerfGE 9, 89, 94 ff.,
104 f.; s. auch BVerfG, Beschluss vom 16. Juni 1981 - 1 BvR 1094/80,
BVerfGE 57, 346, 358 ff. mwN).
Im Hinblick auf diese Besonderheiten des Verfahrens hatte der Betroffe-
ne hier keine Gelegenheit, die Unzuständigkeit des Landgerichts geltend zu
machen und es so zu einer Verweisung (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 FamFG) an das
zuständige Beschwerdegericht zu veranlassen. Die Möglichkeit, im Verfahren
gehört zu werden, schafft indes einen wesentlichen Teil der Rechtfertigung da-
für, dass der Gesetzgeber es den Beteiligten zumutet, eine Entscheidung ge-
gebenenfalls ohne weitere Korrekturmöglichkeit hinzunehmen (BVerfG, Be-
schluss vom 30. April 2003 - 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107, 395, 409). In Fällen,
in denen der Betroffene auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung kei-
nen Einfluss nehmen kann, soll die Einschaltung des Richters gewährleisten,
dass die Interessen der nicht gehörten Beteiligten gebührend berücksichtigt
und insbesondere die gesetzlichen Voraussetzungen derartiger Eingriffe genau
beachtet werden (BVerfG, Beschluss vom 8. Januar 1959 - 1 BvR 396/55,
BVerfGE 9, 89, 97). Mit dieser gerichtlichen Kontrollfunktion wäre es in der
konkreten Sachlage nicht vereinbar, eine grundsätzlich von Amts wegen vorzu-
nehmende Zuständigkeitsprüfung mit der Begründung zu versagen, die Prüfung
entspreche nicht dem Willen des Gesetzgebers zur Verfahrensbeschleunigung
und zur Entlastung der Rechtsmittelgerichte. Da durch die unterbliebene Anhö-
rung des Betroffenen sein Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103
Abs. 1 GG berührt wird, ist vielmehr in der konkreten Situation zumindest eine
Einschränkung der Prüfungsmöglichkeit des Rechtsbeschwerdegerichts über
den Wortlaut des § 72 Abs. 2 FamFG hinaus abzulehnen.
(3) Der Prüfungsumfang des Rechtsbeschwerdegerichts bei der hier vor-
zunehmenden Beurteilung der Rechtmäßigkeit polizeilicher Gefahrenabwehr-
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maßnahmen lässt sich auch nicht mit der Erwägung einschränken, der Be-
troffene könne die fehlende Zuständigkeit des Beschwerdegerichts in einem
Nachtragsverfahren geltend machen; denn eine solche nachträgliche Prüfung
führt nur zu einem wenig effektiven Rechtsschutz (vgl. zur Bedeutung eines
effektiven Rechtsschutzes BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003 - 1 PBvU
1/02, BVerfGE 107, 395, 408), da in dem Fall, dass eine Maßnahme angeord-
net wird, diese zum Zeitpunkt des Nachverfahrens regelmäßig bereits durchge-
führt sein wird und somit der Grundrechtseingriff nicht mehr verhindert werden
kann.
(4) Etwas anderes ergibt sich schließlich nicht vor dem Hintergrund, dass
das Landgericht die Beschwerde des Antragstellers verworfen hat und der Be-
troffene daher durch die zweitinstanzliche Entscheidung nicht beschwert ist;
denn die vom (unzuständigen) Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen
wären gemäß § 74 Abs. 3 Satz 4 FamFG, § 559 ZPO Grundlage für die Ent-
scheidung über die Rechtsbeschwerde (vgl. Keidel/Meyer-Holz, FamFG,
17. Aufl., § 74 Rn. 26 ff.) und könnten im Falle deren rechtlich abweichender
Bewertung durch den Senat daher auch zu einem den Betroffenen beschwe-
renden Ausgang des Rechtsbeschwerdeverfahrens führen.
c) Auf die Rechtsbeschwerde ist die angefochtene Beschwerdeentschei-
dung gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben. Die Sache ist zur Entscheidung
über die Beschwerde an das nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a GerOrgG RP zu-
ständige Oberlandesgericht Zweibrücken zu verweisen (vgl. § 74 Abs. 6
FamFG). Aufgrund der allgemeinen Verweisung des Landesrechts auf das Ver-
fahren des FamFG sind, wie bereits dargelegt, davon auch diejenigen Vor-
schriften umfasst, welche die Gerichtsverfassung für das Verfahren nach dem
FamFG betreffen. Danach findet auch § 4 Abs. 3 Nr. 2 GerOrgG RP entspre-
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chende Anwendung (ebenso OLG Zweibrücken, Beschluss vom 3. Mai 2011
- 3 W 45/11, NJW 2011, 3527).
Becker Pfister von Lienen
Hubert Schäfer