Urteil des BGH vom 13.10.2015

Strafverfahren, Grundrecht, Anfechtung, Akkreditierung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
S t B 1 0 u n d 1 1 / 1 5
vom
13. Oktober 2015
in dem Strafverfahren
gegen
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wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland u.a.
hier: Beschwerde der S. SE und der B. GmbH & Co. KG gegen
sitzungspolizeiliche Maßnahmen
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des General-
bundesanwalts sowie der Beschwerdeführer und ihrer Bevollmächtigten am
13. Oktober 2015 gemäß § 304 Abs. 4 Satz 1, 2 Halbsatz 1 StPO beschlossen:
Die Beschwerden der S. SE und der B. GmbH & Co.
KG gegen die sitzungspolizeiliche Anordnung des Vorsitzenden
des 4. Strafsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 14. Juli
2015 sowie gegen den Entzug der dem Medium "B. " erteilten
Akkreditierung durch Verfügung vom 3. August 2015 werden
verworfen.
Die Beschwerdeführerinnen tragen die Kosten ihrer Rechtsmittel.
Gründe:
Seit dem 3. August 2015 findet vor dem 4. Strafsenat des
Oberlandesgerichts Celle die Hauptverhandlung gegen die Angeklagten statt.
Vor deren Beginn hat der Vorsitzende des Strafsenats am 14. Juli 2015 eine
sitzungspolizeiliche Anordnung getroffen. Darin hat er unter anderem verfügt,
dass Film- und Fotoaufnahmen der Presse vor und nach der Sitzung sowie in
den Sitzungspausen zwar erlaubt seien, die Gesichter der Angeklagten vor der
Veröffentlichung aber durch technische Verfahren anonymisiert werden
müssten. Nachdem die Beschwerdeführerin zu 2. am 1. Hauptverhandlungstag
zwei Foto- und Videoaufnahmen aus dem Gerichtssaal veröffentlicht hatte, auf
denen das Gesicht des Angeklagten Be. unverpixelt zu sehen war, hat
der Vorsitzende noch am selben Tag entschieden, dem Medium "B. " die
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zuvor gewährte Akkreditierung für das Strafverfahren gegen die Angeklagten zu
entziehen.
Mit ihren Rechtsmitteln wenden sich die Beschwerdeführerinnen gegen
die sitzungspolizeiliche Anordnung des Vorsitzenden des Strafsenats vom
14. Juli 2015 sowie gegen den Entzug der Akkreditierung am 3. August 2015.
Die Beschwerden sind nicht zulässig. Die vom Vorsitzenden getroffenen
sitzungspolizeilichen Anordnungen (§ 176 GVG) sind nicht anfechtbar. § 304
Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO lässt ein Rechtsmittel gegen Beschlüsse und
Verfügungen der Oberlandesgerichte in Sachen, in denen sie im ersten
Rechtszug zuständig sind, nur in ausdrücklich aufgeführten Fällen zu. Diesem
Katalog unterfallen die angegriffenen Verfügungen nicht.
Im Einzelnen:
1. Bei den angefochtenen Anordnungen handelt es sich um
sitzungspolizeiliche Maßnahmen im Sinne des § 176 GVG. Eine ausdrückliche
Regelung zur Anfechtung dieser Maßnahmen enthält das Gerichts-
verfassungsgesetz nicht. § 181 Abs. 1 GVG sieht lediglich ein befristetes
Rechtsmittel gegen die Festsetzung von Ordnungsmitteln nach §§ 178, 180
GVG vor. Daraus zieht die herrschende Meinung den Schluss, dass alle
sonstigen sitzungspolizeilichen Maßnahmen der Beschwerde entzogen sind
(vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. Oktober 2009 - 1 BvR 2436/09, AfP 2009,
581, 582; vom 17. April 2015 - 1 BvR 3276/08, NJW 2015, 2175, 2176 mwN).
Sie befindet sich damit im Einklang mit dem Willen des historischen
Gesetzgebers (vgl. Hahn, Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 1,
S. 883, 976).
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Dieser Umkehrschluss aus § 181 GVG ist indes nicht zwingend. Denn
die Regelung ist ihrem Wortlaut nach auf die Festsetzung von Ordnungsmitteln
beschränkt. Dies lässt ein Verständnis nicht ausgeschlossen erscheinen, wo-
nach für die Anfechtung der sonstigen sitzungspolizeilichen Maßnahmen die
Rechtsmittelvorschriften der Prozessordnungen der ordentlichen Gerichtsbar-
keit gelten, in denen die Maßnahme angeordnet wurde. Entsprechend haben
verschiedene Gerichte - jedenfalls in besonderen Fallkonstellationen - gestützt
auf die allgemeine Vorschrift des § 304 Abs. 1 StPO ein Beschwerderecht des
Betroffenen anerkannt (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 25. August 1976 - 2 Ws
143/76, NJW 1977, 309; OLG München, Beschluss vom 14. Juli 2006 - 2 Ws
679/06, NJW 2006, 3079; OLG Celle, Beschluss vom 8. Juni 2015 - 2 Ws
92/15, juris Rn. 11 f.; vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 24. November
2011 - III-3 Ws 370/11, NStZ-RR 2012, 118, 119; LG Ravensburg, Beschluss
vom 22. Januar 2007 - 2 Qs 10/07, NStZ-RR 2007, 348, 349).
Ein solches Verständnis liegt erkennbar auch der Auffassung in Recht-
sprechung und Literatur zugrunde, wonach sitzungspolizeiliche Maßnahmen mit
potentiellem Einfluss auf die Urteilsfindung als sachleitende Anordnungen des
Vorsitzenden im Sinne des § 238 Abs. 2 StPO anzusehen sind, gegen die der
Betroffene nach dieser Vorschrift das Gericht anrufen kann und dies auch
muss, wenn er sich eine entsprechende Revisionsrüge erhalten will (vgl. BGH,
Beschluss vom 29. Mai 2008 - 4 StR 46/08, NStZ 2008, 582; LR/Becker, StPO,
26. Aufl., § 238 Rn. 21; SK-StPO/Velten, 4. Aufl., § 176 GVG Rn. 17;
KK-Schneider, StPO, 7. Aufl., § 238 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO,
58. Aufl., § 176 GVG Rn. 16; vgl. auch BGH, Beschluss vom 14. Dezember
2006 - 5 StR 472/06, NStZ 2007, 281, 282; aA Kissel/Mayer, GVG, 8. Aufl.,
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§ 176 Rn. 2, 48 f. mwN; KK-Diemer, StPO, 7. Aufl., § 176 GVG Rn. 7; Jahn,
NStZ 1998, 389, 392); denn wäre aus § 181 GVG die Unanfechtbarkeit
sitzungspolizeilicher Anordnungen abzuleiten, so könnte im Hinblick auf die
Vorschrift des § 336 Satz 2 StPO die Revision auch nicht darauf gestützt wer-
den, die sitzungspolizeiliche Maßnahme sei rechtsfehlerhaft gewesen (vgl. zur
Frage des Ausschlusses der Revision bei Unanfechtbarkeit einer vorange-
gangenen Entscheidung: BGH, Beschluss vom 5. Januar 1977 - 3 StR 433/76,
BGHSt 27, 96, 98).
2.
All dies bedarf hier indes keiner Entscheidung. Sollten
sitzungspolizeiliche Anordnungen überhaupt der Anfechtung unterliegen, so
kommt - da eine "außerordentliche Beschwerde" im Strafverfahren nicht
anzuerkennen ist (BGH, Beschluss vom 19. März 1999 - 2 ARs 103/99, BGHSt
45, 37) - als Rechtsmittel allein die Beschwerde nach § 304 Abs. 1 StPO in
Betracht, der auch am Verfahren nicht beteiligten Dritten ein Rechtsmittel
gegen sie beschwerende Maßnahmen des Gerichts eröffnet (vgl. § 304 Abs. 2
StPO). Mit diesem Rechtsbehelf können alle richterlichen Anordnungen im
Strafverfahren ohne Rücksicht auf ihre Bezeichnung angefochten werden,
soweit sie nicht ausdrücklich von der Anfechtbarkeit ausgenommen sind
(LR/Matt, StPO, 26. Aufl., § 304 Rn. 4). Einen solchen ausdrücklichen
Ausschluss der Anfechtbarkeit sieht§ 304 Abs. 4 Satz 1, 2 StPO für die hier in
Rede stehende Sachverhaltskonstellation vor. Danach ist gegen Beschlüsse
und Verfügungen der Oberlandesgerichte in Sachen, in denen sie im ersten
Rechtszug zuständig sind, die Beschwerde nur in den in § 304 Abs. 4 Satz 2
Halbsatz 2 StPO ausdrücklich aufgeführten Fällen zulässig. Sitzungspolizeiliche
Anordnungen finden dort keine Erwähnung.
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Eine allenfalls im engsten Rahmen in Betracht kommende analoge
Anwendung der nach ständiger Rechtsprechung restriktiv auszulegenden
Ausnahmevorschriften (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 304
Rn. 12 mwN) scheidet im vorliegenden Fall auch unter Berücksichtigung der
verfassungsrechtlichen Maßgaben, auf die sich die Beschwerdeführerinnen
berufen, aus. Zwar hat der Bundesgerichtshof in wenigen besonderen Fällen
Beschwerden zum Bundesgerichtshof gegen erstinstanzliche Beschlüsse der
Oberlandesgerichte in entsprechender Anwendung des § 304 Abs. 4 Satz 2
Halbsatz 2 StPO bei Maßnahmen für zulässig erachtet, die aus bestimmten
Gründen besonders nachteilig in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreifen
oder sonst von besonderem Gewicht sind. Er hat § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz
2 StPO bisher aber nur in solchen Fällen analog angewendet, in denen die
angegriffenen Entscheidungen - insbesondere im Hinblick auf die durch sie
beeinträchtigten Rechtspositionen - mit den im Katalog dieser Vorschrift
genannten vergleichbar gewesen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juli 1981
- StB 31/81, BGHSt 30, 168, 170 f.; Beschluss vom 3. Mai 1989 - StB 15 und
16/89, BGHSt 36, 192, 195 f.; auch BGH, Beschluss vom 4. August 1995
- StB 46/95, StV 1995, 628). Für eine entsprechende Anwendung der Vorschrift,
mit der diese nicht nur auf Sachverhalte ausgedehnt würde, die mit den
genannten Ausnahmefällen vergleichbar sind, sondern die den Ausnahme-
katalog auf völlig anders gelagerte Konstellationen erweitern würde, sieht der
Senat
keine
gesetzliche
Grundlage.
Eine
solche
Erweiterung
des
Ausnahmekatalogs ist vielmehr dem Gesetzgeber vorbehalten.
Auch dass vorliegend das Grundrecht der Pressefreiheit betroffen ist
(vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. April 2015 - 1 BvR 3276/08, NJW 2015, 2175,
2176 a. E.), rechtfertigt es nicht, entgegen dem eindeutigen Willen des Gesetz-
gebers ein Beschwerderecht einzuräumen. Der Gesetzgeber hat in § 304
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Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandes-
gerichte - mit Ausnahme der im Katalog aufgeführten Eingriffe - einer Be-
schwerdemöglichkeit entzogen und es damit in Kauf genommen, dass in ande-
ren Fällen mit Grundrechtsbezug ein Rechtsmittel nicht gegeben ist. Dies ent-
spricht auch der gesetzgeberischen Wertung, die § 181 Abs. 1 letzter Halbsatz
GVG zugrunde liegt. Denn auch die an sich statthafte Beschwerde gegen
sitzungspolizeiliche Anordnungen, mit denen Ordnungsgeld oder Ordnungshaft
verhängt wurde, findet gegen die Festsetzung von Ordnungsmitteln durch ein
Oberlandesgericht nicht statt. Damit hat der Gesetzgeber ausdrücklich eine
sitzungspolizeiliche Anordnung, die in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2
GG eingreift, von der Rechtsmittelmöglichkeit ausgenommen, wenn diese von
einem Oberlandesgericht erlassen wurde. Dies spricht gegen die Annahme, der
Gesetzgeber habe bei Verfügungen und Beschlüssen eines Oberlandesge-
richts, die in ein Grundrecht eingreifen, generell eine Rechtsmittelmöglichkeit
vorsehen wollen.
Becker Schäfer Spaniol