Urteil des BGH vom 23.07.2012

Leitsatzentscheidung zu Gefahr im Verzug, Verfügung, Aktiengesellschaft, Anfechtungsklage, Unterlassen

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
NotSt(Brfg) 5/11
vom
23. Juli 2012
in dem Disziplinarverfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BDG § 60 Abs. 3
Das Gericht kann aufgrund eigenen Ermessens nach § 60 Abs. 3 BDG eine ange-
fochtene Disziplinarverfügung zu Gunsten des Klägers abändern und innerhalb der
durch die Verfügung vorgegebenen Disziplinarmaßnahmenobergrenze an Stelle der
verhängten eine mildere Disziplinarmaßnahme aussprechen.
BGH, Beschluss vom 23. Juli 2012 - NotSt(Brfg) 5/11 - OLG Frankfurt/Main
wegen Disziplinarvergehen
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Der Bundesgerichtshof, Senat für Notarsachen, hat durch den Vorsitzenden
Richter Galke, die Richterinnen Diederichsen und von Pentz, die Notarin
Dr. Doyé und den Notar Müller-Eising
am 23. Juli 2012
beschlossen:
Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das
Urteil des 1. Senats für Notarsachen des Oberlandesgerichts
Frankfurt am Main vom 6. September 2011 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.000
€ festgesetzt.
Gründe:
1. Ein Zulassungsgrund (§ 96 Abs. 1 Satz 1, § 105 BNotO, § 64 Abs. 2
BDG i.V.m. §§ 124, 124a VwGO) ist nicht gegeben. Insbesondere bestehen
nicht ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils gemäß
§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO noch ist ein Verfahrensfehler (§ 124 Abs. 2 Nr. 5
VwGO) gegeben, weil der Ermessensentscheidung des Oberlandesgerichts
gemäß § 60 Abs. 3 BDG eine unvollständige Aufklärung des Sachverhalts zu-
grunde liegen würde. Insoweit hat das Oberlandesgericht nicht gehörswidrig
Vorbringen des Beklagten übergangen.
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Sowohl in der Disziplinarverfügung vom 15. September 2010 als auch im
Widerspruchsbescheid vom 30. Dezember 2010 ist der Sachverhalt - als Er-
gebnis der abgeschlossenen Ermittlungen - festgestellt, wie ihn das Oberlan-
desgericht seiner Ermessensentscheidung zugrunde gelegt hat. Konkrete Tat-
sachen, die belegen würden, dass die Aktiengesellschaft oder der von ihr be-
auftragte Rechtsanwalt kurzfristig einen anderen, in Mainz ansässigen Notar für
die Protokollierung der Hauptversammlung hätte finden können und dass die
Aktiengesellschaft im Falle einer Verschiebung der Hauptversammlung nicht in
ernste finanzielle Schwierigkeiten geraten wäre, werden im Zulassungsantrag
nicht aufgezeigt. Das Oberlandesgericht hat eine Gefahr im Verzug bei Unter-
lassen der Beurkundung verneint und den Vorwurf eines Dienstvergehens und
den Verweis gegenüber dem Kläger aufrechterhalten. Auf die Verhängung einer
Geldbuße durfte es gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 BNotO i.V.m. § 60 Abs. 3 BDG
verzichten.
Nach § 60 Abs. 3 BDG hat das Gericht bei einer Klage gegen eine Dis-
ziplinarverfügung neben der Rechtmäßigkeit auch die Zweckmäßigkeit der an-
gefochtenen Disziplinarentscheidung zu überprüfen. Es ist nicht auf die Prüfung
beschränkt, ob die dem Kläger zum Vorwurf gemachte Verhaltensweise (Le-
benssachverhalt) tatsächlich gegeben und disziplinarrechtlich als Dienstverge-
hen zu würdigen ist, sondern hat - bejahendenfalls - unter Beachtung des Ver-
schlechterungsverbotes (vgl. § 3 BDG i.V.m. § 88 VwGO) im Interesse der Ver-
fahrensbeschleunigung (§ 4 BDG) auch darüber zu entscheiden, welches die
angemessene Disziplinarmaßnahme ist. Anders als sonst bei einer Anfech-
tungsklage ist das Gericht danach nicht gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO da-
rauf beschränkt, eine rechtswidrige Verfügung aufzuheben; es trifft in Anwen-
dung der in § 13 Abs. 1 BDG niedergelegten Grundsätze innerhalb der durch
die Verfügung vorgegebenen Disziplinarmaßnahmenobergrenze vielmehr eine
eigene "Ermessensentscheidung" (vgl. BT-Drucks. 14/4659 S. 49 zu § 60
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BDG). Es kann die angefochtene Disziplinarverfügung zu Gunsten des Klägers
abändern und an Stelle der verhängten eine mildere Disziplinarmaßnahme aus-
sprechen (vgl. dazu Gansen, BDG, Stand 2005, § 60 Rn. 18; Köhler/Ratz, BDG,
3. Aufl., 2003, § 60 Rn. 21; Urban/Wittkowski, BDG (2011), § 60 Rn. 21;
BVerfG, NVwZ-RR 2006, 485, Rn. 23). Von dieser Möglichkeit hat das Ober-
landesgericht in nicht zu beanstandender Weise Gebrauch gemacht.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 96 Abs. 1 Satz 1 BNotO, §§ 3,
77 Abs. 1 BDG, § 154 Abs. 2 VwGO. Die Wertfestsetzung erfolgt gemäß § 111g
Abs. 1 BNotO i.V.m. § 52 Abs. 2 und 3 GKG.
Galke
Diederichsen
von Pentz
Doyé
Müller-Eising
Vorinstanz:
OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 06.09.2011 - 1 Not 2/11 -
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