Urteil des BGH vom 26.01.2016

Leitsatzentscheidung zu Gvo, Hersteller, Handel, Händler

ECLI:DE:BGH:2016:260116BKVR11.15.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
KVR 11/15
Verkündet am:
26. Januar 2016
Bürk
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Kartellverwaltungsverfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
Verordnung (EG) Nr. 2790/1999 Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 2 Buchst. b
Bei der Bestimmung des Marktanteils eines Herstellers als Lieferant auf einem
Handelsmarkt nach Artikel 3 Absatz 1 der Vertikal-Gruppenfreistellungsverord-
nung 1999 kommt es in Konstellationen, in denen die betreffenden Produkte
von einem Teil der Hersteller auch direkt an Endabnehmer veräußert werden,
regelmäßig nur auf die Umsätze an, die die Hersteller beim Absatz ihrer Pro-
dukte an den Handel erzielen.
BGH, Beschluss vom 26. Januar 2016 - KVR 11/15 - OLG Düsseldorf
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Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom
26. Januar 2016 durch die Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck und Dr. Raum,
die Richter Prof. Dr. Strohn, Dr. Bacher und Dr. Deichfuß
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 1. Kartellsenats des
Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 13. November 2013 wird zurück-
gewiesen.
Die Betroffene zu 1 trägt die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens
und des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens einschließlich der not-
wendigen Auslagen des Bundeskartellamts und der Beigeladenen.
Der Wert des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens wird auf
7.000.000 Euro, der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf
2.300.000 Euro festgesetzt.
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Gründe:
I.
Die Betroffene zu 1 und Rechtsbeschwerdeführerin, die Merck KGaA (im
Folgenden: Merck), hat ihren Sitz in Darmstadt. Sie beschäftigt sich unter anderem
mit der Herstellung von Laborchemikalien. Die meisten Hersteller von Laborchemika-
lien setzen ihre Produkte sowohl über den Handel als auch im Direktvertrieb an End-
abnehmer ab, etwa an Labors oder Kliniken.
Merck vertrieb ihre Produkte zunächst selbst. 1999 übertrug sie einen großen
Teil des Vertriebs auf ein Tochterunternehmen, die VWR International GmbH (Be-
troffene zu 2, im Folgenden: VWR). Im Zuge der Veräußerung der VWR an ein au-
ßenstehendes Unternehmen räumte Merck der VWR für mehrere europäische Staa-
ten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, durch eine am 15. Februar 2004 ge-
schlossene, als "Amended and Restated Distribution Agreement" bezeichnete Ver-
einbarung ein exklusives Vertriebsrecht ein, dessen Bestand vertraglich von der Ein-
haltung eines Wettbewerbsverbots durch VWR abhängig gemacht wurde. In der Fol-
ge wurden Laborchemikalien von Merck in den betreffenden Staaten nur noch durch
VWR vertrieben. Merck belieferte weder andere Händler noch Endabnehmer. Zu-
gleich war VWR vertraglich verpflichtet, keine Laborchemikalien anderer Hersteller zu
vertreiben, soweit Merck ein unmittelbar konkurrierendes Produkt führt.
Auf Beschwerde der Th. Geyer GmbH & Co. KG (Beigeladenen) leitete das
Bundeskartellamt ein Verwaltungsverfahren ein. Dieses endete mit einem Beschluss
vom 14. Juli 2009 (WuW/E DE-V 1790). Das Bundeskartellamt stellte fest, dass die
Vereinbarungen zwischen Merck und VWR über das Alleinvertriebsrecht und das
Wettbewerbsverbot gegen das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen
verstießen, und gab Merck auf, die Durchführung dieser Vereinbarungen abzustellen.
Ferner stellte das Bundeskartellamt fest, dass Merck gegen das Diskriminierungs-
verbot nach § 20 Abs. 2 GWB verstoßen habe und verstoße. Gegen diese Verfügung
haben Merck und VWR Beschwerde eingelegt.
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Das Beschwerdegericht (OLG Düsseldorf, WuW/E DE-R 4730 - Laborchemi-
kalien) hat seiner Entscheidung zugrunde gelegt, dass es im Verhältnis der Hersteller
und der Händler nicht einen einheitlichen Markt für Laborchemikalien gebe, sondern
sieben Märkte, die jeweils unterschiedliche Produktgruppen von Laborchemikalien
beträfen. Es hat die angefochtene Verfügung teilweise aufgehoben, die Beschwerde
jedoch insoweit zurückgewiesen, als sie das Wettbewerbsverbot und die Verein-
barung über das Alleinvertriebsrecht im Verhältnis zum Laborchemikalienhandel für
die Produktgruppen "anorganische Reagenzien", "Lösungsmittel" (mit Ablauf des
Jahres 2008) und "Mikrobiologie" (mit Ablauf des Jahres 2009) betrifft. Das Be-
schwerdegericht hat die Rechtsbeschwerde gegen seine Entscheidung nicht zu-
gelassen.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde von Merck hat der Senat unter Zurück-
weisung des weitergehenden Rechtsmittels die Rechtsbeschwerde gegen den Be-
schluss des Beschwerdegerichts zugelassen, soweit die Beschwerde gegen den an-
gefochtenen Beschluss des Bundeskartellamts hinsichtlich des Alleinvertriebsrechts
für den Produktbereich "Mikrobiologie" zurückgewiesen worden ist.
Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt Merck weiterhin den Antrag, den Be-
schluss des Beschwerdegerichts und den Beschluss des Bundeskartellamts aufzu-
heben, soweit diese das Alleinvertriebsrecht für den Produktbereich "Mikrobiologie"
betreffen. Das Bundeskartellamt tritt dem Rechtsmittel entgegen.
II. Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt
begründet:
Durch die Vereinbarung eines Alleinvertriebsrechts für VWR und das Wettbe-
werbsverbot, das VWR in diesem Zusammenhang auferlegt wurde, hätten die Betrof-
fenen gegen Art. 81 Abs. 1 EG und § 1 GWB verstoßen. Das VWR eingeräumte Al-
leinvertriebsrecht bezwecke und bewirke eine Einschränkung des Wettbewerbs beim
Absatz von Laborchemikalien von Merck innerhalb des Gemeinsamen Marktes. Die
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Laborchemikalienhändler seien seither gezwungen, ihren Bedarf von Laborchemika-
lien von Merck bei VWR zu decken. Damit könne VWR Preiswettbewerb unterbinden.
Zudem könnten Endabnehmer solche Laborchemikalien nur bei VWR beziehen. Die
Vereinbarung eines Alleinvertriebsrechts könne nicht als notwendige Nebenabrede
zum Verkauf der VWR angesehen werden.
Weil die Vertriebsbeschränkung das gesamte Gebiet der Bundesrepublik
Deutschland erfasse, sei sie auch geeignet, sich spürbar auf den zwischenstaatli-
chen Handel auszuwirken. Anhaltspunkte dafür, dass ausnahmsweise etwas anderes
gelte, habe die Beschwerde nicht aufgezeigt.
Der Vertriebsvertrag sei von dem Verbot wettbewerbsbeschränkender Verein-
barungen nur zum Teil nach der Verordnung (EG) Nr. 2790/1999 der Kommission
vom 22. Dezember 1999 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrages
auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhal-
tensweisen (Vertikal-GVO 1999) sowie nach der Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der
Kommission vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des
Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen
Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen (Vertikal-GVO 2010) freige-
stellt. Nicht freigestellt sei die Vereinbarung, soweit sie sich auf den Absatz von
Laborchemikalien der Produktgruppen "anorganische Reagenzien", "Lösungsmittel"
und "Mikrobiologie" an den Handel erstrecke.
Nach dem Ergebnis der vom Beschwerdegericht veranlassten Nachermittlun-
gen des Bundeskartellamts seien die Voraussetzungen für eine gruppenweise Frei-
stellung bezüglich dieser drei Märkte nicht erfüllt, weil der Anteil von Merck jeweils
über 30% liege. Maßgeblich seien insoweit die Marktanteile im Kalenderjahr vor dem
Abschluss der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung, hier also im Jahr 2003.
Für die Ermittlung der Marktanteile sei auf den Handelsmarkt und damit auf die Um-
sätze abzustellen, die die Hersteller von Laborchemikalien mit dem Absatz ihrer Pro-
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dukte an den Handel erzielten. Dagegen hätten Umsätze, die die Hersteller durch
Verkäufe an Endabnehmer erzielten, außer Betracht zu bleiben. Anderes ergebe sich
nicht aus Art. 9 Abs. 2 Buchst. b Vertikal-GVO 1999. Anhaltspunkte dafür, dass ein
Marktzutritt weiterer Laborchemikalienhersteller auf dem Handelsmarkt hinreichend
wahrscheinlich gewesen sei, habe die Beschwerde nicht aufgezeigt, so dass sich
auch unter dem Gesichtspunkt des Einflusses potenziellen Wettbewerbs nichts ande-
res ergebe. Es sei ferner nicht ersichtlich, dass die Marktstellung von Merck nur dann
zutreffend erfasst werde, wenn auch die Absätze anderer Hersteller an Endkunden in
die Betrachtung einbezogen würden.
Die Nachermittlungen des Bundeskartellamts hätten eine verwertbare, tragfä-
hige und belastbare Grundlage für die Ermittlung der Marktanteile ergeben. Nachdem
der Marktanteil von Merck für den Bereich "Mikrobiologie" erstmals im Jahr 2007
30% überschritten habe, habe die Freistellung gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. c Verti-
kal-GVO 1999 mit Ablauf des Jahres 2009 geendet. Die Voraussetzungen für eine
Einzelfreistellung nach Art. 81 Abs. 3 Halbsatz 2 EG lägen nicht vor.
III. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung stand.
1. Rechtsfehlerfrei hat das Beschwerdegericht angenommen, dass die von
Merck und VWR getroffene Vereinbarung dem Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG (jetzt
Art. 101 Abs. 1 AEUV) unterfällt. Danach sind Vereinbarungen zwischen Unterneh-
men, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und
eine spürbare Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs
innerhalb des Gemeinsamen Markts bezwecken oder bewirken, mit diesem unver-
einbar und verboten.
a) Die Abgrenzung des maßgebenden Markts ist grundsätzlich Sache des
Tatrichters, da sie wesentlich von den tatsächlichen Gegebenheiten des Markts ab-
hängt. Sie kann vom Rechtsbeschwerdegericht nur begrenzt überprüft werden (BGH,
Beschluss vom 20. April 2010 - KVR 1/09, WuW/E DE-R 2905 Rn. 37 - Phonak/GN
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Store Nord). Diese Überprüfung lässt keine Rechtsfehler erkennen. Das Bundeskar-
tellamt hat in der angefochtenen Verfügung dargelegt, dass Laborchemikalien aus
Sicht der anwendenden Nachfrager nach ihren unterschiedlichen Einsatzbereichen in
bestimmte Produktgruppen zusammengefasst werden können. Dass das Beschwer-
degericht dem beigetreten ist, lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Der Einwand der
Rechtsbeschwerde, gerade der Umstand, dass nach den Ermittlungen des Bundes-
kartellamts Laborchemikalien von verschiedenen Gruppen von Nachfragern für un-
terschiedliche Anwendungen benötigt werden, spreche dafür, einen einheitlichen
Markt für Laborchemikalien zugrunde zu legen, greift nach dem Bedarfsmarktkon-
zept, das nach der Rechtsprechung des Senats den Ausgangspunkt der Marktab-
grenzung bildet (BGH, Beschluss, vom 6. Dezember 2011 - KVR 95/10, BGHZ 192,
18 Rn. 27 - Total/OMV), nicht durch.
b) Ob die Alleinvertriebsvereinbarung eine Wettbewerbsbeschränkung be-
zweckt, kann offenbleiben, weil die verfahrensfehlerfrei getroffenen Feststellungen
des Beschwerdegerichts jedenfalls seine Beurteilung tragen, dass sie wettbewerbs-
beschränkende Wirkungen entfaltet. Ob sich die Situation gegenüber dem Zeitraum
vor der Veräußerung von VWR an ein außenstehendes Unternehmen verändert hat,
ist nicht ausschlaggebend. Das Beschwerdegericht hat festgestellt, dass andere
Händler infolge der Alleinvertriebsvereinbarung darauf angewiesen sind, ihren Bedarf
an Laborchemikalien von Merck bei VWR zu decken. Damit ist der Preiswettbewerb
beim Absatz solcher Chemikalien auf der Handelsstufe beeinträchtigt. Labore und
andere Endabnehmer sind aufgrund der Vereinbarung gezwungen, die von ihnen
benötigten Laborchemikalien von Merck über den Handel zu beziehen, und können
ihren Bedarf nicht durch den Erwerb bei Merck direkt decken. Merck ist durch die
Vereinbarung gehindert, mit dem Laborchemikalienhandel in Wettbewerb um Endab-
nehmer einzutreten. Es kommt hinzu, dass VWR durch die Bestellungen anderer
Händler Informationen darüber erlangen kann, in welchem Umfang ihre Wettbe-
werber Laborchemikalien von Merck absetzen.
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c) Zu Recht hat das Beschwerdegericht ferner zugrunde gelegt, dass die Al-
leinvertriebsvereinbarung nicht deshalb vom Anwendungsbereich des Art. 81 Abs. 1
EG (Art. 101 AUEV) ausgenommen ist, weil sie zur Umsetzung des Vertrags über die
Veräußerung der VWR objektiv erforderlich gewesen wäre. Nach der Rechtspre-
chung des Unionsgerichtshofs kann eine wettbewerbsbeschränkende Nebenabrede
in einem an sich kartellrechtsneutralen Austauschvertrag vom Anwendungsbereich
des Art. 81 Abs. 1 EG ausgenommen sein, wenn sie zur Umsetzung des Vertrags
objektiv erforderlich und nach Geltungsdauer und Anwendungsbereich auf diesen
Zweck beschränkt ist (vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juli 1985 - 42/84, Slg. 1985, 2566
Tz. 17 ff. - Remia/Nutricia; Urteil vom 11. September 2014 - C-382/12 P, NZKart
2015, 44 Tz. 89 - MasterCard Inc./Kommission; s. auch EuG, Urteil vom 18. Septem-
ber 2001 - T-112/99, Slg. 2001, II-2459 Tz. 104 ff.). Das Vorliegen dieser Vorausset-
zungen hat das Beschwerdegericht zutreffend verneint und darauf hingewiesen, dass
die Alleinvertriebsvereinbarung schon deshalb nicht als objektiv erforderlich für die
Durchführung des Unternehmensverkaufs angesehen werden kann, weil Merck da-
ran nach dem Vertrag für den Fall, dass VWR bestimmte Verkaufsziele nicht erreicht,
nicht gebunden sein sollte.
d) Die Alleinvertriebsvereinbarung ist geeignet, den Handel zwischen den
Mitgliedstaaten spürbar in einer Weise zu beeinflussen, die der Verwirklichung der
Ziele des Gemeinsamen Marktes abträglich sein kann. Die Vereinbarung erstreckt
sich auf das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, aber auch auf andere
Mitgliedstaaten. Eine Vertriebsbeschränkung, die das gesamte Gebiet eines Mitglied-
staats umfasst, ist regelmäßig geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten
spürbar zu beeinträchtigen (EuGH, Urteil vom 24. September 2009 - C-125/07 P u.a.,
Slg. 2009, I-8681 Tz. 67 f. - Erste Group Bank/Kommission; Urteil vom 16. Juli 2015
- C-172/14, NZKart 2015, 526 Tz. 48 - Rumänische Pensionsfonds; BGH, Beschluss
vom 14. August 2008 - KVR 54/07, WuW/E DE-R 2408 Rn. 36 - Lottoblock). Hinzu
kommt, dass nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts mit Merck der füh-
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rende deutsche Hersteller für Laborchemikalien beteiligt ist. Schließlich ist VWR das
führende deutsche Unternehmen für den Handel mit Laborchemikalien. Unter diesen
Umständen kann nicht angenommen werden, dass die Auswirkungen der wettbe-
werbsbeschränkenden Vereinbarungen auf den Handel zwischen den Mitgliedstaa-
ten vernachlässigbar gering sind.
e) Rechtsfehlerfrei ist auch die Beurteilung des Beschwerdegerichts, dass
die Alleinvertriebsvereinbarung die Voraussetzungen für eine Einzelfreistellung nach
Art. 81 Abs. 3 (Art. 101 Abs. 3 AEUV) nicht erfüllt. Danach kommt die Freistellung
einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung in Betracht, wenn sie unter ange-
messener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesse-
rung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder
wirtschaftlichen Fortschritts beiträgt, ohne dass den beteiligten Unternehmen Be-
schränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht uner-
lässlich sind, oder Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der be-
treffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten. Die Beweislast für das Vorliegen
dieser Voraussetzungen liegt nach Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Ra-
tes vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Ver-
trags niedergelegten Wettbewerbsregeln bei der Rechtsbeschwerdeführerin. Das
Beschwerdegericht hat festgestellt, dass Merck weder zum Ausmaß der nach ihrer
Darstellung mit der Exklusivabrede einhergehenden Effizienzvorteile noch zur ange-
messenen Beteiligung der Verbraucher an diesen ausreichend vorgetragen hat.
Hiergegen erhebt die Rechtsbeschwerde keine erheblichen Einwendungen.
2. Ohne Erfolg macht die Rechtsbeschwerde geltend, die von Merck und
VWR getroffene Alleinvertriebsvereinbarung sei nach den Bestimmungen der Verti-
kal-GVO 1999 oder der Vertikal-GVO 2010 freigestellt. Die Entscheidung des Be-
schwerdegerichts, das die Beschwerde gegen die Feststellung von Verstößen gegen
Art. 81 Abs. 1 EG und § 1 GWB sowie gegen § 20 Abs. 2 GWB hinsichtlich Labor-
chemikalien der Produktgruppe "Mikrobiologie" für den Zeitraum seit Ablauf des Jah-
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res 2009 zurückgewiesen hat, hat Bestand, weil eine Freistellung sowohl nach der
Vertikal-GVO 1999 wie nach der Vertikal-GVO 2010 ausscheidet.
a) Auf die im Februar 2004 getroffene Alleinvertriebsvereinbarung fand zu-
nächst die Vertikal-GVO 1999 Anwendung, die am 1. Januar 2000 in Kraft getreten
ist (Art. 13 Abs. 1 Vertikal-GVO 1999). Nach Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO 1999 wird
Art. 81 Abs. 1 EG unter den in dieser Verordnung genannten Voraussetzungen für
Vereinbarungen zwischen Unternehmen, von denen jedes zwecks Durchführung der
Vereinbarung auf einer unterschiedlichen Vertriebsstufe tätig ist, und welche die Be-
dingungen betreffen, zu denen die Parteien bestimmte Waren beziehen, verkaufen
oder weiterverkaufen können (vertikale Vereinbarungen), für unanwendbar erklärt.
Um eine solche vertikale Vereinbarung handelt es sich, wie das Beschwerdegericht
rechtsfehlerfrei angenommen hat, bei der von Merck als Hersteller von Laborchemi-
kalien und VWR als Händler solcher Chemikalien getroffenen Alleinvertriebsverein-
barung. Die Vereinbarung enthält, wie oben ausgeführt, eine Wettbewerbsbeschrän-
kung im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EG. Die Alleinvertriebsvereinbarung umfasst weder
eine Kernbeschränkung nach Art. 4 Vertikal-GVO 1999 noch eine Verpflichtung, die
unter Art. 5 Vertikal-GVO 1999 fällt. Für die Zeit ab 1. Juni 2010 beurteilt sich die
Freistellung - unter Berücksichtigung der Übergangsregelung in Artikel 9 - nach der
Vertikal-GVO 2010, deren Regelungen insoweit keine relevanten Abweichungen
aufweisen.
b) Für die Frage, ob die Alleinvertriebsvereinbarung freigestellt ist, kommt es
entscheidend darauf an, ob Merck die nach der Vertikal-Gruppenfreistellungs-
verordnung maßgebliche Marktanteilsschwelle überschritten hat.
aa) Die gruppenweise Freistellung greift nach Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO 1999
und der inhaltlich übereinstimmenden Regelung in Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO 2010
nur, wenn der Anteil des Lieferanten an dem relevanten Markt, auf dem er die Ver-
tragswaren oder -dienstleistungen verkauft, 30% nicht überschreitet. Bei der Ermitt-
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lung des Marktanteils im Sinne von Art. 3 Abs. 1 wird gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 1
Vertikal-GVO 1999 der Absatzwert der verkauften Vertragswaren zugrunde gelegt,
die vom Käufer aufgrund ihrer Eigenschaften, ihrer Preislage und ihres Verwen-
dungszwecks als austauschbar oder substituierbar angesehen werden. Hierbei ist
zunächst auf die Verhältnisse in dem Kalenderjahr abzustellen, das der in Rede ste-
henden Vereinbarung vorausgeht (Art. 9 Abs. 2 Buchst. b Vertikal-GVO 1999, Art. 7
Buchst. b Vertikal-GVO 2010). Wenn der Marktanteil zunächst unter 30% liegt, diese
Schwelle jedoch anschließend überschreitet, entfällt die Freistellung nach einem ge-
wissen Zeitraum (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c und d Vertikal-GVO 1999, Art. 7 Buchst. d
und e Vertikal-GVO 2010).
bb) Nach der Auffassung des Bundeskartellamts und der Beigeladenen, der
das Beschwerdegericht beigetreten ist, ist beim Vertrieb von Waren über unter-
schiedliche Vertriebsstufen im Hinblick auf die Ermittlung des Marktanteils nach Art. 3
Abs. 1 Vertikal-GVO 1999 von verschiedenen Märkten auszugehen. Zu unterschei-
den ist danach zwischen einem Markt, auf dem sich die Hersteller als Lieferanten
und die Händler als Nachfrager gegenüberstehen (Handelsmarkt), und einem Markt,
auf dem sich die Endabnehmer als Nachfrager und die Händler sowie solche Her-
steller, die die betreffenden Waren auch direkt vertreiben, als Lieferanten gegenüber-
stehen (Endkundenmarkt). Soweit es um die Voraussetzungen einer gruppenweisen
Freistellung einer Vereinbarung zwischen einem Hersteller und einem Händler geht,
kommt es danach regelmäßig allein auf die Verhältnisse auf dem Handelsmarkt an.
Der Anteil von Merck auf dem Handelsmarkt für Laborchemikalien aus dem
Bereich "Mikrobiologie" lag nach dem Ergebnis der vom Beschwerdegericht veran-
lassten Nachermittlungen des Bundeskartellamts seit 2007 jeweils bei über 30%.
Hieraus hat das Beschwerdegericht den Schluss gezogen, dass die Freistellung der
Alleinvertriebsvereinbarung gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. c Vertikal-GVO 1999 mit
Ablauf des Jahres 2009 geendet habe.
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cc) Die Rechtsbeschwerde wendet unter Bezugnahme auf das von ihr vorge-
legte Rechtsgutachten von Prof. Dr. A. F. ein, diese Bestimmung des
Marktanteils sei unzutreffend. Gehe es - wie hier - um Waren, die von den Herstellern
nicht nur an Händler, die sie an Endabnehmer weiterveräußern, sondern teilweise
auch direkt an Endabnehmer vertrieben werden, sei für die Bestimmung des Markt-
anteils nicht allein auf die Umsätze abzustellen, die die Hersteller aus Verkäufen an
den Handel erzielten. Die isolierte Betrachtung der Handelsstufe führe unter solchen
Umständen zu realitätsfernen Ergebnissen. Eine solche Vorgehensweise bilde die
Marktposition der Hersteller, die nur an Händler lieferten, nicht zutreffend ab, sondern
überzeichne sie. Dies gelte insbesondere, wenn - wie hier - das Volumen der Liefe-
rungen der Hersteller an Endabnehmer das Volumen von Lieferungen an Händler
deutlich übersteige. Die Ermittlung des Marktanteils durch das Beschwerdegericht
trage dem Gesichtspunkt der Angebotsumstellungsflexibilität nicht hinreichend Rech-
nung, lasse also die Möglichkeit außer Betracht, dass andere Hersteller bei ent-
sprechenden Erwerbsaussichten die Belieferung von Händlern aufnehmen oder aus-
weiten könnten. So verhalte es sich auch hier, was Auswirkungen auf die Marktstel-
lung von Merck habe. Auch wenn es für die Marktabgrenzung auf die Perspektive
des Handels als unmittelbaren Abnehmers ankomme, seien doch für die Bestimmung
des Marktanteils die Volumina des Gesamtvertriebs, also sowohl die Umsätze aus
den Verkäufen der Hersteller an Händler als auch die Umsätze aus den Verkäufen
der Hersteller an Endabnehmer zu berücksichtigen, letztere vermindert um die Han-
delsspanne. Die Rechtsbeschwerde meint weiter, Art. 9 Abs. 2 Buchst. b Vertikal-
GVO 1999 (Art. 7 Buchst. c Vertikal-GVO 2010), wonach der Marktanteil Waren oder
Dienstleistungen einschließe, die zum Zweck des Verkaufs an integrierte Händler
geliefert werden, sei erst recht anwendbar, wenn ein Hersteller Verkäufe an die
nachgeordnete Handelsstufe, etwa direkt an den Endverbraucher, vornehme. Art. 9
Abs. 2 Buchst. b Vertikal-GVO 1999 ist nach dieser Auffassung Ausdruck eines all-
gemeinen Grundsatzes, wonach bei unterschiedlichen Vertriebsformen im Interesse
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der zutreffenden Abbildung der Marktverhältnisse die Marktanteile unter Berücksich-
tigung sämtlicher Vertriebsstufen zu ermitteln seien.
Bei Anwendung dieser Grundsätze läge der Anteil von Merck auf dem Markt
für Laborchemikalien aus dem Bereich "Mikrobiologie" in den Jahren 2003 bis 2011
jeweils deutlich unter 30%.
d) Die Einwände der Rechtsbeschwerde greifen jedoch nicht durch.
aa) Nach den Erwägungsgründen der Vertikal-GVO kommt es für die Frage,
ob wettbewerbsschädliche Wirkungen, die von Beschränkungen in vertikalen Verein-
barungen ausgehen können, oder deren effizienzsteigernde Wirkungen überwiegen,
unter anderem auf die Marktmacht der beteiligten Unternehmen an. Die Verordnung
geht von der Annahme aus, dass bestimmte Arten vertikaler Vereinbarungen grund-
sätzlich geeignet sind, die Effizienz einer Produktions- und Vertriebskette zu erhö-
hen. Soweit mit solchen Vereinbarungen Beschränkungen des Intra-brand-Wettbe-
werbs einhergehen, kann dies nach Auffassung des Verordnungsgebers hingenom-
men werden, solange ein hinreichender Inter-brand-Wettbewerb gewährleistet ist,
d.h. die an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen nicht über erhebliche Markt-
macht verfügen (vgl. jeweils Erwägungsgründe 7 bis 9).
bb) Die Marktmacht eines Lieferanten hängt davon ab, in welchem Maße er
dem Wettbewerb anderer Lieferanten von Waren ausgesetzt ist, die von der Markt-
gegenseite aufgrund ihrer Eigenschaften, ihrer Preislage und ihres Verwen-
dungszwecks als austauschbar oder substituierbar angesehen werden (vgl. jeweils
Erwägungsgrund 7). Die Vertikal-GVO knüpft damit, wie auch Art. 9 Abs. 1 Satz 1
Vertikal-GVO 1999 verdeutlicht, an das Bedarfsmarktkonzept an, nach welchem für
die Abgrenzung des sachlich relevanten Markts die Sicht der Marktgegenseite, bei
Absatzmärkten also die Sicht der Nachfrager maßgeblich ist (EuGH, Urteil vom
14. Februar 1978 - 27/76, Slg. 1978, 207 Tz. 12 ff. - United Brands Company; Urteil
vom 9. November 1983 - 322/81, Slg. 1983, 3461 Tz. 37 - Michelin). Beim Vertrieb
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von Waren über unterschiedliche Vertriebsstufen ist im Hinblick auf die Ermittlung
des Marktanteils nach Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO von verschiedenen Märkten auszu-
gehen. Zu unterscheiden ist danach zwischen einem Markt, auf dem sich die Herstel-
ler als Lieferanten und die Händler als Nachfrager gegenüberstehen (Handelsmarkt)
und einem Markt, auf dem sich die Endabnehmer als Nachfrager und die Händler als
Lieferanten gegenüberstehen (Endkundenmarkt). Soweit es Hersteller gibt, die zur
direkten Belieferung von Endabnehmern bereit sind, sind auf dem Endkundenmarkt
auch sie zu den Lieferanten zu rechnen.
cc) Für die zutreffende Bestimmung der Marktmacht eines Herstellers im Ver-
hältnis zum Handel kommt es grundsätzlich nur auf die Verhältnisse auf dem Han-
delsmarkt und damit auf das Volumen der Verkäufe der Hersteller an den Handel an
(s. auch Leitlinien der Kommission für vertikale Beschränkungen, ABl. 2000/C 291/01
Tz. 90 Satz 3; ABl. 2010/C 130/01 Tz. 88 Satz 3). Dies gilt auch, wenn es Hersteller
gibt, die Waren der betreffenden Art direkt an Endabnehmer liefern. Denn der Teil
der Produktion, den andere Hersteller im Direktvertrieb an Endabnehmer absetzen,
steht aus der nach dem Bedarfsmarktkonzept maßgeblichen Sicht der Händler zur
Deckung ihres Bedarfs regelmäßig nicht zur Verfügung. Ein Hersteller ist damit in
Bezug auf Lieferungen an den Handel dem Wettbewerb anderer Hersteller nur inso-
weit ausgesetzt, als diese tatsächlich zu Lieferungen an Händler bereit sind. Eine
Austauschbarkeit der Produkte aus der Sicht der nachgelagerten Marktstufe der
Endabnehmer ist für die Handelsstufe bedeutungslos, wenn sie dort tatsächlich nicht
besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 20. April 2010 - KVR 1/09, WuW/E DE-R 2905
Rn. 41 - Phonak/GN Store Nord). Sofern Endabnehmer die betreffenden Laborche-
mikalien nicht nur vom Handel, sondern auch direkt von anderen Herstellern bezie-
hen können, wirkt sich dies auf dem Handelsmarkt nicht zugunsten der Händler aus,
wenn diese Hersteller nicht bereit oder nicht in der Lage sind, den Handel zu belie-
fern, der Bezug der Waren von ihnen mithin für den Handel keine zumutbare Alterna-
tive darstellt. Der Teil der Produktion, den andere Hersteller im Direktvertrieb an
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Endabnehmer absetzen, stellt, wie das Bundeskartellamt in der Rechtsbeschwerde-
erwiderung treffend formuliert hat, aus der maßgeblichen Sicht des Handels keine
Bezugsalternative dar, sondern Konkurrenz beim Absatz an die Endabnehmer. Da-
nach trifft die von der Rechtsbeschwerde vertretene Auffassung, für die Ermittlung
der Marktanteile auf dem Handelsmarkt sei in einer solchen Konstellation auch die
Marktstufe einzubeziehen, auf der die Endabnehmer nachfragen (ähnlich Ellger in
Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 5. Auflage, Art. 3 Vertikal-GVO Rn. 16;
Bechtold/Bosch/Brinker, EU-Kartellrecht, 3. Auflage, Art. 7 VO 330/2010 Rn. 4), nicht
zu.
dd) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nimmt die Kommission
in Tz. 91 der Vertikalleitlinien 2000 und Tz. 89 der Vertikalleitlinien 2010 keinen an-
deren Standpunkt ein. Die Kommission weist dort lediglich - zutreffend - darauf hin,
dass bei der Abgrenzung des sachlich relevanten Markts im Verhältnis zwischen
Händler und Hersteller die Präferenzen der Endabnehmer, an die der Händler die
vom Hersteller bezogenen Waren weiterveräußern möchte, im Allgemeinen nicht au-
ßer Betracht bleiben können. Dies rechtfertigt jedoch nicht den Schluss, dass die Un-
terscheidung zwischen dem Handelsmarkt und dem Endkundenmarkt bedeutungslos
und stattdessen für die Bestimmung der Marktanteile auf einen Gesamtmarkt abzu-
stellen ist, der die Absätze der Hersteller an den Handel und an Endabnehmer um-
fasst. Etwas anderes lässt sich auch nicht daraus entnehmen, dass es dort weiter
heißt, die Märkte würden, weil in der Regel verschiedene Vertriebsformen miteinan-
der in Wettbewerb stünden, im Allgemeinen nicht anhand der angewandten Ver-
triebsform bestimmt. Kann der Endabnehmer ein bestimmtes Produkt vom Handel
oder direkt vom Hersteller beziehen, ist danach nicht von zwei nach Vertriebsformen
getrennten Märkten auszugehen. Bei einer solchen Sachlage ist es sachlich gerecht-
fertigt, für die Bestimmung des Marktanteils eines bestimmten Herstellers auch die
Umsätze einzubeziehen, die zwischen Handel und Endabnehmern erzielt werden,
weil Handel und Hersteller insoweit im Wettbewerb stehen. Geht es demgegenüber
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um den Marktanteil eines Herstellers auf dem Handelsmarkt, ist eine Einbeziehung
der Umsätze, die die Hersteller aus der Direktbelieferung von Endabnehmern erzie-
len, regelmäßig nicht sachgerecht, weil die Händler zur Deckung ihres Bedarfs nicht
auf diese Produkte ausweichen können.
ee) Ob Umsätze aus Lieferungen der Hersteller an Endabnehmer für die Be-
stimmung des Marktanteils eines Herstellers auf dem Handelsmarkt ausnahmsweise
unter dem Gesichtspunkt potenziellen Wettbewerbs zu berücksichtigen sein können,
kann offen bleiben.
Als potenzieller Wettbewerber ist ein Unternehmen anzusehen, wenn hinrei-
chend wahrscheinlich ist, dass es bei einem geringfügigen, aber dauerhaften Preis-
anstieg kurz- oder mittelfristig bereit und in der Lage ist, in den betroffenen Markt
einzutreten (vgl. Art. 1 Abs. 1 Buchst. c Vertikal-GVO 2010; s. auch Tz. 27 der Leitli-
nien der Kommission für vertikale Beschränkungen, ABl. 2010/C 130/01). Muss ein
Hersteller konkret damit rechnen, dass andere Hersteller, soweit sie bislang an End-
abnehmer liefern, ihren Vertrieb in der Weise umstellen, dass sie die Belieferung des
Handels aufnehmen oder ausweiten, wird dieser Umstand sein wettbewerbliches
Handeln beeinflussen.
Im Streitfall scheidet eine Berücksichtigung der Umsätze aus Lieferungen an-
derer Hersteller von Laborchemikalien an Endabnehmer unter dem Gesichtspunkt
potenziellen Wettbewerbs aus, weil nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststel-
lungen des Beschwerdegerichts, an die der Senat gebunden ist (§ 76 Abs. 4 GWB),
keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass eine Umstellung des Ver-
triebs solcher Hersteller auf eine Belieferung (auch) des Handels hinreichend wahr-
scheinlich ist. Das Beschwerdegericht hat hierzu festgestellt, es seien keine Anhalts-
punkte dafür ersichtlich, dass im Jahr 2003 tatsächlich eine Bereitschaft von Labor-
chemikalienproduzenten bestanden habe, ihren Vertrieb entsprechend umzustellen.
Die Rechtsbeschwerde zeigt weder auf, dass diese Feststellung verfahrensfehlerhaft
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getroffen wurde, noch dass für die tatsächlichen Verhältnisse in den Folgejahren et-
was anderes galt.
Ob ausnahmsweise in Konstellationen, in denen hinreichend wahrscheinlich
ist, dass andere Hersteller bereit sind, ihren Vertrieb auf eine Belieferung des Han-
dels umzustellen, der Marktanteil eines Herstellers auf dem Handelsmarkt nach Art. 3
Abs. 1 Vertikal-GVO unter Einbeziehung auch von Umsätzen aus Lieferungen auf
dem Endkundenmarkt zu ermitteln ist oder ob dem - im Hinblick darauf, dass Art. 3
Abs. 1 Vertikal-GVO aus Gründen der Rechtssicherheit eine feste Marktanteils-
schwelle vorsieht, bei deren Ermittlung nach Art. 9 Abs. 1 Satz 1 Vertikal-GVO 1999
(Art. 7 Buchst. a Vertikal-GVO 2010) allein der Absatzwert tatsächlich auf dem rele-
vanten Markt verkaufter Waren zugrunde zu legen ist (Schultze/Pautke/Wagener,
Vertikal-GVO, 3. Auflage, Art. 3 Rn. 500-502; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches
Wettbewerbsrecht, 3. Auflage, § 15 Rn. 31) - bei Vorliegen der sonstigen Voraus-
setzungen nur durch eine Einzelfreistellung nach Art. 81 Abs. 3 EG (Art. 101 Abs. 3
AEUV) Rechnung getragen werden kann, kann hier mithin offen bleiben.
ff) Anders als die Rechtsbeschwerde unter Berufung auf das von ihr vorge-
legte Gutachten von F. (ähnlich Bechtold/Bosch/Brinker, EU-Kartellrecht, 3. Auf-
lage, Art. 7 VO 330/2010 Rn. 4; Dallmann in Schulte/Just, Kartellrecht, 2. Auflage,
Art. 7 Vertikal-GVO Rn. 5) meint, rechtfertigt die Regelung in Art. 9 Abs. 2 Buchst. b
Vertikal-GVO 1999 (Art. 7 Buchst. c Vertikal-GVO 2010) keine abweichende Beurtei-
lung. Für die Anwendung der Marktanteilsschwelle gilt danach, dass der Marktanteil
Waren oder Dienstleistungen einschließt, die zum Zweck des Verkaufs an integrierte
Händler geliefert werden. Der Auffassung der Rechtsbeschwerde, die Regelung
müsse erst recht für den Fall gelten, dass der Anbieter selbst, mit eigenem Personal,
ohne Einschaltung eines verbundenen Unternehmens Endabnehmer beliefert, kann
nicht beigetreten werden.
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(1) Ein Erst-Recht-Schluss (argumentum a fortiori) als besondere Form einer
Analogie ist zulässig, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält und
der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht mit dem Tatbestand, den der
Gesetzgeber geregelt hat, soweit vergleichbar ist, dass angenommen werden kann,
der Gesetzgeber wäre bei einer Abwägung der Interessen, bei der er sich von den
gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen
Norm, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Be-
schluss vom 29. September 2015 - II ZB 23/14, WM 2016, 157 Rn. 23).
(2) Die Voraussetzungen für einen solchen Schluss liegen hier nicht vor.
Art. 9 Abs. 2 Buchst. b Vertikal-GVO 1999 befasst sich lediglich mit der zutreffenden
Erfassung des Volumens eines bestimmten Marktes, das für die Ermittlung der
Marktanteile relevant ist. Die Norm bestimmt hierzu, dass Umsätze aus Lieferungen
von Waren, die an integrierte Händler, also an rechtlich selbständige, aber konzern-
zugehörige Unternehmen zum Zweck des Weiterverkaufs geliefert werden, bei der
Ermittlung des Marktanteils zu berücksichtigen sind und nicht etwa mit der Begrün-
dung, es handele sich um konzerninterne Umsätze, außer Betracht bleiben dürfen.
Die Bestimmung soll damit gewährleisten, dass es für die Ermittlung des Marktanteils
eines Herstellers unerheblich ist, ob er die betreffenden Waren selbst an die Abneh-
mer der betroffenen nachgeordneten Marktstufe - sei es der Handel oder seien es
Endabnehmer - liefert oder hierfür ein konzernzugehöriges Unternehmen einschaltet.
Sinn und Zweck der Regelung ist es mithin nur klarzustellen, welche Umsätze für die
Ermittlung der Anteile auf dem in Rede stehenden Markt zu berücksichtigen sind, sie
trifft jedoch keine Aussagen darüber, welchem Markt bestimmte Umsätze zuzuord-
nen sind.
Liefert ein Anbieter dagegen selbst, ohne Einschaltung eines verbundenen
Unternehmens oder sonstiger Dritter, an seine Abnehmer, stellen sich keine ver-
gleichbaren Fragen, vielmehr kann kein Zweifel daran bestehen, dass die hieraus
resultierenden Umsätze bei der Ermittlung der Marktanteile auf dem betreffenden
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Markt - sei es der Handelsmarkt oder der Endkundenmarkt - zu berücksichtigen sind.
Für die von der Rechtsbeschwerde befürwortete Anwendung von Art. 9 Abs. 2
Buchst. b Vertikal-GVO 1999 auf die direkte Belieferung von Endabnehmern durch
Hersteller ist mithin kein Raum. Sie hätte vielmehr zur Folge, dass Umsätze, die auf
dem Endkundenmarkt erzielt werden, bei der Bestimmung des Volumens eines an-
deren Marktes, nämlich des Handelsmarkts berücksichtigt werden. Dies ist mit Sinn
und Zweck der Regelung, wie sie oben dargestellt wurden, nicht zu vereinbaren
(ebenso Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, 3. Auflage, Art. 7 Rn. 934).
gg) Kommt es danach für die Freistellung einer Vertriebsvereinbarung zwi-
schen einem Hersteller und einem Händler bei der Bestimmung des Marktanteils ei-
nes Herstellers als Lieferant bzw. Anbieter nach Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO 1999 und
Art. 3 Abs. 1 Vertikal-GVO 2010 auch in Konstellationen, in denen die betreffenden
Produkte von einem Teil der Hersteller auch direkt an Endabnehmer veräußert wer-
den, regelmäßig nur auf die Umsätze an, die die Hersteller beim Absatz ihrer Produk-
te an den Handel erzielen, ist die Annahme des Beschwerdegerichts, dass der
Marktanteil von Merck auf dem Markt für Laborchemikalien der Produktgruppe
"Mikrobiologie" seit 2007 die 30%-Schwelle überschreitet, rechtsfehlerfrei.
e) Der Senat kann über die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2
Buchst. b Vertikal-GVO 1999 (Art. 3 Abs. 1 und Art. 7 Buchst. c Vertikal-GVO 2010)
in eigener Verantwortung entscheiden.
aa) Eine Ausnahme von der Pflicht letztinstanzlicher Gerichte nach Art. 267
Abs. 3 AEUV, den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung zur
Auslegung des Unionsrechts zu ersuchen, ist in der Rechtsprechung des Gerichts-
hofs anerkannt, wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig
ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt. Ob ein solcher Fall vorliegt,
ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen
Schwierigkeit seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichts-
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entscheidungen innerhalb der Gemeinschaft zu beurteilen (vgl. EuGH, Urteil vom
6. Oktober 1982 - 283/81, Slg. 1982, 3417 Rn. 16 ff. - CILFIT; BGH, Beschluss vom
16. Dezember 2014 - KRB 47/13, BGHSt 60, 121 Rn. 32).
bb)
Nach dieser Maßgabe ist eine Vorlage hier nicht geboten. Wie sich aus
den vorstehenden Ausführungen ergibt, bestehen hinsichtlich der Auslegung von
Art. 3 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 Buchst. b Vertikal-GVO 1999 (Art. 3 Abs. 1 und Art. 7
Buchst. c Vertikal-GVO 2010) keine vernünftigen Zweifel.
Abweichende Entscheidungen mitgliedstaatlicher Behörden oder Gerichte
oder der Unionsgerichte sind nicht ersichtlich. Die Entscheidung "Staubsaugerbeu-
telmarkt" des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 5. Oktober 2004 - KVR 14/03,
BGHZ 160, 321) stützt den Standpunkt der Rechtsbeschwerde nicht. Wie oben aus-
geführt (Rn. 32) kann sich die Rechtsbeschwerde für ihren Standpunkt auch nicht auf
die Leitlinien der Kommission für vertikale Beschränkungen stützen. Angesichts des-
sen begründet der Umstand, dass sich die Rechtsbeschwerde für ihre Auffassung
auf einzelne Stimmen in der Kommentarliteratur stützen kann (siehe die Nachweise
in Rn. 31 und 37), keine Zweifel an der richtigen Auslegung des Unionsrechts.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 78 Satz 1 und 2 GWB. Im Hinblick
darauf, dass die Beigeladene am Verfahrensausgang in besonderer Weise inter-
essiert ist und sich dadurch veranlasst gesehen hat, das Verfahren durch Schrift-
sätze und ihre Beteiligung an der mündlichen Verhandlung zu fördern, entspricht es
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der Billigkeit, der Betroffenen zu 1 auch die Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen
(vgl. BGH, Beschluss vom 14. März 1990 - KVR 4/88, GRUR 1990, 702, 709 - Sport-
übertragungen, insoweit nicht in BGHZ 110, 371 abgedruckt).
Meier-Beck
Raum
Strohn
Bacher
Deichfuß
Vorinstanz:
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 13.11.2013 - VI-Kart 5/09 (V) -