Urteil des BGH vom 12.02.2015

Leitsatzentscheidung zu Verkündung, Akteneinsicht, Fälschung, Rechtsmittelfrist, Papiere

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
I X Z R 1 5 6 / 1 4
vom
12. Februar 2015
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 544 Abs. 1 Satz 2 Fall 2 ZPO
Zur Einhaltung der im Fall der Nichtzulassungsbeschwerde sechsmonatigen
Rechtsmittelfrist bei einem verkündeten, aber nicht zugestellten Urteil.
BGH, Beschluss vom 12. Februar 2015 - IX ZR 156/14 - OLG Frankfurt in Kassel
LG Kassel
- 2 -
Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Prof. Dr. Kayser, den Richter Vill, die Richterin Lohmann, den Richter Dr. Pape
und die Richterin Möhring
am 12. Februar 2015
beschlossen:
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem
Urteil des 15. Zivilsenats in Kassel des Oberlandesgerichts Frank-
furt am Main vom 22. Juni 2006 wird auf Kosten des Klägers als
unzulässig verworfen.
Der Wert des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde wird auf
84.800
€ festgesetzt.
Gründe:
I.
Der Kläger verlangt von der beklagten S. Zahlung von Masse-
provision für die freihändige Veräußerung von zur Masse gehörenden, zuguns-
ten der Beklagten belasteten Grundstücken aufgrund einer Vereinbarung, die
die Parteien unterschiedlich auslegen. Seine Klage wurde durch Urteil vom
30. Mai 2005 abgewiesen. Das Berufungsgericht sah weiteren Klärungsbedarf,
weswegen die Parteien auf Vorschlag des Gerichts einen widerruflichen Ver-
gleich schlossen. Für den Fall des Widerrufs bestimmte das Gericht einen Ver-
kündungstermin auf den 22. Juni 2006. Der Kläger widerrief den Vergleich. Im
1
- 3 -
Juni 2009 suchte der Prozessbevollmächtigte des Klägers das Berufungsgericht
auf, um Akteneinsicht zu nehmen. Dabei stellte er fest, dass ein handschriftlich
ausgefülltes und unterschriebenes Verkündungsprotokoll mit dem Datum des
22. Juni 2006 und ein handschriftlicher, unterschriebener Urteilstenor lose bei
der Akte lagen. Von diesen Urkunden sind Leseabschriften gefertigt und den
Parteien am 11. Februar 2014 zugestellt worden. Am 4. Juli 2014 hat der Kläger
Nichtzulassungsbeschwerde gegen dieses Urteil eingelegt und sie am 4. Au-
gust 2014 begründet.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist gemäß § 544 Abs. 1 Satz 2 Fall 2,
§ 544 Abs. 2 Satz 1 Fall 2 ZPO unzulässig. Denn sie wurde nicht innerhalb von
sechs Monaten nach der Verkündung des Urteils beim Bundesgerichtshof ein-
gelegt und nicht innerhalb von sieben Monaten nach der Verkündung des Ur-
teils begründet, sondern mehr als sieben Jahre später. Entgegen der Annahme
des Klägers waren die Fristen des § 544 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 ZPO am
22. Juni 2006 an- und zum Zeitpunkt des Eingangs der Nichtzulassungsbe-
schwerde und ihrer Begründung abgelaufen.
1. Bei dem Urteil vom 22. Juni 2006 handelt es sich entgegen der An-
sicht des Klägers um ein Urteil im Rechtssinne (vgl. BGH, Urteil vom 11. Okto-
ber 1994 - XI ZR 72/94, NJW 1994, 3358). Denn das Urteil ist an diesem Tag
wirksam verkündet worden, wie das Protokoll vom 22. Juni 2006 belegt.
2
3
- 4 -
a) Nach § 165 Satz 1 ZPO kann die Beachtung der für die mündliche
Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewie-
sen werden. Zu diesen Förmlichkeiten gehört gemäß § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO
auch die Verkündung des Urteils. Ausweislich des Verkündungsprotokolls vom
22. Juni 2006 wurde in Abwesenheit der Parteien durch den Einzelrichter "an-
liegendes Urteil verkündet". Damit ist dem Erfordernis des § 160 Abs. 3 Nr. 7
ZPO genügt (vgl. BGH, Urteil vom 7. Oktober 1953 - II ZR 208/52, BGHZ 10,
327, 329; BGH, Urteil vom 16. Oktober 1984 - VI ZR 205/83, NJW 1985, 1782,
1783) und gemäß § 165 Satz 1 ZPO die Verkündung des in Bezug genomme-
nen Urteils vom 22. Juni 2006 bewiesen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Oktober 1994
- XI ZR 72/94, NJW 1994, 3358). Durch den Verweis auf das anliegende Urteil
ist der Bezug zwischen dem Verkündungsprotokoll und dem verkündeten Urteil
eindeutig und muss das Verkündungsprotokoll nicht fest mit dem verkündeten
Urteil verbunden sein. Denn ein anderes Urteil als das angefochtene findet sich
nicht bei den Akten.
Es ist unschädlich, dass bis Sommer 2009 das Verkündungsprotokoll
und der Entscheidungstenor nicht in die Gerichtsakte eingeheftet und paginiert,
sondern lose in die Aktentasche eingelegt waren. In dieser Aktentasche befan-
den sich noch weitere Papiere, die dem Klägervertreter nicht zur Akteneinsicht
ausgehändigt wurden. Eine dienstliche Stellungnahme der Geschäftsstelle, was
der Inhalt dieser Papiere war, findet sich nicht bei den Akten, einer solchen be-
durfte es auch nicht. Denn der Vorsitzende hat dem Kläger mitgeteilt, dass es
sich hierbei um Überstücke von Anwaltsschriftsätzen, Senatsentscheidungen
und insbesondere um die Aufzeichnungen der bearbeitenden Richter handele,
die nicht Aktenbestandteil sind. Nach dieser Auskunft befand sich keine andere
4
5
- 5 -
Entscheidung bei den Akten. Das Verkündungsprotokoll kann sich deswegen
allein auf das nunmehr in die Gerichtsakte eingegliederte Urteil beziehen. Damit
ist eine zweifelsfreie Zuordnung des Verkündungsprotokolls zu dem verkünde-
ten Urteil möglich, ohne dass es auf eine körperliche Verbindung dieser Schrift-
stücke ankommt (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juli 2004 - XII ZB 12/03,
NJW-RR 2004, 1651, 1652).
b) Das Berufungsgericht hat bei der Verkündung des angefochtenen Ur-
teils auch nicht mit der Folge gegen unerlässliche Formvorschriften verstoßen,
dass das verkündete Urteil als Nichturteil angesehen werden müsste (vgl.
MünchKomm-ZPO/Musielak, 4. Aufl., § 310 Rn. 11, 13). Zwar war das ange-
fochtene Urteil entgegen § 310 Abs. 2 ZPO bei der Verkündung nicht in voll-
ständiger Form abgefasst. Doch ist die Verkündung eines Urteils in einem dazu
anberaumten Termin auch dann wirksam, wenn das Urteil bei der Verkündung
noch nicht in vollständiger Form vorliegt. Denn auch dann, wenn bei einer Ver-
kündung nach § 310 Abs. 2 ZPO Tatbestand und Entscheidungsgründe noch
nicht abgesetzt sind, wird nicht ein Entwurf, sondern bereits ein Urteil verkündet
(BGH, Beschluss vom 2. März 1988 - IVa ZB 2/88, NJW 1988, 2046). An einer
wirksamen Verlautbarung des Urteils fehlt es ferner nicht deshalb, weil das Pro-
tokoll vom 22. Juni 2006 nicht ausweist, in welcher der beiden nach § 311
Abs. 2 Satz 1 und 2 ZPO hier möglichen Formen das Urteil verkündet worden
ist. Wegen der Gleichwertigkeit beider Verlautbarungsformen reicht es aus,
wenn im Protokoll angegeben ist, dass das "anliegende Urteil verkündet" wor-
den ist (vgl. BGH, Urteil vom 11. Oktober 1994 - XI ZR 72/94, NJW 1994,
3358).
6
- 6 -
c) Nach § 165 Satz 2 ZPO kann die Beweiskraft der Sitzungsniederschrift
nur durch den Nachweis der Protokollfälschung zerstört werden. Eine solche
Fälschung liegt vor, wenn eine Feststellung im Protokoll wissentlich falsch ge-
troffen oder ihre Niederschrift nachträglich vorsätzlich gefälscht (§§ 267, 271,
348 StGB) worden ist (MünchKomm-ZPO/Wagner, aaO § 165 Rn. 18). Der ihm
obliegende Nachweis einer Protokollfälschung ist dem Kläger nicht gelungen
(vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 3. März 2004 - VIII ZB, aaO. (vgl. hierzu BGH,
Beschluss vom 3. März 2004 - VIII ZB 121/03, BGHReport 2004, 979, 980 f;
vom 26. Mai 2010 - XII ZB 205/08, FamRZ 2010, 1326 Rn. 19). Der entschei-
dende Richter hat in seiner dienstlichen Stellungnahme vom 26. Oktober 2010
bestätigt, das Urteil am 22. Juni 2006 verkündet zu haben, indem er angegeben
hat, zum Absetzen der Entscheidungsgründe des aus seiner Sicht rechtskräfti-
gen Urteils sei er wegen der Arbeitsüberlastung nicht gekommen. Schon vor
der Akteneinsicht, nämlich im September 2008, hat er zudem der Beklagten die
telefonische Auskunft erteilt, die klägerische Berufung zurückgewiesen zu ha-
ben. Der Umstand, dass der Klägervertreter im Jahr 2009 Protokoll und Urteils-
tenor in der Aktentasche vorgefunden hat, belegt eine Fälschung des Protokolls
deswegen ebenso wenig wie der Umstand, dass der Richter Sachstandsanfra-
gen nicht beantwortet hat. Dass in der Aktentasche keine andere Entscheidung
verwahrt worden ist, ergibt sich aus dem Schreiben des Vorsitzenden vom
25. November 2013.
2. Aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20. April 1977 (IV ZR
68/76, BB 1977, 1121) ergibt sich nichts anderes. Nach dieser Entscheidung
soll § 517 ZPO (§ 516 ZPO aF), dessen Regelungsgehalt insoweit § 544 Abs. 1
ZPO entspricht, nicht gelten, wenn die durch das Urteil beschwerte Partei im
Verhandlungstermin nicht vertreten und zu diesem Termin auch nicht ord-
nungsgemäß geladen war. Denn dieser Vorschrift liegt der Gedanke zugrunde,
7
8
- 7 -
dass eine Partei, die vor Gericht streitig verhandelt hat, mit dem Erlass einer
Entscheidung rechnen muss; es kann ihr daher zugemutet werden, sich danach
zu erkundigen, ob und mit welchem Inhalt eine solche Entscheidung ergangen
ist.
Der Kläger hat hier jedoch als beschwerte Partei streitig verhandelt und
kannte deswegen den angesetzten Verkündungstermin. Zwar hatte das Beru-
fungsgericht Bedenken geäußert, ob die Sache entscheidungsreif sei, der Klä-
ger konnte sich aber nicht sicher sein, dass das Gericht nur einen Hinweis- oder
Beweisbeschluss verkünden würde. Denn das Berufungsgericht hat am Schluss
der Verhandlung einen "Termin zur Verkündung einer Entscheidung" anbe-
raumt. In einem solchen Fall müssen die Parteien auch mit dem Erlass eines
Urteils rechnen (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 1983 - III ZB 14/83,
VersR 1983, 1082). Nachdem der Verkündungstermin verstrichen war, ohne
dass dem Kläger eine Entscheidung zugestellt worden war, hat er nicht alles
ihm Zumutbare unternommen, den Inhalt der verkündeten Entscheidung in Er-
fahrung zu bringen. Vielmehr hat er sich erstmals mit Schriftsatz vom 3. April
2009 - also über anderthalb Jahre nach Ablauf der Rechtsmittelfrist - nach der
Entscheidung erkundigt. Deswegen folgt die Unanwendbarkeit von § 544 Abs. 1
9
- 8 -
und 2 ZPO auch nicht aus dem Anspruch auf Gewährung effektiven Recht-
schutzes (Art. 2 Abs. 1 GG iVm Art. 20 Abs. 2 GG).
Kayser
Vill
Lohmann
Pape
Möhring
Vorinstanzen:
LG Kassel, Entscheidung vom 30.05.2005 - 5 O 3114/04 -
OLG Frankfurt in Kassel, Entscheidung vom 22.06.2006 - 15 U 132/05 -