Urteil des BGH vom 16.04.2015

Leitsatzentscheidung zu Grundsatz der Gleichwertigkeit, Einkünfte, Nummer, Unterhaltspflicht

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
I X Z B 4 1 / 1 4
vom
16. April 2015
in dem Insolvenzverfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
ZPO § 850c Abs. 4; InsO § 36 Abs. 4
Zu den eigenen Einkünften des Unterhaltsberechtigten, die dessen Berücksichtigung
bei der Berechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens des Schuldners
einschränken oder ausschließen können, gehört auch der von anderen Unterhalts-
verpflichteten gewährte Naturalunterhalt.
BGH, Beschluss vom 16. April 2015 - IX ZB 41/14 - LG Oldenburg
AG Nordenham
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Prof. Dr. Kayser, die Richter Prof. Dr. Gehrlein, Vill, Dr. Fischer und Grupp
am 16. April 2015
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des weiteren Beteiligten wird der Be-
schluss der 17. Zivilkammer des Landgerichts Oldenburg vom
9. Juli 2014 aufgehoben.
Die sofortige Beschwerde des Schuldners gegen den Beschluss
des Amtsgerichts Nordenham vom 28. April 2014 wird zurückge-
wiesen.
Die Kosten der Beschwerdeverfahren hat der Schuldner zu tragen.
Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 936,92
festgesetzt.
Gründe:
I.
Über das Vermögen des Schuldners ist am 30. Januar 2014 das Insol-
venzverfahren eröffnet und der weitere Beteiligte zum Insolvenzverwalter be-
stellt worden. Der Schuldner bezieht ein durchschnittliches Nettoeinkommen in
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Höhe von monatlich 1.794,83 €. Er lebt mit seiner Ehefrau und den beiden ge-
meinsamen minderjährigen Kindern in häuslicher Gemeinschaft. Seine Ehefrau
verfügt über eigene Einkünfte in Höhe von monatlich 1.980
€. Sie gewährt den
Kindern Naturalunterhalt. Auf Antrag des Insolvenzverwalters vom 18. Februar
2014 hat das Insolvenzgericht - Rechtspfleger - angeordnet, dass die Ehefrau
bei der Berechnung der pfändbaren Beträge gemäß § 850c ZPO nicht und die
beiden Kinder jeweils nur zu 50 v.H. berücksichtigt werden. Auf die sofortige
Beschwerde des Schuldners hat das Beschwerdegericht diese Entscheidung
abgeändert und angeordnet, dass die Kinder bei der Berechnung der pfändba-
ren Beträge in vollem Umfang zu berücksichtigen sind. Hiergegen wendet sich
die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde des Insolvenz-
verwalters.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, weil das Beschwerdegericht im voll-
streckungsrechtlichen Rechtszug nach § 567 Abs. 1, § 793 ZPO, § 36 Abs. 4
Satz 1 InsO die Rechtsbeschwerde zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2,
Abs. 3 Satz 2 ZPO). Sie ist auch im Übrigen zulässig (§ 575 ZPO). In der Sache
hat sie Erfolg und führt zur Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Entschei-
dung.
1. Das Beschwerdegericht hat ausgeführt, der durch die Ehefrau den
gemeinsamen Kindern gewährte Naturalunterhalt stelle kein eigenes Einkom-
men der Kinder im Sinne von § 850c Abs. 4 ZPO dar. Die Gewährung von Kost
und Unterkunft sei bereits begrifflich nicht als Einkommen aufzufassen. Die
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Kinder seien daher bei der Berechnung der aus dem Einkommen des Schuld-
ners pfändbaren Beträge in vollem Umfang zu berücksichtigen.
2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Zu den eigenen Einkünften im Sinne von § 850c Abs. 4 ZPO gehören auch Zu-
wendungen, die dem Unterhaltsberechtigten in Natur geleistet werden. Entge-
gen der Auffassung der Rechtsbeschwerde folgt aus der Senatsentscheidung
vom 7. Mai 2009 (IX ZB 211/08, WM 2009, 1153 Rn. 10) nichts Gegenteiliges.
Mit der von der dortigen Rechtsbeschwerde vertretenen Ansicht, der vom ande-
ren Elternteil gewährte Naturalunterhalt sei kein eigenes Einkommen im Sinne
von § 850c Abs. 4 ZPO, hat sich der Senat nicht näher befasst.
a) Gemäß § 850c Abs. 4 ZPO kann das Vollstreckungsgericht oder das
nach § 36 Abs. 4 Satz 1 InsO an seine Stelle tretende Insolvenzgericht nach
billigem Ermessen anordnen, dass eine nach dem Gesetz unterhaltsberechtigte
Person, die eigene Einkünfte hat, bei der Berechnung des unpfändbaren Teils
des Arbeitseinkommens ganz oder teilweise unberücksichtigt bleibt. Schon
nach ihrem Wortlaut erfasst die Vorschrift alle Arten von Einkünften (BGH, Be-
schluss vom 7. Mai 2009, aaO Rn. 8). Sie will die Berücksichtigung des Berech-
tigten, der eigene Einkünfte bezieht, flexibel gestalten, wobei das Gericht in sei-
ne Erwägungen den Lebensbedarf einzubeziehen hat, der aus dem Arbeitsein-
kommen des Schuldners zu bestreiten ist (BT-Drucks. 8/693 S. 48 f (zu Num-
mer 8)). Es ist zu prüfen, ob die eigenen Einkünfte des Unterhaltsberechtigten
dazu führen, dass dem Schuldner insoweit kein eigenes Einkommen verbleiben
muss, weil der Bedarf des Unterhaltsberechtigten anderweitig gedeckt ist (BGH,
Beschluss vom 5. April 2005 - VII ZB 28/05, ZVI 2005, 254, 255 f; vom 7. Mai
2009, aaO Rn. 10). Deshalb sind Unterhaltszahlungen, die der Unterhaltsbe-
rechtigte vom anderen Elternteil oder Dritten bezieht, als eigene Einkünfte im
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Sinne von § 850c Abs. 4 ZPO zu berücksichtigen. Geld, welches der Unter-
haltsberechtigte von dritter Seite bezieht, verringert seinen Bedarf und entlastet
den zum Unterhalt verpflichteten Schuldner (BGH, Beschluss vom 7. Mai 2009,
aaO Rn. 7 und 10; MünchKomm-ZPO/Smid, 4. Aufl., § 850c Rn. 20; Zöller/
Stöber, ZPO, 30. Aufl., § 850c Rn. 12; Ahrens, NZI 2009, 423 f; jeweils mwN).
b) Gleiches gilt für Zuwendungen, die dem Unterhaltsberechtigten in Na-
tur geleistet werden. Auch diese, etwa unentgeltliches Wohnen oder freie Kost,
mindern die Unterhaltsverpflichtung des Schuldners (Hornung, Rpfleger 1978,
353, 356). Es besteht daher kein sachlicher Grund, zwischen der Art der Ge-
währung des Unterhalts zu unterscheiden (LG Ansbach, JurBüro 2010, 50, 51).
In Übereinstimmung mit der nahezu einhelligen Auffassung von Rechtspre-
chung und Schrifttum sind daher Einkünfte, die dem Unterhaltsberechtigten in
Natur zufließen werden, zu den Einnahmen im Sinne von § 850c Abs. 4 ZPO zu
zählen (LG Ansbach, aaO; MünchKomm-ZPO/Smid, aaO; Musielak/-
Voit/Becker, ZPO, 12. Aufl., § 850c Rn. 11; Stein/Jonas/Brehm, ZPO, 22. Aufl.,
§ 850c Rn. 28 in Fn. 71; Stöber, Forderungspfändung, 16. Aufl., Rn. 1060a;
Hornung, aaO; Hintzen, NJW 1995, 1861, 1862).
3. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts erweist sich auch nicht aus
anderen Gründen als richtig (§ 577 Abs. 3 ZPO). Anders als es die Beschwer-
deerwiderung meint, steht der Berücksichtigung von Naturalleistungen als eige-
nes Einkommen im Sinne von § 850c Abs. 4 ZPO auch nicht der Grundsatz der
Gleichwertigkeit von Bar- und Betreuungsunterhalt entgegen.
a) Für die im Rahmen der Billigkeitsentscheidung nach § 850c Abs. 4
ZPO zu beantwortende Frage, welcher Lebensbedarf aus dem Arbeitseinkom-
men des Schuldners zu bestreiten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2005
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- VII ZB 28/05, ZVI 2005, 254, 255 f; vom 7. Mai 2009 - IX ZB 211/08, WM
2009, 1153 Rn. 10; BT-Drucks. 8/693 S. 48 f (zu Nummer 8)), ist bei Unterhalts-
leistungen zwischen Betreuungsunterhalt einerseits und Bar- sowie Naturalun-
terhalt andererseits zu unterscheiden.
aa) Der Betreuungsunterhalt umfasst die Betreuungsleistungen in Form
von Versorgung, Erziehung, persönlicher Zuwendung und Haushaltsführung
(Soyka in Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 9. Aufl., Vor §§ 1601 ff Rn. 3;
Scholz, FamRZ 1994, 1314, 1315). Nach § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB erfüllt der
Elternteil eines minderjährigen unverheirateten Kindes, bei dem dieses lebt,
seine Unterhaltsverpflichtung in der Regel durch dessen Pflege und Erziehung.
Die Bestimmung stellt klar, dass diese Betreuungsleistung und die Barleistun-
gen des anderen Elternteils grundsätzlich gleichwertig sind und trägt der Tatsa-
che Rechnung, dass eine auf den Einzelfall abstellende rechnerische Bewer-
tung des Betreuungsaufwandes unzulänglich bliebe (BGH, Urteil vom
30. August 2006 - XII ZR 138/04, FamRZ 2006, 1597, 1598; vgl. auch
Graba/Maier in Johannsen/Henrich, Familienrecht, 6. Aufl., § 1606 Rn. 6;
MünchKomm-BGB/Born, 6. Aufl., § 1606 Rn. 6). Folge ist, dass der Elternteil,
der das Kind betreut, dadurch regelmäßig seiner Unterhaltspflicht genügt (vgl.
auch Palandt/Brudermüller, BGB, 74. Aufl., § 1606 Rn. 7). Für den Schuldner,
der sein minderjähriges Kind nicht betreut, bedeutet dies, dass er mit seinem
Arbeitseinkommen den vollen Barbedarf des Kindes bestreiten muss.
bb) Der Naturalunterhalt geht über den Betreuungsunterhalt hinaus. Er
umfasst ebenso wie der Barunterhalt den gesamten Lebensbedarf; der Unter-
schied zum Barunterhalt liegt lediglich darin, dass die zur Befriedigung der Le-
bensbedürfnisse erforderlichen Dinge in natura zur Verfügung gestellt werden
(Soyka in Prütting/Wegen/Weinreich, aaO; MünchKomm-BGB/Born, 6. Aufl.,
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Vor § 1601 Rn. 23; vgl. auch Scholz, aaO). Wenn der andere Elternteil über die
geschuldeten Betreuungsleistungen hinaus weitere Bar- oder Naturalleistungen
wie unentgeltliches Wohnen oder freie Kost erbringt, verringert er deshalb auch
den Bedarf des Berechtigten und entlastet so den zum Unterhalt verpflichteten
Schuldner.
b) Gemessen hieran können die von der Ehefrau des Schuldners gegen-
über den gemeinsamen Kindern erbrachten Naturalleistungen im Rahmen der
Billigkeitsentscheidung nach § 850c Abs. 4 ZPO auch dann bedarfsmindernd
berücksichtigt werden, wenn die ausschließliche Betreuung der Kinder durch
die Ehefrau erfolgt. Das Insolvenzgericht ist bei seiner Entscheidung über die
teilweise Nichtanrechnung der gemeinsamen Kinder bei der Bestimmung des
dem Schuldner verbleibenden Pfändungsfreibetrages davon ausgegangen, es
sei angesichts des eigenen Einkommens der im Verhältnis zum Schuldner ge-
genüber den Kindern gleichranging unterhaltspflichtigen Ehefrau sachgerecht,
den nach § 850c Abs. 1 ZPO zu berücksichtigenden Freibetrag etwa im Ver-
hältnis zum jeweiligen Einkommen des Schuldners und seiner Ehefrau aufzutei-
len. Diesen Erwägungen liegt die einer allgemeinen Lebenserfahrung entspre-
chende Erwartung zugrunde, die Ehefrau setze das von ihr bezogene Eltern-
geld zur Erhöhung des Familienunterhalts ein, aus welchem angesichts der be-
stehenden Lebensgemeinschaft der gesamte Lebensbedarf der Familie ein-
schließlich
der
unterhaltsberechtigten
gemeinsamen
Kinder
(vgl.
Wendl/Dose/Scholz, Das Unterhaltsrecht in der familienrichterlichen Praxis, § 3
Rn. 1 ff und Rn. 25 mwN) gedeckt wird. Eine abweichende Verwendung des
Elterngeldes hat auch die sofortige Beschwerde nicht geltend gemacht. Sie
geht für die Familie vielmehr selbst von einem Gesamteinkommen in Höhe von
3.770
€ aus.
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4. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts kann daher keinen Be-
stand haben. Da in der Sache keine weiteren Feststellungen zu treffen sind,
sondern der Sachverhalt zur Endentscheidung reif ist, hat der Senat gemäß
§ 577 Abs. 5 ZPO zu entscheiden. Hiernach ist die sofortige Beschwerde des
Schuldners zurückzuweisen.
Kayser
Gehrlein
Vill
Fischer
Grupp
Vorinstanzen:
AG Nordenham, Entscheidung vom 28.04.2014 - 7 IN 52/13 -
LG Oldenburg, Entscheidung vom 09.07.2014 - 17 T 388/14 -
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