Urteil des BGH vom 19.04.2012

Rechtliches Gehör, Einstellung des Verfahrens, Anschrift, Verwalter, Zustellung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZB 225/10
vom
19. April 2012
in dem Insolvenzverfahren
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Prof. Dr. Kayser und die Richter Prof. Dr. Gehrlein, Vill, Dr. Fischer und Grupp
am 19. April 2012
beschlossen:
Dem Schuldner wird Wiedereinsetzung in die versäumten Fristen
zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den
Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg vom
10. Juni 2010 gewährt.
Die Rechtsbeschwerde gegen den genannten Beschluss wird auf
Kosten des Schuldners als unzulässig verworfen.
Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000
festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§§ 6, 7, 216 Abs. 1 InsO, Art. 103f
EGInsO, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Dem Schuldner wird Wiedereinset-
zung in die versäumten Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbe-
schwerde gewährt (§ 4 InsO, § 233 ZPO), nachdem ihm für das Verfahren der
Rechtsbeschwerde vom Senat Prozesskostenhilfe bewilligt worden war und er
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jeweils rechtzeitig Wiedereinsetzung beantragt und die versäumten Prozess-
handlungen nachgeholt hat.
II.
Die Rechtsbeschwerde ist jedoch unzulässig. Sie zeigt keinen Zulässig-
keitsgrund auf, der gemäß § 574 Abs. 2 ZPO eine Entscheidung des Rechtsbe-
schwerdegerichts erfordern würde. Dabei prüft der Bundesgerichtshof nur die
Zulässigkeitsgründe, welche die Rechtsmittelbegründung nach § 575 Abs. 3
Nr. 2 ZPO schlüssig und substantiiert dargelegt hat (BGH, Beschluss vom
29. September 2005 - IX ZB 430/02, ZInsO 2005, 1162; vom 9. März 2006
- IX ZB 209/04, ZVI 2006, 351 Rn. 4; vom 18. Dezember 2008 - IX ZB 46/08,
ZInsO 2009, 495 Rn. 4).
1. Die Fortbildung des Rechts oder die Einheitlichkeitssicherung erfor-
dern nicht die Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts unter dem Ge-
sichtspunkt, dass das Beschwerdegericht angenommen habe, die Vorausset-
zungen der Einstellung nach § 207 InsO nicht selbst prüfen zu müssen.
Das Beschwerdegericht hat den Umfang seiner Prüfungs- und Ermitt-
lungspflicht nicht verkannt. Es hat die Voraussetzungen des § 207 InsO eigen-
ständig geprüft und seiner Entscheidungsfindung die Feststellungen im
Schlussbericht des Verwalters zugrunde legen dürfen. Der Schuldner hatte
zwar zunächst beanstandet, dass der Verwalter keine Belege überreicht habe.
Dem Schuldnervertreter wurde anschließend jedoch Gelegenheit zur Einsicht in
fünf Belegordner gegeben, die der Verwalter zu diesem Zweck vorgelegt hat. Er
hat dieses Einsichtsrecht wahrgenommen. Innerhalb der anschließend gewähr-
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ten weiteren Äußerungsfrist hat der Schuldner nicht mehr Stellung genommen.
Für weitere Nachforschungen bestand danach weder für das Insolvenzgericht
noch für das Beschwerdegericht Veranlassung, da konkrete Mängel oder Un-
richtigkeiten nicht behauptet wurden.
2. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs des Schuldners entgegen
§ 207 Abs. 2 InsO liegt nicht vor. Zum einen betrifft die gerügte Gehörsverlet-
zung das Verfahren des Insolvenzgerichts, ohne dass die Rüge, wie es erfor-
derlich gewesen wäre, schon im Verfahren der sofortigen Beschwerde erhoben
worden wäre. Die Rechtsbeschwerde kann deshalb hierauf nicht mehr gestützt
werden (BGH, Beschluss vom 6. Mai 2010 - IX ZB 225/05, ZInsO 2010, 1156
Rn. 8).
Zudem hat der Schuldner umfassend Gelegenheit gehabt, zu der ange-
regten Einstellung des Verfahrens nach § 207 InsO Stellung zu nehmen. Er hat
hiervon Gebrauch gemacht. Soweit er geltend macht, ein anderer Massegläubi-
ger sei nicht gehört worden, kann dies nicht ihn selbst in seinem Anspruch auf
rechtliches Gehör verletzt haben. Soweit der Schuldner geltend macht, selbst
Massegläubiger gewesen und in dieser Eigenschaft nicht gehört worden zu
sein, ist sein Grundrecht auf rechtliches Gehör ebenfalls nicht verletzt, weil er
von dem Vorgang Kenntnis hatte und auch als Massegläubiger hätte Stellung
nehmen können. Die Zustellung an den Schuldner als Massegläubiger kam mit
dem Vermerk zurück, der Empfänger sei unter der angegebenen Anschrift nicht
zu ermitteln. Der Schuldner meint, seine Anschrift habe vom Insolvenzgericht
ermittelt werden müssen, ohne darzulegen, warum er unter der vom Gericht
verwendeten Anschrift nicht mehr erreicht werden konnte. Es hätte aber dem
Schuldner oblegen, seine aktuelle Anschrift dem Insolvenzgericht jeweils mitzu-
teilen.
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3. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat das Beschwer-
degericht nicht angenommen, zu den Kosten des Verfahrens im Sinne des
§ 207 Abs. 1 Satz 1 InsO gehörten auch die Masseverbindlichkeiten im Sinne
des § 55 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO. Das Beschwerdegericht hat allerdings ver-
kannt, dass die Tilgungsreihenfolge des § 209 InsO auch dann einzuhalten ist,
wenn der Insolvenzverwalter noch nicht Masseunzulänglichkeit nach § 208
InsO angezeigt hat (BGH, Beschluss vom 19. November 2009 - IX ZB 261/08,
ZIP 2010, 145 Rn. 11 ff, 14; vom 14. Oktober 2010 - IX ZB 224/08, ZIP 2010,
2252 Rn. 12 ff; Urteil vom 21. Oktober 2010 - IX ZR 220/09, ZIP 2010, 2356
Rn. 12). Einen unzutreffenden Kostenbegriff hat es damit nicht zugrunde gelegt.
4. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 577 Abs. 6 Satz 3 ZPO
abgesehen. Dem Rechtsbeschwerdeführer bleibt es unbenommen, ein neues
Insolvenzverfahren, Verfahrenskostenstundung und Restschuldbefreiung zu
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beantragen, was schneller zum Erfolg führen dürfte als die Fortsetzung des
eingestellten Verfahrens nach altem Recht (Art. 103a EGInsO).
Kayser
Gehrlein
Vill
Fischer
Grupp
Vorinstanzen:
AG Lüneburg, Entscheidung vom 14.04.2010 - 46 IN 33/01 -
LG Lüneburg, Entscheidung vom 10.06.2010 - 3 T 48/10 -