Urteil des BGH vom 22.04.2015

Ablauf der Frist, Ex Nunc, Versicherer, Lebensversicherung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
I V Z R 4 9 1 / 1 4
Verkündet am:
22. April 2015
Heinekamp
Amtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin
Mayen,
die
Richterin
Harsdorf-Gebhardt,
die
Richter
Dr. Karczewski, Lehmann und die Richterin Dr. Brockmöller im schriftli-
chen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO mit Schriftsatzfrist bis zum
27. März 2015
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerseite wird das Urteil der 9. Zi-
vilkammer des Landgerichts Wiesbaden vom 11. Oktober
2012 aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Revision s-
verfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf
2.962,46
€ festgesetzt.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerseite (Versicherungsnehmer/in: im Folgenden d. VN)
begehrt von dem beklagten Versicherer (im Folgenden Versicherer)
Rückzahlung geleisteter Versicherungsbeiträge eine r Kapitallebensversi-
cherung.
Diese wurde aufgrund eines Antrags d. VN mit Vertragsbeginn zum
1. August 2004 nach dem so genannten Policenmodell des § 5a VVG in
der bei Antragstellung gültigen Fassung (im Folgenden § 5a VVG a.F.)
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abgeschlossen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wurde
d. VN nicht ordnungsgemäß, insbesondere nicht in drucktechnisch deu t-
licher Form über das Widerspruchsrecht nach § 5a VVG a.F. belehrt. Mit
Schreiben vom 27. Dezember 2009 erklärte d. VN den Widerspruch ge-
mäß § 5a VVG a.F., Widerspruch nach § 8 VVG, vorsorglich Anfechtung
nach § 119 Abs. 1 BGB und hilfsweise Kündigung. Auf die Kündigung
zahlte der Versicherer den Rückkaufswert aus. Mit Schreiben vom 22.
Juni 2010 erklärte d. VN nochmals den Widerspruch nach § 5a VVG a.F.
Mit der Klage verlangt d. VN Rückzahlung aller auf den Vertrag ge-
leisteten Beiträge nebst Zinsen abzüglich des bereits gezahlten Rück-
kaufswerts (insgesamt 3.708,93
€).
Nach Auffassung d. VN ist der Versicherungsvertrag nicht wirksam
zustande gekommen. Auch nach Ablauf der Frist des - gegen Gemein-
schaftsrecht verstoßenden - § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. habe der Wi-
derspruch noch erklärt werden können. Außerdem sei der Versicherer
wegen unzureichender Aufklärung über die Abschlusskosten zum Sch a-
densersatz verpflichtet.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landgericht die
hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt
d. VN das Klagebegehren hinsichtlich des Bereicherungsanspruchs wei-
ter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Z u-
rückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
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I. Dieses hat einen Prämienrückerstattungsanspruch aus unge-
rechtfertigter Bereicherung verneint. Der Versicherer habe zwar u.a.
nicht in drucktechnisch hervorgehobener Form über das W iderspruchs-
recht belehrt. Der Vertrag sei aber gemäß § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.
ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie rückwirkend endgültig wirksam
geworden.
II. Die Revision ist begründet.
1. Ein Anspruch auf Prämienrückzahlung aus § 812 Abs. 1 Satz 1
Alt. 1 BGB kann d. VN mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begrü n-
dung nicht versagt werden.
a) Nach den für das Revisionsverfahren nicht zu beanstandenden
Feststellungen des Berufungsgerichts belehrte der Versicherer d. VN
nicht ordnungsgemäß i.S. von § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. über das Wi-
derspruchsrecht. Für einen solchen Fall bestimmte § 5a Abs. 2 Satz 4
VVG a.F. zwar, dass das Widerspruchsrecht ein Jahr nach Zahlung der
ersten Prämie erlischt.
Das Widerspruchsrecht bestand hier aber nach Ablauf der Jahres-
frist und noch im Zeitpunkt der Widerspruchserklärung fort.
Das ergibt die richtlinienkonforme Auslegung des § 5a Abs. 2
Satz 4 VVG a.F. auf der Grundlage der Vorabentscheidung des Ge-
richtshofs der Europäischen Union vom 19. Dezember 2013 (VersR
2014, 225). Der Senat hat mit Urteil vom 7. Mai 2014 (IV ZR 76/11,
BGHZ 201, 101 Rn. 17-34) entschieden und im Einzelnen begründet, die
Regelung müsse richtlinienkonform teleologisch dergestalt reduzier t
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werden, dass sie im Anwendungsbereich der Zweiten und der Dritten
Richtlinie Lebensversicherung keine Anwendung findet und für davon e r-
fasste Lebens- und Rentenversicherungen sowie Zusatzversicherungen
zur Lebensversicherung grundsätzlich ein Widerspruchsrecht fortbesteht,
wenn d. VN - wie hier - nicht ordnungsgemäß über das Recht zum Wi-
derspruch belehrt worden ist und/oder die Verbraucherinformation oder
die Versicherungsbedingungen nicht erhalten hat.
b) Die Kündigung des Versicherungsvertrages steht dem zugleich
und später erneut erklärten Widerspruch nicht entgegen (vgl. Senatsur-
teil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 36 m.w.N.). Ein Erlöschen des Wider-
spruchsrechts nach beiderseits vollständiger Leistungserbringung kommt
ebenfalls nicht in Betracht (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 37
m.w.N.).
c) Die bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen der Europarecht s-
widrigkeit des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. sind nicht auf eine Wirkung
ab Zugang des Widerspruchs (ex nunc) zu beschränken, sondern nur e i-
ne Rückwirkung entspricht dem Effektivitätsgebot (dazu im Einzelnen
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 42-44).
2. Der Höhe nach umfasst der Rückgewähranspruch nach § 812
Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB nicht uneingeschränkt alle gezahlten Prämien.
Vielmehr muss sich d. VN bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwick-
lung den jedenfalls bis zur Kündigung des Vertrages genossenen Versi-
cherungsschutz anrechnen lassen. Der Wert des Versicherungsschutzes
kann unter Berücksichtigung der Prämienkalkulation bemessen werden;
bei Lebensversicherungen kann etwa dem Risikoanteil Bedeutung z u-
kommen (Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 45 m.w.N.).
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Da es hierzu an Feststellungen fehlt, ist der Rechtsstreit zur neuen
Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuve r-
weisen. Es wird den Parteien Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu
geben haben (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 46).
Mayen Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Lehmann Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
AG Wiesbaden, Entscheidung vom 13.04.2012 - 93 C 4377/11 (32) -
LG Wiesbaden, Entscheidung vom 11.10.2012 - 9 S 22/12 -
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