Urteil des BGH vom 18.03.2015

Ablauf der Frist, Ex Nunc, Vertragsschluss, Versicherer, Versicherungsvertrag

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
I V Z R 4 5 9 / 1 4
Verkündet am:
18. März 2015
Heinekamp
Amtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin
Mayen,
die
Richterin
Harsdorf-Gebhardt,
die
Richter
Dr. Karczewski, Lehmann und die Richterin Dr. Brockmöller im schriftli-
chen Verfahren, bei dem Schriftsätze bis zum 25. Februar 2015 einge-
reicht werden konnten,
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerseite wird das Urteil der
2. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 15. März
2011 aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Revision s-
verfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert wird auf 1.072,86
€ festgesetzt.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerseite (Versicherungsnehmer: im Folgenden d. VN) b e-
gehrt von dem beklagten Versicherer (im Folgenden Versicherer) Rüc k-
zahlung geleisteter Versicherungsbeiträge einer Rentenversicherung.
Diese wurde aufgrund eines Antrags d. VN mit Vertragsbeginn zum
1. Dezember 1999 nach dem so genannten Policenmodell des § 5a VVG
in der bei Antragstellung gültigen Fassung (im Folgenden § 5a VVG a.F.)
abgeschlossen. Im Oktober 2007 kündigte d. VN den Vertrag; der Versi-
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cherer zahlte den Rückkaufswert aus. Mit Schreiben vom 1 9. Februar
2008 erklärte d. VN schließlich den Widerspruch nach § 5a Abs. 1 Satz 1
VVG a.F.
Mit der Klage verlangt d. VN - soweit für das Revisionsverfahren
noch von Bedeutung - Rückzahlung aller auf den Vertrag geleisteten Bei-
träge nebst Zinsen abzüglich des bereits gezahlten Rückkaufswerts, in s-
gesamt 1.072,86
€.
Nach Auffassung d. VN ist der Versicherungsvertrag nicht wirksam
zustande gekommen. Auch nach Ablauf der Frist des - gegen Gemein-
schaftsrecht verstoßenden - § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. habe der W i-
derspruch noch erklärt werden können. Außerdem sei der Versicherer
nach den Grundsätzen des Verschuldens beim Vertragsschluss wegen
Verletzung der vorvertraglichen Aufklärungspflicht aus § 5a VVG a.F.
zum Schadensersatz verpflichtet, da er die AVB und die Verbraucheri n-
formation nicht vor Vertragsschluss überlassen habe.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landgericht die
hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Mit d er Revision verfolgt
d. VN das Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Z u-
rückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
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I. Dieses hat einen Prämienrückerstattungsanspruch aus unge-
rechtfertigter Bereicherung verneint. D. VN habe den Widerspruch nicht
mehr wirksam erklären können, da der Versicherungsvertrag bereits
durch die Kündigung beendet worden sei.
II. Die Revision ist begründet.
1. Sie rügt allerdings ohne Erfolg, das Berufungsgericht habe nicht
beachtet, dass der Versicherer nach den Grundsätzen des Verschuldens
bei Vertragsschluss hafte, weil er d. VN die Versicherungsbedingungen
und die Verbraucherinformation nicht vor Vertragsschluss überlassen
habe. Es fehlt jedenfalls schon an Anhaltspunkten für ein Verschulden
des Versicherers.
2. Ein Anspruch auf Prämienrückzahlung aus § 812 Abs. 1 Satz 1
Alt. 1 BGB kann d. VN mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begrü n-
dung nicht versagt werden.
a) Nach dem für das Revisionsverfahren maßgeblichen Sachver-
halt ist davon auszugehen, dass der von d. VN erklärte Widerspruch
- ungeachtet des Ablaufs der in § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. normierten
Jahresfrist - rechtzeitig war und infolgedessen der zwischen den Parte i-
en geschlossene Versicherungsvertrag nicht wirksam zustande geko m-
men ist.
aa) Das Berufungsgericht hat ebenso wie das Amtsgericht keine
Feststellungen dazu getroffen, ob d. VN mit dem Versicherungsschein
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die Versicherungsbedingungen, eine Verbraucherinformation und eine
den Anforderungen des § 5a Abs. 2 Satz 1 VVG a.F. genügende Wider-
spruchsbelehrung erhielt.
Wenn dies - was für das Revisionsverfahren zu unterstellen ist -
nicht der Fall war, bestand das Widerspruchsrecht nach Ablauf der Ja h-
resfrist des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. und noch im Zeitpunkt der W i-
derspruchserklärung fort.
Das ergibt die richtlinienkonforme Auslegung des § 5a Abs. 2
Satz 4 VVG a.F. auf der Grundlage der Vorabentscheidung des G e-
richtshofs der Europäischen Union vom 19. Dezember 2013 (VersR
2014, 225). Der Senat hat mit Urteil vom 7. Mai 2014 (IV ZR 76/11,
BGHZ 201, 101 Rn. 17-34) entschieden und im Einzelnen begründet, die
Regelung müsse richtlinienkonform teleologisch dergestalt reduziert
werden, dass sie im Anwendungsbereich der Zweiten und der Dritten
Richtlinie Lebensversicherung keine Anwendung findet und für davon e r-
fasste Lebens- und Rentenversicherungen sowie Zusatzversicherungen
zur Lebensversicherung grundsätzlich ein Widerspruchsrecht fortbesteht,
wenn d. VN - wie hier zu unterstellen - nicht ordnungsgemäß über das
Recht zum Widerspruch belehrt worden ist und/oder die Verbraucheri n-
formation oder die Versicherungsbedingungen nicht erhalten hat.
bb) Die Kündigung des Versicherungsvertrages steht dem späteren
Widerspruch nicht entgegen (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO
Rn. 36 m.w.N.). Ein Erlöschen des Widerspruchsrechts nach beiderseits
vollständiger Leistungserbringung kommt ebenfalls nicht in Betracht (vgl.
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 37 m.w.N.).
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b) Die bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen der Europarecht s-
widrigkeit des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. sind nicht auf eine Wirkung
ab Zugang des Widerspruchs (ex nunc) zu beschränken, sondern nur e i-
ne Rückwirkung entspricht dem Effektivitätsgebot (dazu im Einzelnen
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 42-44).
3. Der Höhe nach umfasst der Rückgewähranspruch nach § 812
Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB nicht uneingeschränkt alle gezahlten Prämien.
Vielmehr muss sich d. VN bei der bereicherungsrechtliche n Rückabwick-
lung den jedenfalls bis zur Kündigung des Vertrages genossenen Vers i-
cherungsschutz anrechnen lassen. Der Wert des Versicherungsschutzes
kann unter Berücksichtigung der Prämienkalkulation bemessen werden;
bei Lebensversicherungen kann etwa dem Risikoanteil Bedeutung zu-
kommen (Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 45 m.w.N.).
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Da es auch hierzu an Feststellungen fehlt, ist der Rechtsstreit zur
neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurüc k-
zuverweisen. Es wird den Parteien Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag
zu geben haben (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 46).
Mayen Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Lehmann Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
AG Hannover, Entscheidung vom 05.05.2010 - 454 C 15080/09 -
LG Hannover, Entscheidung vom 15.03.2011 - 2 S 44/10 -
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