Urteil des BGH vom 16.03.2016

Ablauf der Frist, Ex Nunc, Versicherer, Versicherungsvertrag

ECLI:DE:BGH:2016:160316UIVZR457.14.0
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 457/14
Verkündet am:
16. März 2016
Schick
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin
Mayen,
die
Richterin
Harsdorf-Gebhardt,
die
Richter
Dr. Karczewski, Lehmann und die Richterin Dr. Brockmöller im schriftli-
chen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO mit Schriftsatzfrist bis zum
19. Februar 2016
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerseite wird das Urteil der
23. Zivilkammer des Landgerichts Berlin vom 25. April
2012 aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Revision s-
verfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert wird auf
3.634,21 € festgesetzt.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerseite (Versicherungsnehmerin: im Folgenden d. VN) be-
gehrt von dem beklagten Versicherer (im Folgenden Versicherer) Rück-
zahlung geleisteter Versicherungsbeiträ ge einer Lebensversicherung.
Diese wurde aufgrund eines Antrags d. VN mit Versicherungsbe-
ginn zum 1. Dezember 1999 nach dem so genannten Policenmodell des
§ 5a VVG in der seinerzeit gültigen Fassung (im Folgenden § 5a VVG
a.F.) abgeschlossen. Mit Schreiben vom 29. Juli 2008 erklärte d. VN un-
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ter anderem den Widerspruch nach § 5a VVG a.F., hilfsweise die Künd i-
gung des Vertrages; der Versicherer zahlte den Rückkaufswert aus. Mit
Schreiben vom 10. Juni 2011 erklärte d. VN erneut unter anderem den
Widerspruch gemäß § 5a VVG a.F.
Mit der Klage verlangt d. VN Rückzahlung aller auf den Vertrag ge-
leisteten Beiträge nebst Zinsen abzüglich des bereits gezahlten Rück-
kaufswerts.
Nach Auffassung d. VN ist der Versicherungsvertrag nicht wirksam
zustande gekommen. Auch nach Ablauf der Frist des - gegen Gemein-
schaftsrecht verstoßenden - § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. habe der W i-
derspruch noch erklärt werden können.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landgericht die
hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Mit der Revisio n verfolgt
d. VN das Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Z u-
rückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Dieses hat einen Prämienrückerstattungsanspruch aus ung e-
rechtfertigter Bereicherung verneint. Es hat offengelassen, ob die Wider-
spruchsbelehrung im Policenbegleitschreiben vom 27. Januar 2000 ord-
nungsgemäß, insbesondere drucktechnisch deutlich hervorgehoben e r-
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folgte. Der Versicherungsvertrag sei jedenfalls gemäß § 5a Abs. 2 Satz 4
VVG a.F. ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie rückwirkend endgültig
wirksam geworden.
II. Die Revision ist begründet.
1. Ein - mit der Revision allein weiterverfolgter - Anspruch d. VN
auf Prämienrückzahlung nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB kann mit
der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht versagt werden.
a) Nach dem für das Revisionsverfahren maßgeblichen Sachve r-
halt ist davon auszugehen, dass der von d. VN erklärte Widerspruch
- ungeachtet des Ablaufs der in § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. normierten
Jahresfrist - rechtzeitig war und infolgedessen der zwischen den Parte i-
en geschlossene Versicherungsvertrag nicht wirksam zustande geko m-
men ist.
aa) Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob d. VN mit dem
Schreiben vom 27. Januar 2000 eine drucktechnisch ordnungsgemäße
Widerspruchsbelehrung übersandt wurde. Für das Revisionsverfahren ist
es daher zu unterstellen, dass d. VN keine drucktechnisch deutlich ge-
staltete Widerspruchsbelehrung erteilt wurde. Aus der bei den Gerichts-
akten befindlichen Reproduktion des Schreibens ist eine drucktechnische
Hervorhebung der Widerspruchsbelehrung nicht ersichtlich. Über die von
der Revisionserwiderung in Bezug genommene und von d. VN ausdrück-
lich bestrittene Behauptung des Beklagten, die Belehrung sei durch Fett-
druck im Originalschreiben hervorgehoben, wird das Berufungsgericht
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gegebenenfalls Beweis zu erheben haben (vgl. zur Beweislast: Senatsur-
teil vom 27. Januar 2016 - IV ZR 488/14, juris Rn. 12).
Soweit die Revisionserwiderung auf den Senatsbeschluss vom
30. Juli 2015 (IV ZR 63/13, juris) zur Ordnungsgemäßheit der Wider-
spruchsbelehrung verweist, ist dieser hier nicht einschlägig, weil in ei-
nem Verfahren die drucktechnische Hervorhebung der Belehrung nicht
streitig war.
Für den Fall einer nicht ordnungsgemäßen Widerspruchsbelehrung
bestimmte § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. zwar, dass das Widerspruchs-
recht ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie erlischt. Das Wider-
spruchsrecht bestand hier aber nach Ablauf der Jahresfrist und noch im
Zeitpunkt der Widerspruchserklärung fort.
Das ergibt die richtlinienkonforme Auslegung des § 5a Abs. 2
Satz 4 VVG a.F. auf der Grundlage der Vorabentscheidung des G e-
richtshofs der Europäischen Union vom 19. Dezember 2013 (VersR
2014, 225). Der Senat hat mit Urteil vom 7. Mai 2014 (IV ZR 76/11,
BGHZ 201, 101 Rn. 17-34) entschieden und im Einzelnen begründet, die
Regelung müsse richtlinienkonform teleologisch dergestalt reduziert
werden, dass sie im Anwendungsbereich der Zweiten und der Drit ten
Richtlinie Lebensversicherung keine Anwendung findet und für davon e r-
fasste Lebens- und Rentenversicherungen sowie Zusatzversicherungen
zur Lebensversicherung grundsätzlich ein Widerspruchsrecht fortbesteht,
wenn der Versicherungsnehmer - wie hier - nicht ordnungsgemäß über
das Recht zum Widerspruch belehrt worden ist und/oder die Verbra u-
cherinformation oder die Versicherungsbedingungen nicht erhalten hat.
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bb) Die hilfsweise Kündigung des Versicherungsvertrages steht
dem Widerspruch nicht entgegen (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO
Rn. 36 m.w.N.).
b) Die bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen der Europarecht s-
widrigkeit des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. sind nicht auf eine Wirkung
ab Zugang des Widerspruchs (ex nunc) zu beschränken, sondern nu r ei-
ne Rückwirkung entspricht dem Effektivitätsgebot (dazu im Einzelnen
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 42-44).
2. Der Höhe nach umfasst der Rückgewähranspruch nach § 812
Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB nicht uneingeschränkt alle gezahlten Prämien.
Vielmehr muss sich d. VN bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwick-
lung den jedenfalls bis zur Kündigung des Vertrages genossenen Vers i-
cherungsschutz anrechnen lassen. Der Wert des Versicherungsschutzes
kann unter Berücksichtigung der Prämienkalkulation bemes sen werden;
bei Lebensversicherungen kann etwa dem Risikoanteil Bedeutung z u-
kommen (Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 45 m.w.N.).
Da es auch hierzu an Feststellungen fehlt, ist der Rechtsstreit zur
neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück-
zuverweisen. Es wird den Parteien Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag
zu geben haben (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 46) und da-
bei auch die Vorgaben der Senatsurteile vom 29. Juli 2015 (IV ZR
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384/14, VersR 2015, 1101 Rn. 36 ff.; IV ZR 448/14, VersR 2015, 1104
Rn. 34 ff.) sowie vom 11. November 2015 (IV ZR 513/14, VersR 2016, 33
Rn. 31 ff.) zu beachten haben.
Mayen Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Lehmann Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
AG Berlin-Pankow/Weißensee, Entscheidung vom 21.12.2011 - 2 C 315/11 -
LG Berlin, Entscheidung vom 25.04.2012 - 23 S 7/12 -