Urteil des BGH vom 18.11.2015

Leitsatzentscheidung zu Bemessung der Invalidität, Private Unfallversicherung, Berechnung des Invaliditätsgrades, Retrospektive Beurteilung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 124/15
Verkündet am:
18. November 2015
Heinekamp
Amtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
AUB 2003 Nr. 2.1.1.1., 9.1, 9.4
Für die Erstbemessung der Invalidität kommt es hinsichtlich Grund und Höhe
grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Ablaufs der in den Allgemeinen Versiche-
rungsbedingungen vereinbarten Invaliditätseintrittsfrist an (hier: 18 Monate).
Der Erkenntnisstand im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhand-
lung ist nur maßgebend dafür, ob sich rückschauend bezogen auf den Zeitpunkt
des Ablaufs der Invaliditätseintrittsfrist (Ziff. 2.1.1.1 AUB) bessere tatsächliche
Einsichten zu den Prognosegrundlagen bezüglich des Eintritts der Invalidität
und ihres Grades eröffnen.
BGH, Urteil vom 18. November 2015 - IV ZR 124/15 - OLG Oldenburg
LG Osnabrück
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin Mayen, den Richter Felsch, die Richterin Harsdorf -Gebhardt,
den Richter Dr. Karczewski und die Richterin Dr. Bußmann auf die münd-
liche Verhandlung vom 18. November 2015
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 5. Z i-
vilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 21. Ja-
nuar 2015 aufgehoben und die Sache zur neuen Ve r-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurück-
verwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin nimmt den Beklagten - soweit noch für das Revisions-
verfahren von Belang - auf Rückzahlung geleisteter Invaliditätsentsch ä-
digung in Anspruch. Zwischen den Parteien besteht gemäß Versich e-
rungsschein vom 18. Dezember 2006 ein Vertrag über eine private Un-
fallversicherung. Diesem liegen "Allgemeine Unfallversicherungs-Be-
dingungen (AUB 2003)" zugrunde. In deren Ziff. 2.1 ist unter Invaliditäts-
leistung unter anderem geregelt:
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"2.1.1
Voraussetzungen für die Leistung:
2.1.1.1
Die versicherte Person ist durch den Unfall auf
Dauer in ihrer körperlichen oder geistigen Leis-
tungsfähigkeit beeinträchtigt (Invalidität).
Die Invalidität ist
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innerhalb von 18 Monaten nach dem Unfall
eingetreten und
-
innerhalb von 21 Monaten nach dem Unfall
von einem Arzt schriftlich festgestellt und von
Ihnen bei uns geltend gemacht worden."
Weiter heißt es in Ziff. 9 unter "Wann sind die Leistungen fällig?":
"9.1
Wir sind verpflichtet, innerhalb eines Monats
- beim Invaliditätsanspruch innerhalb von drei
Monaten - zu erklären, ob und in welcher Höhe
wir einen Anspruch anerkennen. Die Fristen b e-
ginnen mit dem Eingang folgender Unterlagen:
9.1.1
Nachweis des Unfallhergangs und der Unfallfol-
gen,
9.1.2
beim Invaliditätsanspruch zusätzlich der Nach-
weis über den Abschluss des Heilverfahrens, so-
weit es für die Bemessung der Invalidität notwen-
dig ist. …
9.4
Sie und wir sind berechtigt, den Grad der Invalid i-
tät jährlich, längstens bis zu drei Jahren nach
dem Unfall, erneut ärztlich bemessen zu lassen.
…"
Der Vertrag sieht eine Unfallinvaliditätssumme von 105.000
€ so-
wie zusätzlich "Besondere Bedingungen für die Unfallversicherung mit
progressiver Invaliditätsstaffel (225%)" (im Folgenden: Progressionssta f-
fel) vor. Diese bestimmen, dass (a) für 25 Prozentpunkte des unfallbe-
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dingten Invaliditätsgrads der Versicherer die Invaliditätsleistung aus der
im Versicherungsschein festgelegten Invaliditätssumme festlegt und dass
(b) jeder Prozentpunkt, der den unfallbedingten Invaliditätsgrad von 25%,
nicht aber 50% übersteigt, vom Versicherer bei der Berechnung der Inva-
liditätssumme mit zwei multipliziert und der Invaliditätssumme gemäß a)
hinzugerechnet wird. Beigefügt ist eine Tabelle mit nach vollen Prozen t-
punkten bemessenen Invaliditätsgraden.
Der Beklagte erlitt am 28. April 2007 einen Unfall, als er bei Repa-
raturarbeiten am Dach eines Gebäudes abstürzte, und stellte bei der
Klägerin einen Leistungsantrag. Diese leistete ausweislich ihres Schrei-
bens vom 14. Januar 2010 Vorschusszahlungen in Höhe von 86.719,50
an den Beklagten, die sie auf der Basis 1/10 Beinwert links, 1/3 Hand-
wert rechts sowie 2/7 Armwert links und damit nach einem Gesamtinvali-
ditätsgrad von 52,53% (nach Progression: 82,59%) berechnet e. Zugleich
wies sie darauf hin, den gezahlten Betrag zurückzufordern, wenn die ab-
schließende Untersuchung ergeben sollte, dass der Vorschuss zu hoch
bemessen war. Nach weiteren ärztlichen Untersuchungen, zuletzt am
14. Juni 2010, setzte die Klägerin den unfallbedingten Invaliditätsgrad
mit Schreiben vom 22. Juli 2010 auf 43,5% (nach Progression: 62,0%)
fest unter Berücksichtigung von 3/10 Armwert links und 3/10 Handwert
rechts. Ferner forderte sie den überzahlten Vorschuss in Höhe von
21.619,50
€ vom Beklagten zurück.
Das Landgericht hat ein Sachverständigengutachten zum Invalidi-
tätsgrad des Beklagten zum 28. April 2010 eingeholt. Mit Urteil vom
28. Mai 2014 hat es den Beklagten verurteilt, an die Klägerin 18.469,50
nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz
seit dem 18. März 2012 zu zahlen. Die weitergehende Klage hat es ab-
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gewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Beklagten z u-
rückgewiesen. Mit der Revision erstrebt er weiter eine Abweisung der
Klage.
Entscheidungsgründe:
Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung
und Zurückverweisung der Sache.
I. Das Berufungsgericht, dessen Urteil in ZfS 2015, 456 (m. Anm.
Rixecker) veröffentlicht ist, hat ausgeführt, zwar handele es sich entge-
gen der Auffassung des Landgerichts nicht um eine Neubemessung,
sondern um die abschließende Erstbemessung der Invalidität. Dies führe
aber nicht dazu, dass hinsichtlich des Gesundheitszustand s des Beklag-
ten auf einen anderen Zeitpunkt als den durch den gerichtlichen Sac h-
verständigen begutachteten (28. April 2010) abzustellen sei. Auch wenn
für die gerichtliche Überprüfung der Erstfeststellung der Invalidität die in
Ziff. 9.4 AUB 2003 hinsichtlich der Neubemessung festgelegte Dreija h-
resfrist für die ärztliche Bemessung der Invalidität nicht gelte, sei in ei-
nem Rechtsstreit der Ablauf dieser Dreijahresfrist der maßgebliche Zeit-
punkt für die Festlegung des Ausmaßes einer etwaigen Invalidität, wenn
der Versicherer in der Dreijahresfrist wiederholt Vorschusszahlungen e r-
bracht und sich vor Fristablauf nicht zur endgültigen Erstbemessung i n
der Lage gesehen habe. Die Regelung in Ziff. 9.4 AUB 2003 diene dem
Interesse des Versicherungsnehmers an einem alsbaldigen Erhalt einer
Invaliditätsleistung. Zugleich solle verhindert werden, dass die ab -
schließende Bemessung der Invalidität auf unabseh bare Zeit hinausge-
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schoben werde. Vor dem Hintergrund dieses Regelungszwecks sei es
nicht sachgerecht, wenn nach Ablauf der Dreijahresfrist eintretende Ä n-
derungen für die Invaliditätsprognose Berücksichtigung finden könnten,
falls überhaupt keine Erstfestsetzung innerhalb von drei Jahren erfolgt
sei. Dagegen sei es nicht interessengerecht, auf den letztlich nicht vo r-
herbestimmbaren und weit nach Ablauf der drei Jahre liegenden Zei t-
punkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen. Gleichfalls sei
nicht der Gesundheits- und Prognosezustand im Zeitpunkt des Ablaufs
der Invaliditätseintrittsfrist nach Ziff. 2.1.1.1 AUB 2003 (18 Monate)
maßgeblich. Der Eintritt der Invalidität nach dieser Bestimmung setze
keinen bestimmten Umfang oder schon einen bestimmten Grad der Inva-
lidität voraus. Es genüge, wenn es überhaupt zu einer Invalidität in i r-
gendeinem Umfang gekommen sei. Den somit maßgeblichen Gesund-
heitszustand des Beklagten zum Zeitpunkt drei Jahre nach dem Unfall
hätten das Landgericht und der Sachverständige zutreffend berücksich-
tigt.
Die Beweiswürdigung des Landgerichts sei ebenfalls nicht zu be-
anstanden. Dies gelte auch für den Umstand, dass der Sachverständige
den Beklagten vor der Abfassung des Gutachtens nicht persönlich unte r-
sucht habe. Schließlich sei auch die Berechnung des Invaliditätsgrads
nach den Progressionsbedingungen zutreffend erfolgt. Insbesondere sei
aus den Formulierungen in der Progressionsstaffel für den durchschnit t-
lichen Versicherungsnehmer klar erkennbar, dass nur volle Prozentpun k-
te, die über 25% lägen, mit dem Faktor zwei multipliziert werden sollten.
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
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1. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist im Recht der U n-
fallversicherung zwischen der Erstbemessung der Invalidität u nd ihrer
Neubemessung zu unterscheiden (grundlegend Senatsbeschluss vom
16. Januar 2008 - IV ZR 271/06, VersR 2008, 527 Rn. 10 f.; ferner Se-
natsurteile vom 1. April 2015 - IV ZR 104/13, VersR 2015, 617 Rn. 27;
vom 2. Dezember 2009 - IV ZR 181/07, VersR 2010, 243 Rn. 24; Se-
natsbeschlüsse vom 21. März 2012 - IV ZR 256/10, juris und vom
22. April 2009 - IV ZR 328/07, VersR 2009, 920 Rn. 19). Der durch-
schnittliche Versicherungsnehmer kann den vereinbarten AUB 200 3 zu-
nächst entnehmen, dass der Versicherer gemäß Ziff. 9.1 verpflichtet ist,
bei einem geltend gemachten Invaliditätsanspruch innerhalb von drei
Monaten zu erklären, ob und in welchem Umfang er den Anspruch ane r-
kennt. Die Fristen beginnen mit dem Eingang der in Ziff. 9.1 genannten
Unterlagen. Aus Ziff. 9.4 wird er sodann entnehmen, dass beide Ver-
tragsparteien berechtigt sind, den Grad der Invalidität jährlich, längstens
bis zu drei Jahren nach dem Unfall, erneut ärztlich bemessen zu lassen.
Eine derartige Neubemessung der Invalidität kommt mithin erst nach vo-
rangegangener Erstbemessung in Betracht (Senatsbeschluss vom
16. Januar 2008 aaO).
In revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise nimmt das
Berufungsgericht auf dieser Grundlage - entgegen der Auffassung der
Revisionserwiderung - an, dass es sich bei dem Schreiben der Klägerin
vom 22. Juli 2010 um die abschließende Erstbemessung der Invalidität
und nicht um eine Neubemessung handelt. Die vom Berufungsgericht
vorgenommene Auslegung der Schreiben vom 14. Januar 2010 und
22. Juli 2010 unterliegt als tatrichterliche Würdigung nur einer einge-
schränkten Kontrolle durch das Revisionsgericht und ist aus Rechtsgrün-
den nicht zu beanstanden.
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2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts findet indessen
die für die Neubemessung der Invalidität geltende Dreijahresfrist auf de-
ren Erstbemessung keine Anwendung (unten a). Es kommt - wie das Be-
rufungsgericht zutreffend sieht - für die Erstbemessung auch nicht auf
den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung oder weit e-
re in der Rechtsprechung und Literatur erwogene Anknüpfungspunkte an
(unten b). Maßgeblich ist für die Erstbemessung vielmehr auf den Zei t-
punkt des Ablaufs der vereinbarten Invaliditätseintrittsfrist - hier 18 Mo-
nate - abzustellen (unten c).
a) Zwar wird aus Ziff. 9.4 AUB 2003 ersichtlich, dass sich nach ei-
ner Erstbemessung des Invaliditätsgrades gesundheitliche Veränderu n-
gen auf die Leistungspflicht des Versicherers nur dann auswirken sollen,
wenn sie spätestens binnen drei Jahren nach dem Unfall eingetreten
sind. Das gilt aber nur im Neufestsetzungsverfahren. Ist dieses - wie
hier - mangels Erstfestsetzung nicht eröffnet, ist für die nur im Neufes t-
setzungsverfahren vorgesehene Befristung kein Raum (Senatsurteil vom
1. April 2015 - IV ZR 104/13, VersR 2015, 617 Rn. 27; Senatsbeschluss
vom 21. März 2012 - IV ZR 256/10, juris). Wäre der Versicherer bei jeder
medizinischen Unwägbarkeit berechtigt, drei Jahre schon mit der Ers t-
bemessung zuzuwarten, liefe das dem System der AUB mit der Unter-
scheidung zwischen Erst- und Neubemessung zuwider (so zu Recht OLG
Saarbrücken VersR 2014, 1246, 1248; Marlow/Tschersich, r+s 2011,
453, 455 f.). Bei identischen Fristen für Erst- und Neufestsetzung wäre
die Differenzierung zwischen beiden unverständlich und das Neufestse t-
zungsverfahren weitgehend obsolet.
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Nach der Rechtsprechung des Senats kommt es auf die Dreija h-
ressfrist an, wenn - wie hier nicht - innerhalb dieses Zeitraums eine Par-
tei die vorbehaltene Neubemessung verlangt (Senatsurteil vom 2. De-
zember 2009 - IV ZR 181/07, VersR 2010, 243 Rn. 24). Entsprechendes
gilt, wenn der Versicherungsnehmer noch vor Ablauf der dreijährigen
Neubemessungsfrist klageweise Invaliditätsansprüche geltend macht. In
einem solchen Fall gehen die Prozessbeteiligten typischerweise davon
aus, dass der Streit insgesamt in dem vor Fristablauf eingeleiteten Pr o-
zess ausgetragen werden soll einschließlich etwaiger weiterer Invalid i-
tätsfeststellungen (Senatsurteil vom 4. Mai 1994 - IV ZR 192/93, VersR
1994, 971 unter 3 c; kritisch Jacob, VersR 2014, 291, 292; ders. AUB
Unfallversicherung 2010 Ziff. 2.1 Rn. 70). Auch ein solcher Fall liegt hier
nicht vor.
b) Entscheidender Zeitpunkt für die Erstbemessung - insoweit ist
dem Berufungsgericht beizupflichten - ist auch nicht der Zeitpunkt der
letzten mündlichen Tatsachenverhandlung (so aber OLG Düsseldorf
VersR 2013, 1573, 1574).
Tritt ein Dauerschaden im Sinne von Ziff. 2.1.1.1 AUB 2003 binnen
18 Monaten oder einer anderen vereinbarten Frist (gemäß Ziff. 2.1.1.1
der Musterbedingungen AUB 2008/2010 innerhalb eines Jahres) ein, be-
sagt diese Frist zwar nicht, dass bei der nachfolgenden Bemessung des
Invaliditätsgrades ausschließlich diejenigen Umstände herangezogen
werden dürfen, die innerhalb der Invaliditätseintrittsfrist erkennbar ge-
worden sind. Vielmehr können die Vertragsparteien im Rechtsstreit um
die Erstbemessung der Invalidität des Versicherungsnehmers im Grund-
satz alle bis zur letzten mündlichen Verhandlung offenbar gewordenen
Umstände heranziehen (vgl. Senatsurteile vom 1. April 2015 - IV ZR
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104/13, VersR 2015, 617 Rn. 27; vom 22. April 2009 - IV ZR 328/07,
VersR 2009, 920 Rn. 19).
Hieraus folgt aber nicht, dass maßgebender Zeitpunkt für die Erst-
bemessung der Invalidität und der nach Ziff. 2.1.1.1 AUB 2003 anzustel-
lenden Prognose erst der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachen-
verhandlung ist (so aber OLG Düsseldorf VersR 2013, 1573 , 1574). An-
sonsten wäre die Erstbemessung der Invalidität auf einen zeitlich von
vornherein nicht feststehenden und nicht bestimmbaren Zeitpunkt h inaus
geschoben und hinge etwa vom Regulierungsverhalten des Versicherers,
der Prozessführung der Parteien sowie gerichtsinternen Abläufen ab. Auf
derartige Zufälligkeiten, die in jedem Fall unterschiedlich sein können,
kann es für den maßgeblichen Zeitpunkt der Erstfeststell ung der Invalidi-
tät nicht ankommen (vgl. OLG Hamm ZfS 2015, 453, 454; Rixecker, ZfS
2015, 458, 459; Jacob, r+s 2015, 330, 331 f.; ders. jurisPR-VersR 4/2015
Anm. 5; ders. VersR 2014, 291, 293; Kloth, jurisPR-VersR 7/2014
Anm. 3; Kloth/Tschersich, r+s 2015, 321, 324; anders Dörrenbächer,
VersR 2015, 619, 620).
Aus demselben Grund kann - von Ausnahmefällen abgesehen (vgl.
Senatsurteil vom 4. Mai 1994 - IV ZR 192/93, VersR 1994, 971 unter
3 b) - auch nicht der Zeitpunkt der vom Versicherer veranlassten ä rztli-
chen Invaliditätsfeststellung maßgeblich sein (so aber OLG Hamm ZfS
2015, 453; Kloth, Private Unfallversicherung 2. Aufl. G Rn. 145, 149;
Kloth/Tschersich, r+s 2015, 321, 324; ähnlich OLG München VersR
2015, 482, 483, das den Zeitpunkt der Erstbemessu ng durch den Versi-
cherer für maßgeblich hält). Ob und wann diese ärztliche Invaliditätsfest-
stellung erfolgt, hängt vom Zeitpunkt der Meldung des Unfallereignisses
durch den Versicherungsnehmer, der Beauftragung eines ärztlichen Gu t-
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achters durch den Versicherer und der dann erfolgten ärztlichen Fest-
stellung ab. Diese zeitlichen Zufälligkeiten können nicht maßgebend für
die Frage des Bestehens bedingungsgemäßer Invalidität sein. Soweit
schließlich teilweise vertreten wird, es sei auf den Zeitpunkt abzustellen ,
zu dem der weitergehende Abschluss des Heilverfahrens erstmals eine
zuverlässige Invaliditätsfeststellung zulasse (Jacob, VersR 2014, 291,
294; ders. Unfallversicherung AUB 2010 Ziff. 2.1 Rn. 64, 66), wird der
Zeitpunkt für die Erstbemessung der Invalidität mit demjenigen der ärztli-
chen Feststellung sowie der Fälligkeit der Invaliditätsleistung nach A b-
schluss der erforderlichen Ermittlungen vermischt.
c) Entscheidend kommt es für die Erstbemessung der Invalidität
bezüglich Grund und Höhe vielmehr auf den Zeitpunkt des Ablaufs der in
den Allgemeinen Versicherungsbedingungen vereinbarten Invaliditätsein-
trittsfrist an, hier gemäß Ziff. 2.1.1.1 AUB 2003 der Frist von 18 Monaten
nach dem Unfall (vgl. Senatsurteil vom 4. Mai 1994 - IV ZR 192/93,
VersR 1994, 971 unter 3 b; OLG Saarbrücken VersR 2014, 1246, 1248;
ders. VersR 2009, 976, 978; Grimm, Unfallversicherung 5. Aufl. Ziff. 2
AUB Rn. 10; Jannsen in Schubach/Jannsen, Private Unfallversicherung
Ziff. 9 Rn. 16; Rixecker in Römer/Langheid, VVG 4. Aufl. § 188 Rn. 2;
Marlow/Tschersich, r+s 2011, 453, 455 f.; dies. r+s 2009, 441, 451;
Brockmöller, r+s 2012, 313, 315; anders Völker/Wolf, VersR 2015, 1358,
1360).
Den Ziff. 2.1.1.1 und 9.1, 9.4 AUB 2003 mit den dort genannten
Fristen für den Eintritt der Invalidität sowie deren Neubemessung liegt
der auch für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer erkennbare
Zweck zugrunde, die abschließende Bemessung der Invalidität nicht auf
unabsehbare Zeit hinauszuschieben. Die Regelung wird den Interessen
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beider Parteien gerecht, indem zum einen sich nach dem Unfall erg e-
bende Veränderungen des Gesundheitszustandes berücksichtigt werden
können, zum anderen die abschließende Festsetzung der Invalidität i n-
nerhalb überschaubarer Zeit auf der Grundlage eines feststehenden Be-
messungszeitpunkts vorzunehmen ist.
Dem steht nicht entgegen, dass nach der neueren Senatsrecht-
sprechung die Vertragsparteien im Rechtsstreit um die Erstbemessung
der Invalidität im Grundsatz alle bis zur letzten mündlichen Verhandlung
eingetretenen Umstände heranziehen können. Dies bedeutet lediglich,
dass auf der Grundlage des Erkenntnisstandes im Zeitpunkt der letzten
mündlichen Tatsachenverhandlung rückschauend eine Betrachtung vor-
zunehmen ist, ob sich bezogen auf den Zeitpunkt des Ablaufs der ver-
einbarten Invaliditätseintrittsfrist (hier 18 Monate) bessere tatsächliche
Einsichten zu den Prognosegrundlagen bezüglich des Eintritts der Invali-
dität und ihres Grades eröffnen, nicht dagegen, ob spätere, unvorher-
sehbare gesundheitliche Entwicklungen die Prognoseentscheidung im
nachhinein verändern (vgl. Rixecker, ZfS 2015, 458, 459 f.; Kloth/
Tschersich, r+s 2015, 321, 325).
III. Der Rechtsfehler des Berufungsgerichts ist auch entsche i-
dungserheblich, da die bisherigen Feststellungen der Invalidität des B e-
klagten auf der Grundlage des dem Sachverständigen vorgegebenen
Stichtags, dem 28. April 2010 (drei Jahre nach dem Unfallzeitpunkt), be-
ruhen. Bei der neuen Begutachtung wird dem Sachverständigen demg e-
genüber vorzugeben sein, dass es darauf ankommt, ob rückschauend
auf den 28. Oktober 2008, d.h. 18 Monate nach dem Unfall, von einer I n-
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validität im Sinne von Ziff. 2.1.1.1 AUB 2003 auszugehen und mit wel-
chem Grad diese gegebenenfalls zu bemessen war.
Der Sachverständige wird im Rahmen seiner erneuten Begutac h-
tung ferner zu beurteilen haben, ob eine persönliche Untersuchung des
Beklagten erforderlich ist oder ob die vorliegenden Untersuchungserge b-
nisse Dritter eine ausreichende Beurteilungsgrundlage bilden. Hierfür ist
insbesondere maßgeblich, ob dem Sachverständigen durch eine eigene
Untersuchung eine retrospektive Beurteilung der Invali dität des Beklag-
ten zum Stichtag 28. Oktober 2008 besser möglich ist als durch eine
bloße Begutachtung von Fremdbefunden. Bei diesen ist zusätzlich in
Rechnung zu stellen, dass der Beklagte die Untersuchungsergebnisse
der Privatgutachter der Klägerin bestritten hat.
Schließlich wird das Berufungsgericht bei der nach dem Ergebnis
der sachverständigen Beurteilung erneut vorzunehmenden Berechnung
des Invaliditätsgrades nach der Progressionsstaffel zu beachten haben,
dass auch deren Auslegung nach den Verständnismöglichkeiten eines
durchschnittlichen Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche
Spezialkenntnisse zu erfolgen hat. Hierbei wird der durchschnittliche
Versicherungsnehmer dieser entnehmen können, dass nur volle Prozent-
punkte, die über 25% liegen, mit dem Faktor 2 multipliziert werden so l-
len. Dabei wird er mangels anderweitiger ausdrücklicher Klarstellung
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durch die Klägerin davon ausgehen dürfen, dass entsprechend allgemei-
nen mathematischen Grundsätzen eine Auf - oder Abrundung bis zum
nächsten vollen Invaliditätspunkt zu erfolgen hat.
Mayen Felsch Harsdorf -Gebhardt
Dr. Karczewski Dr. Bußmann
Vorinstanzen:
LG Osnabrück, Entscheidung vom 28.05.2014 - 9 O 479/12 -
OLG Oldenburg, Entscheidung vom 21.01.2015 - 5 U 103/14 -