Urteil des BGH vom 29.07.2015

Ablauf der Frist, Ex Nunc, Versicherer, Lebensversicherung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
I V Z R 1 2 3 / 1 4
Verkündet am:
29. Juli 2015
Schick
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin
Mayen,
die
Richterin
Harsdorf -Gebhardt,
die
Richter
Dr. Karczewski, Lehmann und die Richterin Dr. Brockmöller im schriftl i-
chen Verfahren, bei dem Schriftsätze bis zum 15. Juli 2015 eingereicht
werden konnten,
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerseite wird das Urteil der
5. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 27. März
2014 aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Revision s-
verfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert wird auf 761,04
€ festgesetzt.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerseite (Versicherungsnehmer: im Folgenden d. VN) b e-
gehrt von dem beklagten Versicherer (im Folgenden Versicherer) Rüc k-
zahlung geleisteter Versicherungsbeiträge einer Kapitallebensversich e-
rung.
Diese wurde aufgrund eines Antrags d. VN mit Versicherungsb e-
ginn zum 1. Dezember 2004 nach dem so genannten Policenmodell des
§ 5a VVG in der seinerzeit gültigen Fassung (im Folgenden § 5a VVG
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a.F.) abgeschlossen. Nach den Feststellungen des Berufungsger ichts
erhielt d. VN mit dem Versicherungsschein, der eine Belehrung über das
Widerspruchsrecht nach § 5a VVG a.F. enthielt, die Allgemeinen Versi-
cherungsbedingungen. Im Oktober 2006 kündigte d. VN den Vertrag und
der Versicherer zahlte den Rückkaufswert aus. Mit Schreiben vom
29. März 2011 erklärte d. VN unter anderem "Widerspruch gegen das
Zustandekommen des Vertragsverhältnisses nach den §§ 5a und 8 VVG
1994".
Mit der Klage verlangt d. VN Rückzahlung aller auf den Vertrag g e-
leisteten Beiträge nebst Zinsen abzüglich des bereits gezahlten Rück-
kaufswerts, insgesamt 761,04
€.
Nach Auffassung d. VN ist der Versicherungsvertrag nicht wirksam
zustande gekommen. Auch nach Ablauf der Frist des - gegen Gemein-
schaftsrecht verstoßenden - § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. habe der W i-
derspruch noch erklärt werden können.
Der Versicherer hat die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landgericht die
hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt
d. VN das Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zu-
rückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
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I. Dieses hat einen Prämienrückerstattungsanspruch aus ung e-
rechtfertigter Bereicherung verneint. Der wirksam geschlossene und im
Wege der Kündigung abgewickelte Versicherungsvertrag stelle einen
Rechtsgrund für die Prämienleistungen dar. Die Beweiswürdigung des
Amtsgerichts, dass die Widerspruchsbelehrung im - dem vom Versiche-
rer vorgelegten Vertragsformular entsprechenden - Versicherungsschein
drucktechnisch deutlich hervorgehoben sei, sei nicht zu beanstanden.
Auch inhaltliche Fehler der Belehrung seien nicht ersichtlich. Innerhalb
der somit in Gang gesetzten Widerspruchsfrist von 30 Tagen habe d. VN
den Widerspruch nicht erklärt. Die Regelung des Policenmodells versto-
ße nicht gegen die Zweite und Dritte Richtlinie Lebensversicherung.
II. Die Revision ist begründet.
1. Ein Anspruch auf Prämienrückzahlung aus § 812 Abs. 1 Satz 1
Alt. 1 BGB kann d. VN mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begr ün-
dung nicht versagt werden.
a) Nach dem für das Revisionsverfahren maßgeblichen Sachve r-
halt ist davon auszugehen, dass der von d. VN erklärte Widerspruch
- ungeachtet des Ablaufs der in § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. normierten
Jahresfrist - rechtzeitig war und infolgedessen der zwischen den Partei-
en geschlossene Versicherungsvertrag nicht wirksam zustande geko m-
men ist.
aa) Das Berufungsgericht hat ebenso wie das Amtsgericht keine
Feststellungen dazu getroffen, ob - was zwischen den Parteien streitig
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ist - d. VN mit dem Versicherungsschein auch eine Verbraucherinforma-
tion übersandt wurde.
bb) Wenn d. VN - was für das Revisionsverfahren zu unterstellen
ist - die Verbraucherinformation nicht erhielt und nicht ordnungsgemäß
über das Widerspruchsrecht belehrt wurde, bestand das Widerspruchs-
recht nach Ablauf der Jahresfrist und noch im Zeitpunkt der Wide r-
spruchserklärung fort.
Das ergibt die richtlinienkonforme Auslegung des § 5a Abs. 2
Satz 4 VVG a.F. auf der Grundlage der Vorabentscheidung des Ge-
richtshofs der Europäischen Union vom 19. Dezember 2013 (VersR
2014, 225). Der Senat hat mit Urteil vom 7. Mai 2014 (IV ZR 76/11,
BGHZ 201, 101 Rn. 17-34) entschieden und im Einzelnen begründet, die
Regelung müsse richtlinienkonform teleologisch dergesta lt reduziert
werden, dass sie im Anwendungsbereich der Zweiten und der Dritten
Richtlinie Lebensversicherung keine Anwendung findet und für davon e r-
fasste Lebens- und Rentenversicherungen sowie Zusatzversicherungen
zur Lebensversicherung grundsätzlich ein Widerspruchsrecht fortbesteht,
wenn d. VN - wie hier zu unterstellen - nicht ordnungsgemäß über das
Recht zum Widerspruch belehrt worden ist und/oder die Verbraucheri n-
formation oder die Versicherungsbedingungen nicht erhalten hat.
cc) Die Kündigung des Versicherungsvertrages steht dem späteren
Widerspruch nicht entgegen (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO
Rn. 36 m.w.N.). Ein Erlöschen des Widerspruchsrechts nach beiderseits
vollständiger Leistungserbringung kommt ebenfalls nicht in Betracht (vgl.
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 37 m.w.N.).
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b) Die bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen der Europarecht s-
widrigkeit des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. sind nicht auf eine Wirkung
ab Zugang des Widerspruchs (ex nunc) zu beschränken, sondern nur e i-
ne Rückwirkung entspricht dem Effektivitätsgebot (dazu im Einzelnen
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 42-44).
2. Ein möglicher Rückgewähranspruch war bei Erhebung der Klage
im November 2011 noch nicht verjährt. Zu diesem Zeitpunkt war die
maßgebliche regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB
nicht abgelaufen. Diese konnte erst mit Schluss des Jahres 2011 begi n-
nen, da d. VN erst in diesem Jahr den Widerspruch erklärte. Der nach
einem Widerspruch gemäß § 5a VVG a.F. geltend gemachte Bereiche-
rungsanspruch entstand erst mit Ausübung des Widerspruchsrechts im
Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB; jedenfalls zu diesem Zeitpunkt hatte
der Versicherungsnehmer Kenntnis von den anspruchsbegründenden
Umständen und der Person des Schuldners im Sinne von § 199 Abs. 1
Nr. 2 BGB (vgl. Senatsurteil vom 8. April 2015 - IV ZR 103/15, VersR
2015, 700 Rn. 19 ff.).
3. Der Höhe nach umfasst der Rückgewähranspruch nach § 812
Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB nicht uneingeschränkt alle gezahlten Prämien.
Vielmehr muss sich d. VN bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwick-
lung den jedenfalls bis zur Kündigung des Vertrages genossenen Vers i-
cherungsschutz anrechnen lassen. Der Wert des Versicherungsschutzes
kann unter Berücksichtigung der Prämienkalkulation bemessen werden;
bei Lebensversicherungen kann etwa dem Risikoanteil Bedeutung z u-
kommen (Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 45 m.w.N.).
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Da es auch hierzu an Feststellungen fehlt, ist der Rechtsstreit zur
neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurüc k-
zuverweisen. Es wird den Parteien Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag
zu geben haben (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 46).
Mayen Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Lehmann Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
AG Stuttgart-Bad Cannstatt, Entscheidung vom 04.06.2013 - 1 C 2980/11 -
LG Stuttgart, Entscheidung vom 27.03.2014 - 5 S 216/13 -
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