Urteil des BGH vom 29.07.2015

Ablauf der Frist, Ex Nunc, Versicherer, Versicherungsnehmer

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
I V Z R 1 1 2 / 1 4
Verkündet am:
29. Juli 2015
Schick
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin
Mayen,
die
Richterin
Harsdorf -Gebhardt,
die
Richter
Dr. Karczewski, Lehmann und die Richterin Dr. Brockmöller im schriftl i-
chen Verfahren, bei dem Schriftsätze bis zum 15. Juli 2015 eingereicht
werden konnten,
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerseite wird das Urteil des Ha n-
seatischen
Oberlandesgerichts
- 9. Zivilsenat -
vom
4. März 2014 aufgehoben und die Sache zur neuen Ver-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurück-
verwiesen.
Der Streitwert wird auf 9.239,19
€ festgesetzt.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerseite (Versicherungsnehmer: im Folgenden d. VN) b e-
gehrt von dem beklagten Versicherer (im Folgenden Versicherer) Rüc k-
zahlung geleisteter Versicherungsbeiträge einer Lebensversicherung mit
Berufsunfähigkeitszusatzversicherung.
Diese wurde aufgrund eines Antrags d. VN mit Versicherungsb e-
ginn zum 1. Dezember 1999 nach dem so genannten Policenmodell des
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§ 5a VVG in der seinerzeit gültigen Fassung (im Folgenden § 5a VVG
a.F.) abgeschlossen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts
erhielt d. VN mit dem Versicherungsschein die Allgemeinen Versich e-
rungsbedingungen (AVB) und eine Verbraucherinformation gemäß § 10a
des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG). Mit Schreiben vom 28. Mai
2013 erklärte d. VN den Widerspruch nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F.
Mit Schreiben vom 26. Juni 2013 wiederholte d. VN den Widerspruch und
erklärte vorsorglich die Kündigung. Der Versicherer akzeptierte die Kün-
digung und zahlte den Rückkaufswert aus.
Mit der Klage verlangt d. VN Rückzahlung aller auf den Vertrag ge-
leisteten Beiträge nebst Zinsen abzüglich des bereits gezahlten Rüc k-
kaufswerts, insgesamt 9.239,19
€.
Nach Auffassung d. VN ist der Versicherungsvertrag nicht wirksam
zustande gekommen. Auch nach Ablauf der Frist des - gegen Gemein-
schaftsrecht verstoßenden - § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. habe der W i-
derspruch noch erklärt werden können.
Der Versicherer hat die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberlandesgericht
die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision ve r-
folgt d. VN das Klagebegehren weiter.
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Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Z u-
rückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Dieses hat einen Prämienrückerstattungsanspruch aus ung e-
rechtfertigter Bereicherung verneint. Der Versicherungsvertrag dürfte
nicht bereits wegen Ablaufs der zweiwöchigen Widerspruchsfrist gemäß
§ 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. wirksam geworden sein. Die im Versich e-
rungsschein enthaltene Widerspruchsbelehrung sei drucktechnisch hi n-
reichend hervorgehoben. Sie könnte aber insoweit unzureichend sein,
als sie nicht ausdrücklich darauf hinweise, dass der Widerspruch schrif t-
lich zu erklären sei. Nach Sinn und Zweck der Regelung dürfte auch eine
Belehrung über die von § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F. angeordnete
Schriftform des Widerspruchs erforderlich sein. Letztlich könne dahinste-
hen, ob eine wirksame Belehrung vorliege. Der Vertrag sei gemäß § 5a
Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie rüc k-
wirkend endgültig wirksam geworden.
II. Die Revision ist begründet.
1. Der Anspruch auf Prämienrückzahlung folgt dem Grunde nach
aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB.
a) Der zwischen den Parteien geschlossene Versicherungsvertrag
schafft keinen Rechtsgrund für die Prämienzahlung. Er ist infolge des
Widerspruchs d. VN nicht wirksam zustande gekommen. Der Wider-
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spruch war - ungeachtet des Ablaufs der in § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.
normierten Jahresfrist - rechtzeitig.
aa) Das Berufungsgericht hat zwar die Frage einer ordnungsge-
mäßen Widerspruchsbelehrung offen gelassen, aber richtig geseh en,
dass die im Versicherungsschein enthaltene Belehrung bereits insofern
inhaltlich fehlerhaft ist, als sie keinen Hinweis darauf enthält, dass der
Widerspruch in Schriftform zu erheben war. Die notwendige Belehrung
über das gesetzliche Formerfordernis (vgl. Senatsurteil vom 28. Januar
2004 - IV ZR 58/03, VersR 2004, 497 unter 3 b) erfolgte entgegen der
Auffassung der Revisionserwiderung nicht dadurch, dass d. VN weiterhin
mitgeteilt wurde, zur Fristwahrung genüge die rechtzeitige "Absendung"
der Widerspruchserklärung an den Versicherer. Selbst wenn ein verstä n-
diger Versicherungsnehmer nur verkörperte Erklärungen als der Abse n-
dung zugänglich ansieht, so bleibt für ihn dennoch unklar, ob hierzu eine
Verkörperung in Textform ausreicht oder ob es nicht der tra ditionellen
Schriftform bedarf. Die unzureichende Belehrung im Versicherungs-
schein wird auch nicht durch diejenige in § 6 AVB ersetzt. Diese Klausel
weist zwar darauf hin, dass d. VN innerhalb von 14 Tagen nach Überla s-
sung der Unterlagen schriftlich widersprechen kann, ist aber drucktech-
nisch nicht hervorgehoben.
Für einen solchen Fall einer nicht ordnungsgemäßen Wider-
spruchsbelehrung bestimmte § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. zwar, dass
das Widerspruchsrecht ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie erlischt .
Das Widerspruchsrecht bestand hier aber nach Ablauf der Jahre s-
frist und noch im Zeitpunkt der Widerspruchserklärung fort.
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Das ergibt die richtlinienkonforme Auslegung des § 5a Abs. 2
Satz 4 VVG a.F. auf der Grundlage der Vorabentscheidung des G e-
richtshofs der Europäischen Union vom 19. Dezember 2013 (VersR
2014, 225). Der Senat hat mit Urteil vom 7. Mai 2014 (IV ZR 76/11,
BGHZ 201, 101 Rn. 17-34) entschieden und im Einzelnen begründet, die
Regelung müsse richtlinienkonform teleologisch dergestal t reduziert
werden, dass sie im Anwendungsbereich der Zweiten und der Dritten
Richtlinie Lebensversicherung keine Anwendung findet und für davon e r-
fasste Lebens- und Rentenversicherungen sowie Zusatzversicherungen
zur Lebensversicherung grundsätzlich ein W iderspruchsrecht fortbesteht,
wenn d. VN - wie hier - nicht ordnungsgemäß über das Recht zum W i-
derspruch belehrt worden ist und/oder die Verbraucherinformation oder
die Versicherungsbedingungen nicht erhalten hat.
bb) Die (vorsorglich erklärte) Kündigung des Versicherungsvertra-
ges steht dem Widerspruch nicht entgegen (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai
2014 aaO Rn. 36 m.w.N.). Ein Erlöschen des Widerspruchsrechts nach
beiderseits vollständiger Leistungserbringung kommt ebenfalls nicht in
Betracht (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 37 m.w.N.).
b) Die bereicherungsrechtlichen Rechtsfolgen der Europarecht s-
widrigkeit des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. sind nicht auf eine Wirkung
ab Zugang des Widerspruchs (ex nunc) zu beschränken, sondern nur e i-
ne Rückwirkung entspricht dem Effektivitätsgebot (dazu im Einzelnen
Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 42-44).
2. Der Rückgewähranspruch war bei Erhebung der Klage im Se p-
tember 2013 noch nicht verjährt. Zu diesem Zeitpunkt war die maßgebl i-
che regelmäßige dreijährige Verjährungsfrist des § 195 BGB nicht abge-
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laufen. Diese konnte erst mit Schluss des Jahres 2013 beginnen, da
d. VN erst in diesem Jahr den Widerspruch erklärte. Der nach einem W i-
derspruch gemäß § 5a VVG a.F. geltend gemachte Bereicherungsan-
spruch entstand erst mit Ausübung des Widerspruchsrechts im Sinne von
§ 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB; jedenfalls zu diesem Zeitpunkt hatte der Vers i-
cherungsnehmer Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen
und der Person des Schuldners im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB
(vgl. Senatsurteil vom 8. April 2015 - IV ZR 103/15, VersR 2015, 700
Rn. 19 ff.).
3. Der Höhe nach umfasst der Rückgewähranspruch nach § 812
Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB nicht uneingeschränkt alle gezahlten Prämien.
Vielmehr muss sich d. VN bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwick-
lung den jedenfalls bis zur Kündigung des Vertrages genossenen Vers i-
cherungsschutz anrechnen lassen. Der Wert des Versicherungsschutzes
kann unter Berücksichtigung der Prämienkalkulation bemessen werden;
bei Lebensversicherungen kann etwa dem Risikoanteil Bedeutung zu-
kommen (Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 45 m.w.N.).
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Da es hierzu an Feststellungen fehlt, ist der Rechtsstreit zur neuen
Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuve r-
weisen. Es wird den Parteien Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu
geben haben (vgl. Senatsurteil vom 7. Mai 2014 aaO Rn. 46).
Mayen Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski
Lehmann Dr. Brockmöller
Vorinstanzen:
LG Hamburg, Entscheidung vom 08.11.2013 - 332 O 307/13 -
OLG Hamburg, Entscheidung vom 04.03.2014 - 9 U 189/13 -
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