Urteil des BGH vom 23.07.2015

Leitsatzentscheidung zu Park And Ride, Glatteis, Teilweise Abweisung, Drohende Gefahr

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 86/15
Verkündet am:
23. Juli 2015
P e l l o w s k i
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BGB § 839 Fe; StrWG SH § 45 Abs. 2 Satz 1
Der Grundsatz, dass Fußgängerüberwege innerhalb geschlossener Ortschaf-
ten nur zu streuen sind, soweit sie belebt und unentbehrlich sind, ist auch bei
der Auslegung des § 45 Abs. 2 Satz 1 StrWG SH heranzuziehen.
BGH, Urteil vom 23. Juli 2015 - III ZR 86/15 - Schleswig-Holsteinisches OLG
LG Lübeck
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 23. Juli 2015 durch den Vizepräsidenten Schlick sowie die Richter
Dr. Herrmann, Seiters, Dr. Remmert und Reiter
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 11. Zivilsenats
des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig
vom 12. März 2015 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als
zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist. In diesem Umfang
wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Die Anschlussrevision der Klägerin wird zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin, eine gesetzliche Krankenkasse, verlangt aus übergegan-
genem Recht (§ 116 SGB X) von der Beklagten, einer Gemeinde in Schleswig-
Holstein, Schadensersatz und Feststellung der Ersatzpflicht für künftige über-
gangsfähige Aufwendungen wegen eines behaupteten Glatteisunfalls.
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Am 26. Dezember 2009 gegen 9.45 Uhr stürzte der bei der Klägerin ver-
sicherte M. H. bei dem Versuch, die B. straße in B. auf ei-
nem Fußgängerüberweg (Zebrastreifen) in der Nähe der T. -K. -
Straße zu überqueren. Die Klägerin hat der Beklagten eine Verletzung ihrer
Verkehrssicherungspflicht vorgeworfen, da es glatt gewesen und die Beklagte
ihrer Streupflicht nicht nachgekommen sei.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten
hat nur insoweit Erfolg gehabt, als das Oberlandesgericht von einem Mitver-
schulden des Gestürzten ausgegangen ist und dieses mit 25 % bewertet hat.
Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen. Mit der Revision verfolgt die
Beklagte ihren Antrag auf vollständige Abweisung der Klage weiter; die Klägerin
wendet sich mit ihrer Anschlussrevision gegen die teilweise Abweisung der
Klage.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision führt, soweit zum Nachteil der Beklagten erkannt
worden ist, zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverwei-
sung der Sache an das Berufungsgericht. Die Anschlussrevision hat keinen Er-
folg.
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts haftet die Beklagte für die Fol-
gen des Sturzes gemäß § 839 Abs. 1 BGB, Art. 34 Satz 1 GG.
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Die Beklagte hätte den Zebrastreifen abstreuen müssen. Soweit nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Streupflicht nur für belebte
und unentbehrliche Fußgängerüberwege bestehe, gelte dies nicht in Schleswig-
Holstein. Dies ergebe sich aus § 45 des Straßen- und Wegegesetzes. Danach
seien die Gemeinden grundsätzlich ohne Einschränkungen verpflichtet, die in-
nerhalb der geschlossenen Ortslage befindlichen Fußgängerüberwege bei
Glatteis zu bestreuen. Diese Überwege könnten wegen der Schutzbedürftigkeit
der Fußgänger auch nicht Fahrbahnen gleichgestellt werden, bei denen eine
Streupflicht nur an verkehrswichtigen und gefährlichen Stellen bestehe. Viel-
mehr sei es gerechtfertigt, Zebrastreifen wie Gehwege zu behandeln. Diese
müssten aber grundsätzlich gestreut werden, wenn ihnen ein Verkehrsbedürfnis
nicht abgesprochen werden könne, mithin ihnen nicht nur eine Freizeit-, son-
dern eine Erschließungsfunktion zukomme. Für diese Gleichstellung spreche
auch der Wortlaut des Landesgesetzes. Von der Streupflicht auszunehmen sei-
en daher nur tatsächlich entbehrliche Wege, für die ein jederzeit zu befriedigen-
des Verkehrsbedürfnis nicht bestehe. Eine solche Ausnahme liege hier aber
nicht vor. Auch wenn es sich bei der B. straße in B. nur um eine
Sackgasse handele, die - anders als die Bezeichnung vermuten lasse - tatsäch-
lich nicht zum Haupteingang des Bahnhofs führe, könne dieser Straße und dem
darüber führenden Fußgängerüberweg ein echtes, auch am Vormittag des
zweiten Weihnachtstags zu befriedigendes Verkehrsbedürfnis nicht abgespro-
chen werden. Dies ergebe sich - unabhängig davon, ob der Zebrastreifen tat-
sächlich damals belebt war oder nicht - allein schon daraus, dass die Bahnhof-
straße und die dazugehörigen Gehwege im Zentrum der Gemeinde B.
lägen sowie zahlreiche Wohngebäude und Gewerbebetriebe auch über Neben-
straßen erschließen würden. Die Straße führe zudem zu einem Park-and-Ride-
Parkplatz sowie zum Hintereingang des Bahnhofs, der überregionale Bedeu-
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tung habe. Insgesamt sei auch an einem Feiertag mit einem nicht unerhebli-
chen Fußgängerverkehr zu rechnen.
Bei der Unfallstelle habe es sich nicht um eine vereinzelte und insoweit
nicht der Streupflicht unterliegende Glättestelle gehandelt. Vielmehr stehe auf-
grund der Aussage des Zeugen H. und unter Berücksichtigung des von der
Klägerin eingeholten amtlichen Gutachtens des Deutschen Wetterdienstes fest,
dass es nicht nur auf dem Zebrastreifen und auf einzelnen Gehwegabschnitten
im Bereich der Bahnhofstraße glatt gewesen sei; es habe aufgrund der herr-
schenden Witterungsbedingungen eine allgemeine Glätte an allen noch gefro-
renen Bodenstellen vorgelegen.
Allerdings treffe den Geschädigten ein Mitverschulden. Dieser habe aus-
gesagt, es sei bereits auf dem Gehweg teilweise glatt gewesen. Diese Wahr-
nehmung hätte ihn veranlassen müssen, die weitere Wegstrecke im Interesse
seiner eigenen Sicherheit aufmerksam auf eventuelle Eisglätte zu untersuchen
und besonders vorsichtig zu gehen. Denn aus dem Vorliegen solcher Stellen
hätte er den Schluss ziehen müssen, dass der Boden teilweise noch gefroren
war und der zuvor gefallene (Niesel-)Regen auch an anderen Stellen - zum
Beispiel auf dem Überweg - zur Bildung von Glatteis geführt haben könnte. Ge-
gen diese Obliegenheit zur gesteigerten Aufmerksamkeit und Vorsicht habe er
verstoßen. Anderenfalls wäre er nicht ausgerutscht. Ein in seinen eigenen An-
gelegenheiten sorgfältiger Fußgänger hätte zur Vermeidung des Sturzes zu-
nächst einmal durch kleine tastende Schritte geprüft, ob auf dem Überweg Eis-
glätte vorhanden sei. Dadurch hätte der Sturz vermieden werden können. Die-
ses Fehlverhalten führe im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursa-
chungsbeiträge allerdings nur zu einem Haftungsanteil von 25 %. Denn die Be-
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klagte habe mit der Verletzung der ihr obliegenden Streupflicht die maßgebliche
Ursache für den Sturz gesetzt.
II.
Das Berufungsurteil hält einer rechtlichen Nachprüfung, soweit zum
Nachteil der Beklagten erkannt worden ist, nicht stand.
Revision der Beklagten
1.
Inhalt und Umfang der winterlichen Streupflicht auf öffentlichen Wegen
und Straßen unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherung richten sich nach
den Umständen des Einzelfalls. Art und Wichtigkeit des Verkehrswegs sind da-
bei ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und die Stärke des zu
erwartenden Verkehrs. Die Streupflicht besteht also nicht uneingeschränkt. Sie
steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auf die Leis-
tungsfähigkeit des Sicherungspflichtigen ankommt. Dieser hat im Rahmen und
nach Maßgabe der vorgenannten Grundsätze durch Bestreuen mit abstump-
fenden Mitteln die Gefahren zu beseitigen, die infolge winterlicher Glätte für den
Verkehrsteilnehmer bei zweckgerechter Wegebenutzung und trotz Anwendung
der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bestehen (ständige Senatsrechtspre-
chung, vgl. nur Urteile vom 5. Juli 1990 - III ZR 217/89, BGHZ 112, 74, 75 f;
vom 1. Juli 1993 - III ZR 88/92, NJW 1993, 2802 f; vom 15. Januar 1998 - III ZR
124/97, VersR 1998, 1373 und vom 9. Oktober 2003 - III ZR 8/03, NJW 2003,
3622, 3623; jeweils mwN).
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Fußgängerüberwege innerhalb geschlossener Ortschaften sind danach
nicht grundsätzlich, sondern nur zu streuen, soweit sie belebt und unentbehrlich
sind (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. nur Urteile vom 22. November 1965
- III ZR 32/65, NJW 1966, 202; vom 13. Juli 1967 - III ZR 165/66, VersR 1967,
981, 982; vom 13. März 1969 - III ZR 101/68, VersR 1969, 667 und vom
15. November 1984 - III ZR 97/83, VersR 1985, 568, 569; Beschlüsse vom
27. April 1987 - III ZR 123/86, VersR 1987, 989 und vom 8. März 1990 - III ZR
27/89, BGHR BGB § 839 Abs. 1 Satz 1 Streupflicht 3; Urteile vom 20. De-
zember 1990 - III ZR 21/90, VersR 1991, 665 f und vom 1. Juli 1993 aaO
S. 2803; Beschluss vom 20. Oktober 1994 - III ZR 60/94, VersR 1995, 721, 722;
Urteil vom 9. Oktober 2003 aaO).
2.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts gelten diese Grund-
sätze auch in Schleswig-Holstein.
a) § 45 des Straßen- und Wegegesetzes des Landes Schleswig-Holstein
in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. November 2003 (GVOBl.
Schl.-H. S. 631, 2004 S. 140) - im Folgenden StrWG - lautet:
(1) Alle innerhalb von Ortsdurchfahrten gelegenen Landes- und Kreis-
straßen sind zu reinigen. Entsprechendes gilt für Gemeindestraßen
und die sonstigen öffentlichen Straßen innerhalb der geschlossenen
Ortslage sowie für die nach Absatz 3 besonders bestimmten Straßen.
Art und Umfang der Reinigung richten sich nach den örtlichen Erfor-
dernissen der öffentlichen Sicherheit.
(2)
Zur Reinigung gehört auch … bei Glatteis das Bestreuen der Gehwe-
ge, Radwege, gemeinsamen (kombinierten) Geh- und Radwege,
Fußgängerüberwege und der besonders gefährlichen Fahrbahnstel-
len, bei denen die Gefahr auch bei Anwendung der im Verkehr erfor-
derlichen Sorgfalt nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar ist.
(3)
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Der Wortlaut des § 45 Abs. 2 StrWG könnte die Annahme nahelegen,
dass für die dort besonders aufgeführten Geh- beziehungsweise Radwege und
Fußgängerüberwege die Streupflicht keinerlei Einschränkungen unterliegt. An-
dererseits bestimmt § 45 Abs. 1 Satz 3 StrWG, dass sich Art und Umfang der
polizeilichen Reinigung, zu der auch das Streuen gehört, nach den örtlichen
Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit richtet.
b) Betrachtet man die Entstehungsgeschichte der Norm, wird deutlich,
dass eine unbeschränkte Streupflicht nicht dem Willen des Landesgesetzge-
bers entspricht.
aa) Seit jeher ist die Verkehrssicherungspflicht für Straßen und Wege
von den Umständen des Einzelfalls abhängig gemacht und insoweit eine allge-
meine Verpflichtung zum Streuen bei Glatteis abgelehnt beziehungsweise das
Bestehen einer Streupflicht unter Berücksichtigung der Verkehrsbedeutung und
des verkehrsrechtlichen Bedürfnisses eingeschränkt worden (vgl. bereits RG,
JW 1900, 164 f Nr. 38; RGZ 54, 53, 59; JW 1904, 470 Nr. 8; WarnRspr
1907/1908 Nr. 47; JW 1933, 836 f; siehe auch Planck, BGB, 3. Aufl. 1907,
§ 823 Anm. II 2 c S. 976 zu c sowie - zur polizeimäßigen Straßenreinigung -
PrOVGE 47, 409, 411; 68, 318, 322 ff, wobei die aus der polizeimäßigen Reini-
gung fließende Räum- und Streupflicht, soweit sie auch der Verkehrssicherung
dient, ihrem rechtlichen Gehalt und Umfang nach von der aus der allgemeinen
Verkehrssicherungspflicht abgeleiteten Pflicht zur Sorge für die Sicherheit im
Straßenverkehr nicht verschieden ist; vgl. nur Senat, Urteil vom 5. Juli 1990
- III ZR 217/89, BGHZ 112, 74, 79 mwN). Hiervon ausgehend hat das Reichs-
gericht (JW 1913, 859, 860 f Nr. 5; siehe auch JW 1913, 91 Nr. 6) ausgeführt,
dass nur dort, wo ein besonderes Bedürfnis es gebiete, unter Umständen von
einer Gemeinde verlangt werden könne, dass auch der Fahrdamm (Straße)
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strecken- und stellenweise, zum Beispiel an belebten und unerlässlichen Über-
gängen, bestreut werde.
bb) Auch nach dem Preußischen Gesetz über die Reinigung öffentlicher
Wege vom 1. Juli 1912 (GS S. 187), dessen Gültigkeit in Schleswig-Holstein
erst durch § 66 Nr. 10 des Straßen- und Wegegesetzes des Landes Schleswig-
Holstein vom 22. Juni 1962 (GVOBl. Schl-H S. 237) aufgehoben worden ist,
bestand keine uneingeschränkte Streupflicht. Vielmehr richteten sich nach § 2
die Anforderungen "hinsichtlich der Art, des Maßes und der räumlichen Aus-
dehnung der polizeilichen Reinigung" nach dem "unter Berücksichtigung der
örtlichen Verhältnisse Notwendigen". Insoweit sollte die Frage des verkehrs-
rechtlichen Bedürfnisses unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse
geprüft werden. Eine Erweiterung der Streupflicht gegenüber der bisherigen
Rechtslage war ausdrücklich nicht beabsichtigt (vgl. Entwurf eines Gesetzes
über die Reinigung öffentlicher Wege, Sammlung der Drucksachen des Preußi-
schen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912/1913,
Drucks. Nr. 51, S. 1403 f, 1406, 1407, 1408). Den Verkehrsverhältnissen kam
insoweit für die Feststellung einer Streupflicht weiterhin eine wesentliche Be-
deutung zu (vgl. auch Hecht/Hellich, Gesetz über die Reinigung öffentlicher
Wege, 3. Aufl. 1954, S. 47 f).
cc) Auch der Senat hat in seiner (frühen) Rechtsprechung zum Preußi-
schen Gesetz über die Reinigung öffentlicher Wege die winterliche Streupflicht
für öffentliche Straßen und Wege nicht uneingeschränkt bejaht, sondern unter
anderem die Verkehrsbedeutung einschränkend berücksichtigt (vgl. nur Urteile
vom 5. Dezember 1955 - III ZR 83/54, VkBl 1956, 249 ff; vom 30. September
1957 - III ZR 207/56, VersR 1957, 785 und vom 1. Oktober 1959 - III ZR 59/58,
NJW 1960, 41 f).
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dd) Dass der Landesgesetzgeber in Schleswig-Holstein den Inhalt der
Streupflicht ihrem sachlichen Gehalt und Umfang nach in Abweichung von die-
ser jahrzehntelangen Rechtslage regeln wollte, ist nicht ersichtlich. Bereits § 45
StrWG 1962 enthielt eine dem § 45 StrWG 2003 im Wesentlichen entsprechen-
de Regelung. In der Begründung zum Gesetzentwurf vom 5. September 1961
(LT-Drucks. Nr. 466, S. 65 f), in der ausdrücklich auf das Senatsurteil vom
5. Dezember 1955 (aaO) Bezug genommen worden ist, wurde darauf hingewie-
sen, dass die Reinigungspflicht ihrem Umfang nach je nach Lage und Benut-
zungsart der Straße verschieden sei. In der ersten Lesung des Gesetzentwurfs
im Landtag am 26. September 1961 stellte der zuständige Ressortminister fest:
"Im Siebenten Teil wird den bisher geltenden Bestimmungen des Preußi-
schen Wegereinigungsgesetzes eine neuzeitliche Gestalt gegeben. In
den praktischen Auswirkungen soll auf diesem Gebiete für die Gemein-
den und für den Bürger alles beim alten bleiben" (Stenographischer Be-
richt der 66. Sitzung, S. 2288).
Soweit durch § 45 StrWG 2003 die Verkehrssicherungspflicht auch auf
Rad- beziehungsweise kombinierte Geh- und Radwege erweitert worden ist,
war hiermit keine darüber hinausgehende Änderung der bisherigen Rechtslage
beabsichtigt (vgl. LT-Drucks. 15/1906 S. 16). Insgesamt lässt sich den Geset-
zesmaterialien nicht ansatzweise entnehmen, dass der Landesgesetzgeber die
hergebrachten Grundsätze zur Streupflicht ändern wollte. Der Winterdienst ist
somit auch in Schleswig-Holstein von der Verkehrsbedeutung des jeweiligen
Straßen- oder Wegebereichs abhängig (vgl. auch Hoefer in Wilke/Gröller/
Behnsen/Hoefer/Steinweg, StrWG, Loseblattsammlung, § 45 (Stand: 3.2011)
Rn. 16).
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3.
Fußgängerüberwege sind damit bei Glatteis nur unter der einschränken-
den Voraussetzung zu streuen, dass sie belebt und unentbehrlich sind (vgl.
auch Staudinger/Hager, BGB, Neubearbeitung 2009, § 823 Rn. E 137;
MüKoBGB/Papier, 6. Aufl., § 839 Rn. 201; Wellner in Geigel, Der Haftpflichtpro-
zess, 27. Aufl., Kap. 14 Rn. 147, 159; OLG Hamm VersR 1978, 950, 951; OLG
Brandenburg OLGR 2002, 335, 336 und Urteil vom 30. September 2014 - 2 U
7/14, juris Rn. 39; OLG München, Urteil vom 26. April 2007 - 1 U 5742/06, juris
Rn. 31 ff; OLG Koblenz MDR 2012, 1226). Der Senat folgt nicht der Auffassung
des Berufungsgerichts, für Überwege müssten die gleichen Grundsätze wie für
Gehwege gelten. Eine solche Annahme würde bewirken, dass auf zahlreichen
nicht oder nachrangig zu bestreuenden Straßen vorrangig Überwege für Fuß-
gänger abgestreut werden müssten. Dies hätte zur Folge, dass die Gemeinden
bei der Durchführung ihrer Streupläne, ohne die ein geordneter Winterdienst
unmöglich ist, unzumutbar behindert würden (vgl. nur Senat, Urteil vom
20. Dezember 1990 - III ZR 21/90, VersR 1991, 665, 666). Was die Frage der
Zumutbarkeit für die Kommunen anbetrifft, unterscheidet sich die Situation auf
Gehwegen und Fußgängerüberwegen im Übrigen dadurch, dass durch Satzung
(hier: aufgrund § 45 Abs. 3 Nr. 2 StrWG) die Streupflicht für Gehwege innerhalb
geschlossener Ortschaften üblicherweise auf die Anlieger übertragen wird.
Feststellungen dazu, ob der streitgegenständliche Überweg belebt und
unentbehrlich gewesen ist, hat das Berufungsgericht nicht getroffen. Dies ist
nachzuholen. Hierbei wird das Berufungsgericht insbesondere zu berücksichti-
gen haben, dass der Sturz am Morgen des zweiten Weihnachtstages 2009 er-
folgt ist. Insoweit ist die Verkehrsbedeutung der Straße beziehungsweise des
Überwegs an normalen Werktagen nicht ausschlaggebend (vgl. Senatsbe-
schluss vom 26. März 1992 - III ZR 71/91, BGHR BGB § 839 Abs. 1 Satz 1
- Streupflicht 8).
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4.
Zu Unrecht rügt die Beklagte, für sie habe zur Unfallzeit kein Anlass für
die Annahme bestanden, der Zebrastreifen könne vereist sein. Der im Beru-
fungsurteil erwähnte Regen könne angesichts der damals herrschenden positi-
ven Lufttemperaturen nicht zu Glatteis geführt haben. Mangels gegenteiliger
tatrichterlicher Feststellungen sei im Übrigen zu unterstellen, dass der Regen
erst nach 9.45 Uhr eingesetzt habe.
Das Berufungsgericht ist unter Heranziehung des amtlichen Gutachtens
des Deutschen Wetterdienstes rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass am
Morgen des 26. Dezember 2009 Glatteisbildungen - trotz der positiven Lufttem-
peraturen - aufgrund der Niederschläge und der vorangegangenen Dauerfrost-
periode eine ernsthaft drohende Gefahr darstellten und sich diese Gefahr auch
realisiert hat. Entgegen der Meinung der Beklagten beziehen sich diese Fest-
stellungen auf den Unfallzeitpunkt. Im Berufungsurteil ist insoweit ausgeführt,
dass ausweislich des Gutachtens zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen
Sturzes in B. Wetterverhältnisse geherrscht hätten, die das Auftreten von
Eisglätte sehr wahrscheinlich gemacht hätten. In dem insoweit in Bezug ge-
nommenen Gutachten heißt es ausdrücklich, dass am Unfalltag Niederschläge
gefallen seien, die vorerst etwa zum Unfallzeitpunkt geendet hätten. Für die
Annahme der Beklagten, es habe erst nach dem Sturz geregnet, so dass
- wenn überhaupt - erst danach Glatteis hätte auftreten können, bestehen daher
keine Anhaltspunkte.
5.
Soweit das Bestehen einer Streupflicht eine allgemeine Glättebildung
und nicht nur das Vorhandensein ganz vereinzelter Glättestellen voraussetzt
(vgl. nur Senat, Beschlüsse vom 21. Januar 1982 - III ZR 80/81, VersR 1982,
299 f und vom 26. Februar 2009 - III ZR 225/08, NJW 2009, 3302 Rn. 4 f; BGH,
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Urteil vom 12. Juni 2012 - VI ZR 138/11, NJW 2012, 2727 Rn. 10), hat das Be-
rufungsgericht in tatrichterlicher Würdigung - unter Berücksichtigung der Aus-
sage des Zeugen H. und des Gutachtens des Deutschen Wetterdienstes -
rechtsfehlerfrei festgestellt, dass der Geschädigte bei allgemeiner Glätte ge-
stürzt ist. Letzteres setzt nicht voraus, dass es im ganzen Gemeindegebiet glatt
ist.
Anschlussrevision der Klägerin
Die Anschlussrevision der Klägerin ist zulässig, hat in der Sache jedoch
- auch bei unterstellter Streupflichtverletzung der Beklagten - keinen Erfolg.
1.
Die Klägerin hält die tatrichterlichen Feststellungen für widersprüchlich
und denkgesetzwidrig. Im angefochtenen Urteil werde zunächst ausgeführt,
dass der Zeuge H. das Glatteis auf dem Zebrastreifen nicht habe erkennen
können und müssen. Wenn das Berufungsgericht trotzdem ein Mitverschulden
annehme, da die auf dem Gehweg vorhandenen Glättestellen Anlass zu gestei-
gerter Aufmerksamkeit geboten hätten, sei dies nicht nachvollziehbar. Auch sei
in diesem Zusammenhang die Aussage des Zeugen unberücksichtigt geblie-
ben, wonach er zwar auf dem Gehweg die Glätte erkannt habe, dagegen das
Glatteis auf dem Überweg für ihn nicht zu erkennen gewesen sei.
Diese Rügen sind unbegründet. Zwar ist das Berufungsgericht davon
ausgegangen, dass der Geschädigte die Glätte auf dem Überweg nicht hätte
erkennen können und müssen. Denn eine allgemeine Glätte sei nur schwer von
einer lediglich feuchten Fahrbahnoberfläche zu unterscheiden. Bei Glatteis sei
zudem nicht ohne weiteres zu erkennen, ob der erforderliche Winterdienst
durchgeführt worden sei, da oft nur kaum sichtbare Salzlösung versprüht wer-
de. Nach der Aussage des Zeugen, auf die das Berufungsgericht bei seiner
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weiteren Würdigung maßgeblich abgestellt hat, war es auf dem Gehweg an den
Stellen, an denen die Anwohner gestreut hatten, nicht mehr glatt; anders war
die Situation dagegen dort, wo dies nicht geschehen war. Wenn das Beru-
fungsgericht hieraus abgeleitet hat, der Zeuge habe sich besonders vorsichtig
verhalten müssen, ist diese tatrichterliche Wertung, zumal der Zeuge dem Zu-
stand des Überwegs gerade nicht hat entnehmen können, ob auch dort nicht
gestreut worden ist, nicht denkgesetzwidrig und revisionsrechtlich nicht zu be-
anstanden.
Das Berufungsgericht hat insoweit auch nicht die Sorgfaltsanforderungen
für Fußgänger überspannt. Angesichts der Wetterlage und der vorhandenen
Glätte musste der Zeuge beim Betreten des Überwegs besonders vorsichtig
sein. Entgegen der Auffassung der Anschlussrevision durfte er nicht blindlings
darauf vertrauen, dass die Beklagte den Zebrastreifen bereits abgestreut hatte,
zumal ihm bereits auf dem Gehweg deutlich geworden war, dass dort nur teil-
weise gestreut worden war. Er durfte deshalb nicht ohne besondere Vorsicht
den Überweg betreten.
2.
Zu Unrecht rügt die Klägerin die Feststellungen zur Kausalität des Mit-
verschuldens als rechtsfehlerhaft. Auch insoweit unterliegt die tatrichterliche
Würdigung nur der eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfung. Das Be-
rufungsgericht ist davon ausgegangen, dass der Zeuge, wenn er zur Vermei-
dung eines Sturzes zunächst durch kleine tastende Schritte geprüft hätte, ob
auf dem Überweg Eisglätte vorhanden war, den Sturz, der sich nach seinen
Angaben "gleich beim ersten oder zweiten Schritt" auf dem Zebrastreifen ereig-
net hat, hätte vermeiden können. Eine solche Wertung ist möglich und wird
nicht dadurch in revisionsrechtlich erheblicher Weise in Frage gestellt, dass sie
auch anders hätte vorgenommen werden können.
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3.
Soweit das Berufungsgericht den Mithaftungsanteil des Geschädigten mit
25 % bewertet hat, ist dies nicht zu beanstanden. Die Abwägung der Verant-
wortlichkeiten zwischen den Parteien eines Schadensersatzanspruchs im Rah-
men der Prüfung des Mitverschuldens unterliegt gemäß § 287 ZPO einem wei-
ten tatrichterlichen Entscheidungsspielraum. Die Prüfung des Revisionsgerichts
ist darauf beschränkt, ob alle in Betracht kommenden Umstände richtig und
vollständig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen
zugrunde gelegt worden sind, hierbei insbesondere nicht gegen Denkgesetze
und Erfahrungssätze verstoßen wurde (vgl. nur Senat, Urteil vom 20. Juni 2013
- III ZR 326/12, VersR 2013, 1322, 1323 mwN). Rechtsfehler des Tatrichters
liegen insoweit nicht vor. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der Ge-
schädigte für seinen Schaden auch nicht allein verantwortlich. Eine vollständige
Überbürdung des Schadens kommt im Rahmen von § 254 BGB nur ausnahms-
weise in Betracht (vgl. nur Senat, aaO Rn. 19 mwN). Insoweit hat das Beru-
fungsgericht zutreffend berücksichtigt, dass - bei unterstellter Streupflichtverlet-
zung - die Beklagte die maßgebliche Erstursache für das Schadensereignis ge-
setzt hat und es deshalb gerechtfertigt ist, ihr auch den wesentlichen Verant-
wortungsanteil zuzuweisen (siehe auch Senat aaO Rn. 22 ff).
III.
Das angefochtene Urteil ist, soweit zum Nachteil der Beklagten erkannt
worden ist, aufzuheben und das Verfahren, da die Sache noch nicht zur Ent-
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scheidung reif ist (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 ZPO), in diesem Umfang an das
Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Schlick
Herrmann
Seiters
Remmert
Reiter
Vorinstanzen:
LG Lübeck, Entscheidung vom 09.05.2014 - 5 O 145/13 -
OLG Schleswig, Entscheidung vom 12.03.2015 - 11 U 70/14 -