Urteil des BGH vom 23.04.2015

Leitsatzentscheidung zu Ausschluss der Öffentlichkeit, Prinzip der Öffentlichkeit, Umlegung, Öffentliche Urkunde

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 195/14
Verkündet am:
23. April 2015
K i e f e r
Justizangestellter
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in der Baulandsache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
BauGB § 46 Abs. 1, § 221 Abs. 2; BadWürttGemO § 35 Abs. 1, § 38 Abs. 1
a) Im Rahmen der Anfechtung des Umlegungsbeschlusses ist die Rechtmäßig-
keit der Anordnung der Umlegung zu überprüfen (Fortführung der Senatsur-
teile vom 12. März 1987 - III ZR 29/86, BGHZ 100, 148, 149 und 155 sowie
vom 2. April 1981 - III ZR 131/79, NJW 1981, 2124, 2125).
b) Zum Öffentlichkeitserfordernis nach § 35 Abs. 1 GemO BW bei einem Be-
schluss des Gemeinderats über die Anordnung einer Umlegung nach § 46
BauGB.
c) Zur Amtsermittlung über den Inhalt eines (nichtöffentlichen) Teils einer Ge-
meinderatssitzung.
d) Die gemäß § 38 Abs. 1 GemO BW zu fertigende Niederschrift über die Ge-
meinderatssitzung ist eine öffentliche Urkunde, bezüglich deren Inhalt der
Beweis der Unrichtigkeit zulässig ist (§§ 415, 418 Abs. 1 und 2 ZPO; An-
schluss an VGH Baden-Württemberg NVwZ-RR 1989, 153). Eine negative
Beweiskraft dergestalt, dass in der Niederschrift nicht aufgenommene Vor-
gänge als nicht stattgefunden zu behandeln sind, ist ihr nicht beizumessen.
BGH, Urteil vom 23. April 2015 - III ZR 195/14 - OLG Stuttgart
LG Stuttgart
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 23. April 2015 durch den Vizepräsidenten Schlick und die Richter Wöst-
mann, Tombrink, Dr. Remmert und Reiter
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beteiligten zu 5 und 6 wird das Urteil des
102. Senats für Baulandsachen des Oberlandesgerichts Stuttgart
vom 3. Juni 2014 aufgehoben und die Sache zur neuen Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisions-
rechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Beteiligten zu 1 bis 4 sind Eigentümer von teilweise bebauten Grund-
stücken im Bereich des Umlegungsgebiets "M. Ö. " in G.
. Diese Grundstücke liegen im Bereich des - mehrfach geänderten - Be-
bauungsplans "M. ", der im Mai 1983 in Kraft getreten ist.
In der öffentlichen Sitzung am 13. März 2012 beriet der Gemeinderat der
Beteiligten zu 5 über den Beschluss zur Anordnung der Umlegung für ein Teil-
gebiet des Bebauungsplans "M. Ö. ". Im Protokoll ist vermerkt,
dass der Bürgermeister der Beteiligten zu 5 um 20.45 Uhr für fünf Minuten die
Nichtöffentlichkeit herstellte. Danach wurde die Öffentlichkeit wiederhergestellt,
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weiter beraten und der Beschluss über die Anordnung der Umlegung gefasst.
Aufgrund dieses Anordnungsbeschlusses erließ der Beteiligte zu 6 am 30. April
2012 den Umlegungsbeschluss.
Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrem Antrag auf gerichtli-
che Entscheidung.
Dieser Antrag ist vom Landgericht, das die von den Beteiligten zu 1 bis 4
erhobenen Einwände gegen die Erforderlichkeit einer Umlegung für nicht
durchgreifend erachtet hatte, zurückgewiesen worden.
Die Beteiligten zu 1 bis 4 haben gegen das Urteil des Landgerichts Beru-
fung eingelegt. Nachdem die Beteiligte zu 5 auf entsprechenden richterlichen
Hinweis das Protokoll über die Sitzung des Gemeinderats vom 13. Februar
2012 vorgelegt hatte, haben die Beteiligten zu 1 bis 4 weiter die Unwirksamkeit
der Anordnung der Umlegung wegen Verletzung des Grundsatzes der Öffent-
lichkeit der Sitzungen des Gemeinderats geltend gemacht. Das Berufungsge-
richt hat das landgerichtliche Urteil abgeändert und den Umlegungsbeschluss
der Beteiligten zu 6 vom 30. April 2012 aufgehoben.
Hiergegen wenden sich die Beteiligten zu 5 und 6 mit der vom Beru-
fungsgericht zugelassenen Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg.
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I.
Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Der Umlegungsbeschluss sei
rechtswidrig, da der Beschluss über die Anordnung der Umlegung, der inzident
zu überprüfen sei, seinerseits rechtswidrig sei. Dieser habe nach § 35 GemO
BW in öffentlicher Sitzung des Gemeinderats beraten und beschlossen werden
müssen. Ausweislich des Sitzungsprotokolls habe der Bürgermeister von
20 Uhr 45 bis 20 Uhr 50 die Nichtöffentlichkeit der Sitzung hergestellt, ohne
dass der Anlass für diese Verfahrensweise in der Niederschrift festgehalten
worden sei. Der Ausschluss der Öffentlichkeit sei nur zulässig, wenn persönli-
che oder wirtschaftliche Verhältnisse zur Sprache kämen, an deren Kenntnis-
nahme schlechthin kein berechtigtes Interesse der Allgemeinheit bestehen kön-
ne und deren Bekanntgabe dem Einzelnen nachteilig sein könne. Dies müsse
im Einzelfall geprüft werden. Die Beteiligte zu 5 habe den Ausschluss der Öf-
fentlichkeit in der Gemeinderatssitzung damit begründet, dass die Namen der
einzelnen Eigentümer der Bestandsgrundstücke im geplanten Umlegungsgebiet
hätten genannt werden sollen. Die bloße Nennung der Namen der Eigentümer
verletze jedoch nicht deren rechtlich geschützten oder sonstigen schutzwürdi-
gen Interessen. Es sei auch nicht ersichtlich, inwieweit die Bekanntgabe dieser
Namen dem Einzelnen nachteilig sein könne. Gleiches gelte, wenn über die
Folgen der Umlegung für die einzelnen Bestandsgebäude und Grundstücke
habe diskutiert werden sollen. Dabei kämen noch keine persönlichen oder wirt-
schaftlichen Verhältnisse zur Sprache, bezüglich deren Kenntnisnahme kein
berechtigtes Interesse der Allgemeinheit bestehen könne. Die Auswirkungen
einer Umlegung seien grundstücksbezogen und nicht personenbezogen.
Zuletzt habe der Bürgermeister der Beteiligten zu 5 erklärt, Anlass für
das Herstellen der Nichtöffentlichkeit seien die Fragen zweier Gemeinderats-
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mitglieder gewesen, ob die Umlegung den einen oder anderen Eigentümer von
Bestandsgrundstücken "kaputt mache". Wenn über die persönlichen und wirt-
schaftlichen Verhältnisse einzelner Personen gesprochen werden solle, recht-
fertige dies allerdings den Ausschluss der Öffentlichkeit der Verhandlung nach
§ 35 GemO BW, weil an den persönlichen wirtschaftlichen Verhältnissen ein-
zelner Eigentümer kein berechtigtes Informationsinteresse der Allgemeinheit
bestehe. Auf das substantiierte Bestreiten eines solchen Anlasses für das Her-
stellen der Nichtöffentlichkeit könne jedoch nicht mit einer hinreichenden Si-
cherheit festgestellt werden, dass der Gemeinderat über die persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse einzelner Eigentümer des künftigen Umlegungs-
gebiets habe sprechen wollen. Zwar komme der Sitzungsniederschrift nach
§ 38 Abs. 1 GemO BW, die einen solchen Vorgang nicht ausweise, keine nega-
tive Beweiskraft in dem Sinne zu, dass dort nicht aufgenommene Geschehnisse
nicht stattgefunden hätten. Vielmehr könne der Anlass für das Herstellen der
Nichtöffentlichkeit auch durch außerhalb der Sitzungsniederschrift liegende
Umstände und Beweismittel festgestellt werden. Die Feststellung, dass ein aus-
reichender Anlass für das Herstellen der Nichtöffentlichkeit der Verhandlung
des Gemeinderats zur Anordnung der Umlegung vorgelegen habe, lasse sich
jedoch vorliegend nicht treffen: Die Beteiligten zu 1 bis 4, die teilweise an der
öffentlichen Sitzung des Gemeinderats teilgenommen hätten, hätten erklärt, vor
der Herstellung der Nichtöffentlichkeit sei keine Frage zu den wirtschaftlichen
Verhältnissen einzelner Beteiligter gestellt worden. Es sei auch kaum nachvoll-
ziehbar, dass in den fünf Minuten, in denen die Nichtöffentlichkeit der Sitzung
hergestellt gewesen sei, über die wirtschaftlichen Verhältnisse einzelner Eigen-
tümer von Bestandsgrundstücken gesprochen worden wäre. Auf ein entspre-
chendes Gesprächsthema ließen die protokollierten Erklärungen nach der Wie-
derherstellung der Öffentlichkeit der Verhandlung des Gemeinderats nicht aus-
reichend rückschließen. Die Beteiligte zu 5 habe bis zum Schluss der mündli-
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chen Verhandlung die Namen derjenigen Gemeinderatsmitglieder nicht nennen
können, die Fragen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen einzelner Grund-
stückseigentümer gestellt haben sollen.
Eine Veranlassung, nach § 221 Abs. 2 BauGB von Amts wegen eine
Beweisaufnahme durchzuführen, bestehe nicht. Wichtige öffentliche Interessen
veranlassten hier eine Untersuchung von Amts wegen nicht. Die Beteiligte zu 5
könne bei einem entsprechenden politischen Willen des Gemeinderats ohne
gravierende Nachteile durch einen damit einhergehenden Zeitablauf einen ver-
fahrensfehlerfreien Anordnungsbeschluss noch herbeiführen. Der Verstoß ge-
gen das Gebot der Öffentlichkeit der Gemeinderatssitzung begründe regelmä-
ßig auch dann, wenn die Öffentlichkeit - wie hier - nur zeitweilig ausgeschlossen
worden sei, eine schwerwiegende Verfahrensrechtsverletzung. Die Rechtswid-
rigkeit des Gemeinderatsbeschlusses führe auch zur Rechtswidrigkeit des an-
gegriffenen Umlegungsbeschlusses. Die Voraussetzungen des § 46 LVwVfG
BW, der auf die Umlegungsanordnung, die kein Verwaltungsakt sei, nur ent-
sprechende Anwendung finde, seien hier nicht erfüllt; denn die Entscheidung
des Gemeinderats darüber, ob eine Umlegung angeordnet werden solle, stelle
eine Entscheidung mit Beurteilungsspielraum dar und hätte auch im verneinen-
den Sinne ergehen können. Es sei daher nicht offensichtlich, dass die Verlet-
zung des Prinzips der Öffentlichkeit der Gemeinderatssitzung die Entscheidung
in der Sache nicht beeinflusst habe.
II.
Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Mit der vom Beru-
fungsgericht angeführten Begründung kann derzeit die Unwirksamkeit des An-
ordnungsbeschlusses für die Umlegung nach § 46 Abs. 1 BauGB durch den
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Gemeinderat der Beteiligten zu 5 und des daran anschließenden Umlegungs-
beschlusses der Beteiligten zu 6 nicht festgestellt werden.
1.
Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass der angegriffene
Umlegungsbeschluss nur dann rechtmäßig ist, wenn die Voraussetzungen für
eine Umlegung vorliegen. Hierzu gehört auch die Beschlussfassung über die
Anordnung der Umlegung nach § 46 Abs. 1 BauGB. Ein solcher Beschluss ist
kein Verwaltungsakt und nach der Rechtsprechung des Senats nur zusammen
mit dem Umlegungsbeschluss anfechtbar und kann nur so zur gerichtlichen
Nachprüfung gestellt werden. Im Rahmen der Anfechtung des Umlegungsbe-
schlusses ist dann die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Umlegung zu über-
prüfen (vgl. Senatsurteile vom 12. März 1987 - III ZR 29/86, BGHZ 100, 148,
149 und 155 sowie vom 2. April 1981 - III ZR 131/79, NJW 1981, 2124, 2125).
2.
Im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts kann derzeit nicht
festgestellt werden, dass der Beschluss des Gemeinderats der Beteiligten zu 5
vom 13. März 2012 über die Anordnung der Umlegung wegen Verstoßes gegen
das Prinzip der Öffentlichkeit unwirksam ist.
Allerdings ist dem Berufungsgericht im Ausgangspunkt darin zuzustim-
men, dass Anordnungs- und Umlegungsbeschluss gleichermaßen rechtswidrig
sind, wenn bei der Beschlussfassung des Gemeinderats die Vorschriften der
Gemeindeordnung über die Öffentlichkeit der Gemeinderatssitzungen verletzt
worden sind. Nicht zu folgen ist der Argumentation der Revision, der Anord-
nungsbeschluss beinhalte nur einen "internen Auftrag" des Gemeinderats an
die Umlegungsstelle zur Durchführung der Umlegung, so dass es für die Recht-
mäßigkeit des Umlegungsbeschlusses nur auf die materiellen Voraussetzungen
für eine Umlegung nach § 46 Abs. 1 BauGB ankomme: Mangels Außenwirkung
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blieben Verfahrensmängel bei der Beschlussfassung des Gemeinderats "intern"
und seien daher nicht geeignet, den später gefassten Umlegungsbeschluss
gleichsam zu "infizieren". Der Anordnungsbeschluss des Gemeinderats kann,
auch wenn es sich um einen internen Vorgang ohne Verwaltungsaktqualität
handelt, grundsätzlich nur dann Grundlage eines rechtmäßigen Umlegungsbe-
schlusses sein, wenn die allgemein für Gemeinderatsbeschlüsse geltenden
(Verfahrens-)Regelungen der jeweils anwendbaren Gemeindeordnung einge-
halten sind (vgl. Kirchberg in Redeker/Uechtritz, AHB-Verwaltungsverfahren,
2. Aufl., Teil 2 C Rn. 29; s. auch Senatsurteil vom 11. Mai 1967 - III ZR 141/66,
NJW 1967, 1662 zu der, soweit ersichtlich allein strittigen, Frage der Befangen-
heit von Ratsmitgliedern, denen im Umlegungsgebiet gelegene Grundstücke
gehören, s. dazu Kirchberg aaO mwN).
a) Gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 GemO BW sind die Sitzungen des Ge-
meinderats öffentlich. Nichtöffentlich darf nur verhandelt werden, wenn es das
öffentliche Wohl oder berechtigte Interessen Einzelner erfordern; über Gegen-
stände, bei denen diese Voraussetzungen vorliegen, muss nichtöffentlich ver-
handelt werden. Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Gemeinderatssitzung ge-
hört zu den wesentlichen Verfahrensbestimmungen des Gemeinderechts. Er
hat die Funktion, dem Gemeindebürger Einblick in die Tätigkeit der Vertre-
tungskörperschaften und ihrer einzelnen Mitglieder zu ermöglichen und dadurch
eine auf eigener Kenntnis und Beurteilung beruhende Grundlage für eine sach-
gerechte Kritik sowie eine Willensbildung zu schaffen, den Gemeinderat der
allgemeinen Kontrolle der Öffentlichkeit zu unterziehen und dazu beizutragen,
der unzulässigen Einwirkung persönlicher Beziehungen, Einflüsse und Interes-
sen auf die Beschlussfassung des Gemeinderats vorzubeugen. Der Verstoß
gegen das Gebot der Öffentlichkeit der Gemeinderatssitzung begründet regel-
mäßig eine schwerwiegende Verfahrensrechtsverletzung und führt daher zur
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Rechtswidrigkeit eines Gemeinderatsbeschlusses (vgl. VGH Baden-Württem-
berg, VBlBW 2013, 269, 270 mwN). Diese Grundsätze gelten auch, wenn der
zu überprüfende Beschluss zwar in öffentlicher Sitzung gefasst wurde, jedoch
ohne Beratung erfolgt ist und die Sachdiskussion in einer nichtöffentlichen vo-
rangegangenen Sitzung durchgeführt wurde. Eine solche Verfahrensweise wi-
derspricht dem Sinn und Zweck des Gebots der Öffentlichkeit von Gemeinde-
ratssitzungen (vgl. VGH Baden-Württemberg, NVwZ-RR 2001, 462, 463). Kei-
nen Verstoß gegen das Prinzip der Öffentlichkeit der Gemeinderatssitzung stellt
es jedoch dar, wenn nur eine Einzelfrage in nichtöffentlicher Sitzung behandelt
wird, die der Information der Gemeinderäte dient und nicht die Rede davon sein
kann, dass die nichtöffentliche Vorberatung die in öffentlicher Sitzung zu füh-
rende Sach- und Abwägungsdiskussion ersetzt, vorweggenommen oder in
sonstiger Weise der öffentlichen Wahrnehmung entzogen hat (vgl. VGH Baden-
Württemberg VBlBW 2011, 393, 394).
Nichtöffentlich muss verhandelt werden, wenn es das öffentliche Wohl
oder berechtigte Interessen Einzelner erfordern. Berechtigte Interessen Einzel-
ner im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 2 GemO BW können rechtlich geschützte
oder sonstige schutzwürdige Interessen sein. Sie erfordern den Ausschluss der
Öffentlichkeit in der Gemeinderatssitzung, wenn im Verlauf einer öffentlichen
Sitzung persönliche oder wirtschaftliche Verhältnisse zur Sprache kommen
können, an deren Kenntnis schlechthin kein berechtigtes Interesse der Allge-
meinheit bestehen kann und deren Bekanntgabe dem Einzelnen nachteilig sein
könnte (VGH Baden-Württemberg, NVwZ 1992, 196, 197 f mwN; vgl. auch
BVerwG, NVwZ 1995, 897). Zutreffend geht auch das Berufungsgericht davon
aus, dass im Falle einer fehlenden generellen Regelung - wie hier - die Voraus-
setzungen im Einzelfall festgestellt werden müssen.
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b) Diesen Anforderungen genügt die Begründung des Berufungsgerichts
nicht.
aa) Die gemäß § 38 Abs. 1 GemO BW zu fertigende Niederschrift über
die Gemeinderatssitzung ist eine öffentliche Urkunde, bezüglich deren Inhalt
der Beweis der Unrichtigkeit zulässig ist (§§ 415, 418 Abs. 1 und 2 ZPO; VGH
Baden-Württemberg NVwZ-RR 1989, 153). Eine negative Beweiskraft derge-
stalt, dass in der Niederschrift nicht aufgenommene Vorgänge als nicht stattge-
funden zu behandeln sind, hat das Berufungsgericht der Niederschrift zu Recht
bb) Nicht tragfähig ist jedoch die Annahme des Berufungsgerichts, die
Nennung der Namen der Eigentümer von Grundstücken innerhalb eines beab-
sichtigten Umlegungsgebiets in öffentlicher Gemeinderatssitzung verletze keine
rechtlich geschützten oder sonstigen Interessen dieser Personen.
Wie das Berufungsgericht zu Recht annimmt, sind die Auswirkungen ei-
ner Umlegung grundstücksbezogen und nicht personenbezogen. Die Namen
der Eigentümer sind für die Voraussetzungen und die Zweckmäßigkeit einer
Umlegung zunächst ohne Belang. Dementsprechend ist auch für die Öffentlich-
keit regelmäßig kein anerkennenswertes Interesse ersichtlich, die Namen der
Eigentümer der in einem Umlegungsgebiet liegenden Grundstücke zu erfahren.
Gründe dafür, dass dies im konkreten Einzelfall anders zu bewerten ist, sind
vom Berufungsgericht weder festgestellt noch von den Beteiligten vorgetragen
worden.
Auf der anderen Seite haben die Eigentümer ein durch Art. 2 Abs. 1
i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und dem daraus abgeleiteten Recht auf informationelle
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Selbstbestimmung geschütztes Recht, darüber zu entscheiden, wer die Infor-
mation über ihre Eigentümerstellung erhält. Deshalb macht das Gesetz die Ein-
sichtnahme in das Grundbuch, mit der der Rechtsverkehr typischerweise diesen
Umstand in Erfahrung bringt, davon abhängig, dass ein berechtigtes Interesse
dafür besteht (§ 12 Abs. 1 Satz 1 GBO; siehe dazu BGH, Beschluss vom
17. August 2011 - V ZB 47/11, NJW-RR 2011, 1651 Rn. 7; KG, RNotZ 2004,
464).Die Bekanntgabe dieser Tatsache in öffentlicher Sitzung des Gemeinde-
cc) Der rechtlichen Nachprüfung nicht stand hält auch die tatrichterliche
Würdigung des Berufungsgerichts, es könne nicht festgestellt werden, dass der
Gemeinderat in dem nichtöffentlichen Teil der Sitzung über die persönlichen
wirtschaftlichen Verhältnisse einzelner Eigentümer des künftigen Umlegungs-
gebiets gesprochen habe. Insoweit geht das Berufungsgericht zutreffend davon
aus, dass der Sitzungsniederschrift - die sich hierzu nicht verhält - keine negati-
ve Beweiskraft zukommt, vielmehr die tatsächlichen Umstände auch aufgrund
anderer Beweismittel festgestellt werden können. Auch die Einbeziehung der
Einlassung der Antragsteller, die an der öffentlichen Sitzung teilgenommen ha-
ben, ist geboten. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese nur Auskunft
geben können über die in öffentlicher Sitzung gefallenen Äußerungen, die in-
soweit allenfalls ein Indiz dafür darstellen, was tatsächlich in der nichtöffentli-
chen Sitzung beraten worden ist.
Soweit das Berufungsgericht entscheidend darauf abgestellt hat, dass
die Beteiligte zu 5 bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung den Namen
derjenigen Gemeinderatsmitglieder nicht habe nennen können, die Fragen zu
den wirtschaftlichen Verhältnissen einzelner Grundstückseigentümer gestellt
haben sollen, hält dies einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Für die Über-
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prüfung der Frage, was tatsächlich Gegenstand der Beratung in der nichtöffent-
lichen Sitzung war, kommt es nicht entscheidend darauf an, dass die konkreten
Namen der Ratsmitglieder genannt werden, die bestimmte Fragen (in öffentli-
cher Sitzung) gestellt haben. Die Teilnehmer der (nichtöffentlichen) Sitzung, die
über diesen Gesichtspunkt (nach Entbindung von ihrer Schweigepflicht durch
den Bürgermeister, vgl. § 35 Abs. 2 Satz 1 GemO) Auskunft geben können,
sind in der Niederschrift der Sitzung vermerkt. Insoweit hat sich das Berufungs-
gericht zu Unrecht allein auf die Würdigung der Einlassung des Bürgermeisters
der Beteiligten zu 5 beschränkt. Nach § 221 Abs. 2 BauGB war das Berufungs-
gericht gehalten, von Amts wegen die Aufnahme von Beweisen anzuordnen
und gegebenenfalls auch solche Tatsachen zu berücksichtigen, die von den
Beteiligten nicht vorgebracht worden sind. Nach der Rechtsprechung des Se-
nats vermag diese Vorschrift eine gerichtliche "Befugnis" im Sinne einer Ver-
pflichtung des Gerichts zur Anwendung des Untersuchungsgrundsatzes zu be-
gründen. Die (begrenzte) Geltung des Untersuchungsgrundsatzes im bauland-
gerichtlichen Verfahren ist im Zusammenhang zu sehen mit den - auch im ver-
waltungsgerichtlichen Verfahren, das vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht
wird - zunehmend anerkannten Mitwirkungspflichten der Verfahrensbeteiligten.
Dementsprechend findet die Pflicht der Tatsachengerichte zur Aufklärung des
Sachverhalts ihre Grenze dort, wo das Klagevorbringen keinen tatsächlichen
Anlass zur weiteren Sachaufklärung bietet (vgl. Senatsurteil vom 16. März 2006
- III ZR 129/05, NJW 2006, 1729, 1731). Die Verpflichtung des Gerichts zur
Anwendung des Untersuchungsgrundsatzes besteht dann, wenn sonst eine
Verletzung der Wahrheitspflicht zu befürchten wäre und wenn wichtige öffentli-
che Interessen im Spiel sind. Die Vorschrift macht es dem Gericht zur Pflicht,
die von einem der Beteiligten in das gerichtliche Verfahren eingeführte Behaup-
tung, soweit sie rechtserheblich ist, von Amts wegen zu klären (vgl. Senatsurtei-
le vom 4. November 2004 - III ZR 372/03, BGHZ 161, 38, 45; und vom 7. Fe-
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bruar 1974 - III ZR 13/73, NJW 1974, 947). Hiervon ausgehend hätte das Beru-
fungsgericht Gemeinderatsmitglieder dazu befragen müssen, was Gegenstand
der Beratung des nichtöffentlichen Teiles der hier in Rede stehenden Gemein-
deratssitzung gewesen ist. Die Begründung des Berufungsgerichts, es bedürfe
deshalb keiner Beweisaufnahme von Amts wegen, weil das gesamte - wie die
Ausführungen des Landgerichts gezeigt haben, außerordentlich umstrittene und
von einigen der beteiligten Grundstückseigentümern vehement angegriffene -
Umlegungsverfahren erneut in Gang gesetzt werden könne, ist nicht tragfähig.
dd) Unzureichend ist die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts
auch insoweit, als es keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob selbst bei ei-
nem angenommenen nicht hinreichenden Grund für die Herstellung der Nichtöf-
fentlichkeit gleichwohl ein zur Nichtigkeit des Beschlusses führender Verfah-
rensfehler ausscheidet. Da die Beratung der Beschlussvorlage über die Anord-
nung der Umlegung und die Abstimmung in öffentlicher Sitzung durchgeführt
wurden, und es hier nur eine kurze Unterbrechung dieser öffentlichen Beratung
gegeben hat durch einen nichtöffentlichen Teil der Sitzung, hätte ausgehend
vom Inhalt der nichtöffentlichen Beratung geprüft werden müssen, ob diese die
Sach- und Abwägungsdiskussion ersetzen, vorwegnehmen oder in sonstiger
Weise der öffentlichen Wahrnehmung entziehen sollte. Nur in einem solchen
Fall bestünde bei der gegebenen Sachlage Anlass, einen zur Rechtswidrigkeit
führenden wesentlichen Verfahrensfehler bei der Fassung des Beschlusses
anzunehmen (vgl. VGH Baden-Württemberg VBlBW 2011, 393, 394).
3.
Aufgrund der Feststellungen des Berufungsgerichts kann derzeit nicht
angenommen werden, dass der Beschluss über die Anordnung der Umlegung
durch den Gemeinderat der Beteiligten zu 5 wegen Verstoßes gegen § 35
Abs. 1 Satz 1 GemO BW bei der Beratung der Beschlussfassung in der Ge-
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meinderatssitzung vom 13. März 2012 unwirksam ist. Das Berufungsurteil ist
daher aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an
das Berufungsgericht zurückzuverweisen, da die Sache selbst nicht entschei-
dungsreif ist (§ 221 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1
ZPO).
Schlick
Wöstmann
Tombrink
Remmert
Reiter
Vorinstanzen:
LG Stuttgart, Entscheidung vom 19.07.2013 - 50 O 10/12 Baul. -
OLG Stuttgart, Entscheidung vom 03.06.2014 - 102 U 2/13 -