Urteil des BGH vom 12.02.2015

Leitsatzentscheidung zu Gerichtshof für Menschenrechte, Beweis des Gegenteils, Verfügung, Gerichtsverfahren, Entschädigung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 141/14
Verkündet am:
12. Februar 2015
B o t t
Justizamtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
GVG § 198 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1; ZPO § 148
a) Zur unangemessenen Verfahrensdauer im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1
GVG, wenn das der Entschädigungsklage zugrunde liegende Ausgangsver-
fahren zu einer Vielzahl von gleich oder ähnlich gelagerten ("Massen-
")Verfahren gehört (hier: mehr als 4.000 Kläger), das deshalb einstweilen
zurückgestellt wird, weil das Ausgangsgericht "Musterverfahren" oder "Pi-
lotverfahren", die die ganze "Fallbreite" ausschöpfen, auswählt und vorran-
gig betreibt. Auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 148 ZPO kommt
es dabei nicht an.
b) Zur Frage, inwieweit einer Partei, gegen die eine Vielzahl von Verfahren
betrieben wird, ein fühlbarer immaterieller Nachteil dadurch entsteht, dass
einzelne dieser Verfahren nicht in angemessener Zeit erledigt
werden (Widerlegung der Vermutung gemäß § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG).
BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 - III ZR 141/14 - OLG Braunschweig
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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 12. Februar 2015 durch den Vizepräsidenten Schlick und die Richter
Dr. Herrmann, Wöstmann, Seiters und Reiter
für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des
Oberlandesgerichts Braunschweig vom 11. April 2014 wird zu-
rückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsrechtszugs.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger begehrt von dem beklagten Land Entschädigung für immate-
rielle Nachteile wegen überlanger Dauer von zehn Schadensersatzprozessen,
die gegen ihn bei dem Landgericht G. parallel geführt werden und Teil
eines Gesamtkomplexes von mehr als 4.000 Schadensersatzklagen sind, die
gegen den Kläger seit 2007 erhoben wurden.
Die der Entschädigungsklage zugrunde liegenden Ausgangsverfahren
betreffen jeweils Schadensersatzansprüche, die von Kapitalanlegern gegen den
Kläger geltend gemacht werden. Dieser wird als Verantwortlicher ("Konzep-
tant") des Unternehmensverbundes der sogenannten "G. Gruppe" per-
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sönlich in Anspruch genommen. In den Jahren 2007 und 2008 sind beim Land-
gericht G. insgesamt 2.441 Klagen gegen den Kläger eingereicht wor-
den. Ab dem Jahr 2009 kamen sukzessive nochmals etwa 1.600 Klagen hinzu.
Die streitgegenständlichen Ausgangsverfahren sind unerledigt und noch in der
ersten Instanz anhängig. Dies gilt nahezu ausschließlich auch für die übrigen
Prozesse. Sämtliche Verfahren wurden zunächst von der 2. Zivilkammer des
Landgerichts G. bearbeitet. Zu Beginn des Jahres 2012 übernahm die
neu eingerichtete 14. Zivilkammer einen Teil der Prozesse, darunter auch sämt-
liche Ausgangsverfahren.
Bei Zustellung der Klagen in den Ausgangsverfahren am 17. und 18. Ja-
nuar 2008 waren bereits 386 Schadensersatzklagen mit einer Gesamtforde-
rungshöhe von 10.777.752,53
€ rechtshängig. Zu diesem Zeitpunkt verfügte der
Kläger, der sich zudem Steuerforderungen in Höhe von mehr als 10 Millionen
Euro ausgesetzt sah, über kein nennenswertes Vermögen. Seine Vermögens-
verhältnisse haben sich auch in der Folgezeit nicht verbessert.
Im April 2008 bestimmte die damals allein zuständige 2. Zivilkammer in
acht exemplarisch ausgewählten Verfahren, die sich sowohl gegen den (jetzi-
gen) Kläger als auch gegen einen weiteren Verantwortlichen der "G.
Gruppe", den Zeugen S. , richteten, Termin zur mündlichen Verhandlung
auf den 7. August 2008. Zugleich traf sie die Entscheidung, (unter anderem) die
streitgegenständlichen Ausgangsverfahren vorübergehend nicht weiter zu be-
treiben.
Nach Durchführung des Verhandlungstermins wies die Kammer am
8. August 2008 in allen acht vorgezogenen Verfahren die Schadensersatzkla-
gen gegen den (jetzigen) Kläger durch (nicht rechtskräftige) Versäumnisurteile
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ab, da die klagenden Anleger keine Anträge gestellt hatten. Soweit sich die
Klagen gegen den Zeugen S. richteten, ergingen lediglich in zwei Fällen
klageabweisende Versäumnisurteile. Im Übrigen wies die Kammer die Klagen
am 21. August 2008 durch Teilurteile, die nach Lage der Akten ergingen, ab. Da
sämtliche Teilurteile mit der Berufung angefochten wurden, wartete die Kammer
sodann den Ausgang der Berufungsverfahren ab. Sie versprach sich hiervon
Erkenntnisse auch für die gegen den Kläger gerichteten Ansprüche, weil dem
Kläger und dem Zeugen S. in allen Verfahren und im Wesentlichen gleich-
lautend vorgeworfen wurde, als Verantwortliche eine falsche Emissionskosten-
quote in den Prospekten ausgewiesen und gegen Investitionsgrundsätze ver-
stoßen zu haben, so dass das gesamte Geschäftsmodell von vornherein zum
Scheitern verurteilt gewesen sei.
Nachdem das Oberlandesgericht B. in einem der Berufungs-
verfahren am 20. August 2009 einen Hinweis nach § 522 Abs. 2 ZPO erteilt hat-
te, nahm dies der Vorsitzende der 2. Zivilkammer des Landgerichts G.
zum Anlass, mit Verfügung vom 11. November 2009 den Parteien der streitge-
genständlichen Ausgangsverfahren seinerseits Hinweise "zur Vorbereitung wei-
terer durchzuführender mündlicher Verhandlungen und auch im Hinblick auf
weitere Schriftsätze" zu geben. In dieser Verfügung nahm die Kammer auf die
im Berufungsrechtszug anhängigen "Pilotverfahren" Bezug und machte sich die
Auffassung des Oberlandesgerichts zu Eigen. Unter anderem wies sie auf die
Unschlüssigkeit der Klage hin.
Im September 2011 beantragte der Kläger in sämtlichen Verfahren die
Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Mit Schriftsätzen vom 20. Dezember 2011
wurden sämtliche Klagen dahingehend erweitert, die Ersatzpflicht der Beklagten
auch für zukünftig noch entstehende Schäden festzustellen.
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Mit Beschlüssen vom 2. und 9. Februar 2012 wies die nunmehr zustän-
dige 14. Zivilkammer des Landgerichts G. die Prozesskostenhilfegesu-
che zurück. Auf die sofortige Beschwerde des Klägers bewilligte das Oberlan-
desgericht B. in sämtlichen Verfahren Prozesskostenhilfe, wobei in
den streitgegenständlichen Ausgangsverfahren die Entscheidungen am 15. und
21. Mai 2012 sowie am 8. und 11. Juni 2012 ergingen.
Der von der 14. Zivilkammer zunächst auf den 29. Februar 2012 be-
stimmte Verhandlungstermin wurde nach Eingang von Ablehnungsgesuchen
der klagenden Anleger aufgehoben. Am 11. Juli 2012 beziehungsweise 15. Au-
gust 2012 wurde sodann in sämtlichen Ausgangsverfahren mündlich verhan-
delt. Die Kammer ging nunmehr von der Schlüssigkeit des Klagevorbringens
aus und erließ Auflagen- und Beweisbeschlüsse. Unter anderem ordnete sie die
Einholung eines Sachverständigengutachtens an.
Der Kläger, der im April 2009 einen Herzinfarkt erlitten hatte, hatte in den
Ausgangsverfahren bereits am 8. Dezember 2011, wenige Tage nach Inkrafttre-
ten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, Verzögerungsrügen erhoben. Schon zu-
vor hatte er sich in 1.415 Verfahren mit einer Individualbeschwerde an den Eu-
ropäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt, die der Gerichtshof im
Jahr 2012 im Hinblick auf die nunmehr bestehende Rechtschutzmöglichkeit
nach §§ 198 ff GVG für unzulässig erklärte.
Der Kläger hat geltend gemacht, die zehn Ausgangsverfahren seien in
einem Fall um 47 Monate (1. September 2008 bis 1. August 2012) und im Übri-
gen um 48 Monate (1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2012) verzögert. Die Ver-
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zögerungen beträfen nicht nur den Zeitraum, in dem allein die 2. Zivilkammer
zuständig gewesen sei, sondern hätten sich auch nach dem 1. Januar 2012
unter der Zuständigkeit der 14. Zivilkammer fortgesetzt. Das Gericht hätte keine
Beweisaufnahme anordnen dürfen. Die dem Kläger zustehende Entschädigung
für immaterielle Nachteile betrage auf der Basis des gesetzlichen Regelsatzes
insgesamt 47.900 €. Außerdem sei die Unangemessenheit der Verfahrensdau-
er auszusprechen.
Das Oberlandesgericht hat die Klage abgewiesen.
Mit seiner vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt der
Kläger sein erstinstanzliches Zahlungsbegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision hat in der Sache keinen Erfolg.
I.
Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im We-
sentlichen ausgeführt:
Hinsichtlich der Zeiträume von September 2008 bis Februar 2010 und
von September 2011 bis Dezember 2012 sei die Klage schon deshalb abzuwei-
sen, weil es an der Anspruchsvoraussetzung einer unangemessenen Verfah-
rensdauer (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG) fehle.
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Die Justizverwaltung sei zwar grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen
Ressourcen zur Verfügung zu stellen, und könne sich im Regelfall nicht auf feh-
lendes Personal berufen. Im Streitfall spreche jedoch einiges dafür, dem be-
klagten Land eine bis Ende 2009 währende (erhebliche) Übergangsfrist zuzubil-
ligen, um der in den Jahren 2007 und 2008 beim Landgericht G. einge-
gangenen "Klageflut" zu begegnen. Es hätten außergewöhnliche Umstände
vorgelegen, weil der schnellen personellen Aufstockung eines kleinen Gerichts
wie des Landgerichts G. Grenzen gesetzt seien. Bis zum Jahresende
2009 sei die Verfahrensdauer zudem schon deshalb nicht unangemessen, weil
das Landgericht G. unechte Musterverfahren geführt habe. Die streitge-
genständlichen Ausgangsverfahren hätten zurückgestellt werden dürfen. Dass
die Musterverfahren den Zeugen S. betroffen hätten, sei nicht relevant. Es
hätten sich aus der maßgebenden ex-ante-Sicht Rechtsfragen gestellt, die auch
den Kläger betroffen hätten. Nach der Hinweisverfügung des Vorsitzenden der
2. Zivilkammer vom 11. November 2009 habe dem Landgericht wegen der Viel-
zahl der Verfahren noch eine Bearbeitungszeit bis Ende Februar 2010 zur Ver-
fügung gestanden.
In den folgenden achtzehn Monaten von Anfang März 2010 bis Ende
August 2011 hätten die Ausgangsverfahren eine unangemessene Dauer auf-
gewiesen. Die 2. Zivilkammer habe nicht untätig bleiben dürfen. Der Umstand,
dass sie in 229 weiteren Schadensersatzprozessen Verhandlungstermine be-
stimmt habe, die sie nach Ablehnungsgesuchen der klagenden Anleger wieder
aufgehoben habe, ändere daran nichts. Hypothetische Kausalverläufe seien bei
Ansprüchen nach § 198 GVG unbeachtlich. Ob und gegebenenfalls welche
Maßnahmen die Schadensersatzkläger in den Ausgangsverfahren ergriffen hät-
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ten, wenn das Gericht die Verfahren gefördert hätte, sei offen. Ob es dadurch
zu Verzögerungen gekommen wäre, sei unklar.
Ab September 2011 sei die Verfahrensdauer nicht mehr unangemessen.
In dieser Zeit seien die in sämtlichen Verfahren eingegangenen Prozesskosten-
hilfegesuche des Klägers bearbeitet worden, was angesichts der Vielzahl der zu
bewältigenden Anträge einen erheblichen logistischen Aufwand erfordert habe.
Durch die Erweiterung der Klagen im Dezember 2011 habe sich der Bearbei-
tungsaufwand zusätzlich erhöht. Über die Beschwerden des Klägers im Pro-
zesskostenhilfeverfahren habe das Oberlandesgericht im Mai und Juni 2012
zügig entschieden. Es entspreche weiterhin straffer Verhandlungsführung, dass
die (nunmehr zuständige) 14. Zivilkammer nach der Entscheidung des Ober-
landesgerichts über die Prozesskostenhilfebewilligung am 11. Juli 2012 und
15. August 2012 mündlich verhandelt habe. Eine Entschädigung nach § 198
GVG scheide auch für den Zeitraum nach Durchführung der Verhandlungster-
mine aus. Im Entschädigungsprozess sei nicht zu untersuchen, ob die Einho-
lung eines Sachverständigengutachtens zu Recht angeordnet worden sei.
Soweit die Verfahrensdauer in dem Zeitraum von März 2010 bis August
2011 als unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG anzusehen
sei, scheide ein Entschädigungsanspruch aus, weil dem Kläger hierdurch in den
zehn streitgegenständlichen Ausgangsverfahren kein immaterieller Nachteil
entstanden sei. Die Tatsachenvermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG sei wi-
derlegt, weil der überschuldete Kläger zu dem Zeitpunkt, als die Klagen in den
Ausgangsverfahren zugestellt worden seien, bereits Schadensersatzforderun-
gen von Anlegern im Gesamtumfang von 10.777.752,53 € und Steuerforderun-
gen des Landes B. in einer vergleichbaren Größenordnung ausgesetzt ge-
wesen sei. Die Geltendmachung weiterer Schadensersatzforderungen habe zu
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keiner messbaren Mehrbelastung des Klägers geführt, zumal bei einer Vielzahl
gleichgerichteter Schadensersatzforderungen aus demselben Komplex mit je-
dem Folgeverfahren die Belastung degressiv abnehme. In den vorliegenden
Ausgangsverfahren erschöpfe sich der Nachteil in der bloßen Ungewissheit
über den Verfahrensausgang, ohne dass weitere Nachteile erkennbar seien. Es
fehle somit eine entschädigungspflichtige immaterielle Beeinträchtigung. Der im
April 2009 erlittene Herzinfarkt des Klägers müsse außer Betracht bleiben, weil
zu diesem Zeitpunkt überhaupt keine Verfahrensverzögerung vorgelegen habe.
II.
Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung stand. Das Oberlan-
desgericht hat einen Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG
zu Recht abgelehnt.
1.
Die Entschädigungsregelung bei überlanger Verfahrensdauer (§§ 198 ff
GVG) findet nach der Übergangsvorschrift des Art. 23 Satz 1 Halbsatz 1 des
Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und straf-
rechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) vom 24. November 2011 (BGBl. I
S. 2302) auf den Streitfall Anwendung. Danach gilt dieses Gesetz auch für Ver-
fahren, die bei seinem Inkrafttreten am 3. Dezember 2011 (gemäß Art. 24
ÜGRG) anhängig, aber noch nicht abgeschlossen waren Diese Voraussetzun-
gen sind hier erfüllt. Die seit Januar 2008 rechtshängigen Ausgangsverfahren
sind weiterhin unerledigt.
2.
Die Verfahrensführung in den Ausgangsverfahren war sowohl in dem
Zeitraum von September 2008 bis Februar 2010 als auch in dem Zeitraum von
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September 2011 bis Dezember 2012 sachlich gerechtfertigt. Die Auffassung
des Oberlandesgerichts, dass insoweit keine im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1
GVG unangemessene Verfahrensdauer vorliegt, ist somit zutreffend.
a) Der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG setzt die
unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens als Tatbestandsmerkmal vo-
raus. Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen ist, richtet sich
nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und
Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten
und Dritter. Diese in § 198 Absatz 1 Satz 2 GVG explizit genannten Kriterien
sind zwar besonders bedeutsam, jedoch nur beispielhaft ("insbesondere") und
keinesfalls abschließend zu verstehen. Ein weiteres wichtiges Kriterium zur Be-
urteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist die Verfahrensführung
durch das Gericht, die zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Umstän-
den in Bezug zu setzen ist (Senatsurteil vom 14. November 2013 - III ZR
376/12, BGHZ 199, 87 Rn. 25, 32).
Bei der Würdigung der Verfahrensführung durch das Gericht muss stets
beachtet werden, dass die Verfahrensbeschleunigung keinen Selbstzweck dar-
stellt und gegenläufige Rechtsgüter gleichfalls in den Blick zu nehmen sind. Da-
zu zählen insbesondere die aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG)
folgende Gewährleistung der inhaltlichen Richtigkeit von Entscheidungen sowie
die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) und des
gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
Dem Gericht muss in jedem Fall eine ausreichende Vorbereitungs- und
Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen, die der Schwierigkeit und Komplexität
der Rechtssache angemessen Rechnung trägt. Abgesehen von zwingenden
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gesetzlichen Vorgaben besteht ein Ermessen des verantwortlichen Richters
hinsichtlich der Verfahrensgestaltung. Zur Ausübung seiner verfahrensgestal-
tenden Befugnisse ist ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zuzubilligen. Dem-
entsprechend wird die Verfahrensführung des Richters im nachfolgenden Ent-
schädigungsprozess nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbar-
keit überprüft. Letztere darf nur verneint werden, wenn bei voller Würdigung
auch der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege das richterliche Verhal-
ten nicht mehr verständlich ist. Da der Rechtsuchende keinen Anspruch auf
eine optimale Verfahrensförderung hat, begründen eine vertretbare Rechtsauf-
fassung des Gerichts oder eine nach der jeweiligen Prozessordnung vertretbare
Verfahrensleitung auch dann keinen Entschädigungsanspruch, wenn sie zu ei-
ner Verlängerung des Gerichtsverfahrens geführt haben (grundlegend Senats-
urteile vom 14. November 2013 aaO Rn. 32 f; vom 5. Dezember 2013 - III ZR
73/13, BGHZ 199, 190 Rn. 43 ff und vom 23. Januar 2014 - III ZR 37/13, BGHZ
200, 20 Rn. 39).
b) Die Verfahrensdauer ist unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1
Satz 1 GVG, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1
Satz 2 GVG ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der
Verfahrensführung beachtende Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen
Umstände des Einzelfalls ("Gesamtabwägung") ergibt, dass die Verpflichtung
des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu brin-
gen, verletzt ist (Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 19
Abs. 4 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK). Die Verfahrensdauer muss insgesamt eine
Grenze überschreiten, die sich auch unter Berücksichtigung gegenläufiger
rechtlicher Interessen für den Betroffenen als sachlich nicht mehr gerechtfertigt
oder unverhältnismäßig darstellt (ausführlich Senatsurteile vom 14. November
2013 aaO Rn. 28 ff; vom 5. Dezember 2013 aaO Rn. 36 ff und vom 23. Januar
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2014 aaO Rn. 35 ff jeweils mwN). Durch die Anknüpfung des gesetzlichen Ent-
schädigungsanspruchs an die Verletzung konventions- und verfassungsrechtli-
cher Normen wird deutlich gemacht, dass die durch die lange Verfahrensdauer
verursachte Belastung einen gewissen Schweregrad erreichen muss. Es reicht
nicht jede Abweichung von einer optimalen Verfahrensführung aus (Senatsur-
teile vom 14. November 2013 aaO Rn. 31; vom 5. Dezember 2013 aaO Rn. 42;
und vom 13. Februar 2014 - III ZR 311/13, NJW 2014, 1183 Rn. 28). Allerdings
verdichtet sich mit zunehmender Verfahrensdauer die gerichtliche Pflicht, sich
nachhaltig um eine Förderung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen
(vgl. nur Senatsurteile vom 14. November 2013 aaO Rn. 30; vom 5. Dezember
2013 aaO Rn. 41 und vom 23. Januar 2014 aaO Rn. 37).
c) Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer hat der
Tatrichter einen Beurteilungsspielraum. Das Revisionsgericht ist darauf be-
schränkt zu überprüfen, ob das Oberlandesgericht den rechtlichen Rahmen
verkannt beziehungsweise Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze ver-
letzt hat und ob alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt
und angemessen abgewogen worden sind (Senatsurteil vom 14. November
2013 aaO Rn. 34).
d) Nach diesen Maßstäben hält die Beurteilung des Oberlandesgerichts,
die Ausgangsverfahren seien jedenfalls in den Zeiträumen von September 2008
bis Februar 2010 und von September 2011 bis Dezember 2012 hinreichend
gefördert worden, den Angriffen der Revision stand.
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September 2008 bis Februar 2010
Nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts war das Landgericht
ab dem Jahr 2007 mit einer schlechthin nicht zu bewältigenden Vielzahl von
gleichgelagerten Schadensersatzklagen gegen den jetzigen Kläger und den
Zeugen S. befasst. Bis Ende 2007 waren 386 Klagen eingegangen. Bin-
nen Jahresfrist stieg die Zahl der Verfahren auf 2.441 an und ab dem Jahr 2009
kamen zahlreiche weitere Verfahren hinzu, so dass der offene Bestand schließ-
lich mehr als 4.000 Verfahren betrug.
Unter Berücksichtigung eines angemessenen Prüfungs- und Bearbei-
tungszeitraums sowie des den Gerichten bei der Verfahrensführung zukom-
menden Gestaltungsspielraums ist eine unangemessene Verfahrensdauer nicht
feststellbar. Die zunächst allein zuständige 2. Zivilkammer musste in dem so-
wohl tatsächlich wie auch rechtlich komplexen zivilrechtlichen Kapitalanlage-
rechtsstreit die ständig zunehmende Zahl an Klagen und Klägern nicht nur ver-
fahrenstechnisch bewältigen (Aktenanlage, Zustellung der Klageschriften und
Klageerwiderungen, Fristsetzungen etc.), sondern auch eine Gesamtplanung
des Komplexes "G. Gruppe" entwickeln. Das Gericht musste insbeson-
dere die zahllosen Verfahren sichten, das jeweilige Klagevorbringen auf
Schlüssigkeit prüfen und einen Weg finden, der es ermöglichte, in einigen we-
nigen Verfahren über die ganze "Fallbreite" zu entscheiden (vgl. BVerfG, NJW
2004, 3320). Es war daher sachgerecht, "Musterverfahren" oder "Pilotverfah-
ren" auszuwählen und vorrangig zu betreiben, während die übrigen gleich oder
ähnlich gelagerten Verfahren einstweilen zurückgestellt blieben (siehe auch
Senatsbeschluss vom 21. November 2013 - III ZA 28/13, NJOZ 2014, 987
Rn. 9). Dadurch konnten Rechtsfragen von zentraler Bedeutung verfahrens-
übergreifend auf besonders prozessökonomische Weise geklärt werden. Da-
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rauf, ob sich die Zurückstellung anderer Verfahren oder die Auswahl der Pilot-
verfahren - ex post betrachtet - als förderlich erwiesen hat, kommt es nicht an.
Maßgebend ist vielmehr, dass die Entscheidung des Landgerichts aus der Sicht
ex ante vernünftig und zweckmäßig war (vgl. BVerfG, NVwZ 2013, 789, 791).
Der Einwand der Revision, es sei einem Gericht nicht gestattet, aus meh-
reren Verfahren einige als "Musterverfahren" herauszugreifen, diese zu bear-
beiten und währenddessen die übrigen Streitigkeiten nicht zu fördern, verkennt
zum einen die Besonderheiten sogenannter Massenverfahren, die ohne die
Durchführung von Pilotverfahren regelmäßig nicht sachgerecht bewältigt wer-
den können, und steht zum anderen im Widerspruch zur Rechtsprechung des
erkennenden Senats. Danach ist dem Gericht zur Ausübung seiner verfahrens-
gestaltenden Befugnisse ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen, der es ihm er-
möglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit der einzelnen Rechtssachen aus-
gewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches
Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Ver-
fahrenshandlungen dazu erforderlich sind. So ist jedes Gericht berechtigt, ein-
zelne (ältere und jüngere) Verfahren aus Gründen eines sachlichen oder recht-
lichen Zusammenhangs zu bestimmten Gruppen zusammenzufassen oder die
Entscheidung einer bestimmten Sach- oder Rechtsfrage als vordringlich anzu-
sehen, auch wenn ein solches "Vorziehen" einzelner Verfahren naturgemäß zu
einer längeren Dauer anderer Verfahren führt. Die besonders intensive Befas-
sung mit einem in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht schwierig erschei-
nenden Verfahren führt zwangsläufig dazu, dass während dieser Zeit die Förde-
rung anderer diesem Richter zugewiesener Verfahren vorübergehend zurück-
stehen muss. Eine gleichzeitige inhaltlich tiefgehende Bearbeitung sämtlicher
Verfahren ist aus tatsächlichen Gründen nicht möglich und wird auch von
Art. 20 Abs. 3 GG beziehungsweise Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht verlangt
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(Senatsurteil vom 23. Januar 2014 aaO Rn. 39). Die Entscheidung, ein "Pilot-
verfahren" durchzuführen, gehört nach alledem zu den verfahrensgestaltenden
Befugnissen eines Gerichts. Auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 148
ZPO kommt es nicht. Der Umstand, dass die Voraussetzungen einer förmlichen
Aussetzung des Verfahrens wegen Vorgreiflichkeit nicht gegeben sind, steht
der Durchführung eines Musterprozesses nicht entgegen. Es kann deshalb of-
fen bleiben, ob § 148 ZPO bei Massenverfahren anwendbar ist, wenn das Ge-
richt mit einer nicht mehr zu bewältigenden Zahl von Verfahren befasst ist (dazu
BGH, Beschlüsse vom 30. März 2005 - X ZB 36/04, BGHZ 162, 373, 376 f und
vom 28. Februar 2012 - VIII ZB 54/11, NJW-RR 2012, 575 Rn. 8).
Der Revision ist zuzugeben, dass sich der Staat zur Rechtfertigung einer
überlangen Verfahrensdauer nicht auf Umstände innerhalb seines Verantwor-
tungsbereichs berufen kann. Die Überlastung eines Gerichts fällt - anders als
unvorhersehbare Zufälle oder schicksalhafte Ereignisse - in den Verantwor-
tungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Bund und Länder müssen
jeweils in ihrem Zuständigkeitsbereich für eine hinreichende materielle und per-
sonelle Ausstattung der Gerichte sorgen. Verfahrensverzögerungen, die auf
eine Überlastung der Gerichte zurückzuführen sind, stellen grundsätzlich struk-
turelle Mängel dar, für die der Staat einstehen muss (BVerfG, NJW 2000, 797;
NZS 2013, 21 Rn. 19; BeckOGK/Dörr, BGB, § 839 Rn. 1243 mwN). Davon ab-
gesehen, dass das Landgericht die Verfahren in dem hier zu beurteilenden Zeit-
raum (bis Februar 2010) - wie dargelegt - angemessen gefördert hat, zeigt der
vorliegende Fall auch keine Strukturmängel im Bereich der Justiz auf. Die über
das Landgericht hereinbrechende "Klageflut" war weder vorhersehbar noch
kurzfristig aufzufangen. Sie ist vielmehr einem unvorhersehbaren Zufall bezie-
hungsweise einem schicksalhaften Ereignis gleichzuachten.
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September 2011 bis Dezember 2012
Die Ausgangsverfahren wurden jedenfalls ab September 2011 zügig be-
trieben. Nach vorrangiger Erledigung der in allen Verfahren gestellten Prozess-
kostenhilfeanträge des Klägers fanden im Juli und August 2012 mündliche Ver-
handlungen statt, die in Auflagen- und Beweisbeschlüsse (Einholung eines
Sachverständigengutachtens) mündeten. Zutreffend hat das Oberlandesgericht
es abgelehnt, im Entschädigungsprozess die Erforderlichkeit der angeordneten
Beweisaufnahme zu überprüfen. Eine vertretbare Rechtsauffassung des Ge-
richts oder eine nach der jeweiligen Prozessordnung vertretbare Verfahrenslei-
tung sind entschädigungslos hinzunehmen (Senatsurteile vom 5. Dezember
2013 aaO Rn. 46 und vom 13. Februar 2014 aaO Rn. 30). Anhaltspunkte dafür,
dass die Einholung eines Sachverständigengutachtens, um das Konzept der
"G. Gruppe" zu überprüfen, schlechthin unverständlich war, werden von
der Revision nicht aufgezeigt und sind auch sonst nicht erkennbar.
3.
Es kann dahinstehen, ob die Ausgangsverfahren, wie das Oberlandesge-
richt meint, in dem Zeitraum von März 2010 bis August 2011 als unangemessen
verzögert anzusehen sind, obwohl das Landgericht in insgesamt 229 Parallel-
sachen Verhandlungstermine bestimmt hat, die klagenden Anleger eine - dem
Gericht nicht zurechenbare - Verzögerungsstrategie verfolgten und die streitge-
genständlichen Verfahren für den überschuldeten Kläger angesichts der bereits
anhängigen zahllosen Schadensersatzklagen keine besondere Bedeutung hat-
ten. Der Kläger hat durch eine etwaige Verfahrensverzögerung jedenfalls kei-
nen entschädigungspflichtigen immateriellen Nachteil erlitten. Ein solcher kann
auch nicht nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet werden. Die Vermutung ist
widerleglich und im vorliegenden Fall widerlegt.
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Bei dieser Sachlage kommt es auf die Gegenrüge des Beklagten, das
Oberlandesgericht habe die Angemessenheit der Verfahrensdauer rechtsfeh-
lerhaft verkannt, nicht mehr an.
a) Grundlage eines Entschädigungsanspruchs für einen durch überlange
Verfahrensdauer verursachten immateriellen Nachteil ist § 198 Abs. 1 Satz 1
GVG. Als derartige Folgen eines überlangen Verfahrens kommen neben der
"seelischen Unbill" durch die lange Verfahrensdauer vor allem körperliche Be-
einträchtigungen oder Rufschädigungen und - in Sorge- oder Umgangsrechts-
streitigkeiten - die Entfremdung eines Kindes von einem Elternteil in Betracht
(BT-Drucks. 17/3802 S. 19; siehe auch Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott,
Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, § 198 GVG Rn. 150; Roderfeld
in Marx/Roderfeld, Rechtsschutz bei überlangen Gerichts- und Ermittlungsver-
fahren, § 198 GVG Rn. 79; Stahnecker, Entschädigung bei überlangen Ge-
richtsverfahren, Rn. 143).
Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird nach § 198 Abs. 2
Satz 1 GVG im Falle unangemessener Dauer vermutet. Dabei handelt es sich
um eine widerlegliche gesetzliche Tatsachenvermutung im Sinne von § 292
Satz 1 ZPO, die dem Betroffenen die Geltendmachung eines immateriellen
Nachteils erleichtern soll, weil in diesem Bereich ein Beweis oft nur schwierig
oder gar nicht zu führen ist (BT-Drucks. 17/3802 S. 19, 41; siehe auch
BeckOGK/Dörr aaO § 839 Rn. 1273; Ott aaO § 198 GVG Rn. 152, 154). Diese
Vermutungsregel entspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofs für Menschenrechte (EGMR). Dieser nimmt eine starke, aber widerlegbare
Vermutung dafür an, dass die überlange Verfahrensdauer einen Nichtvermö-
gensschaden verursacht hat. Er erkennt aber auch an, dass der Nichtvermö-
gensschaden in bestimmten Fällen sehr gering sein oder gar nicht entstehen
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kann. In diesem Fall müsse der staatliche Richter seine Entscheidung mit einer
ausreichenden Begründung rechtfertigen (EGMR, NJW 2007, 1259 Rn. 204).
Im Entschädigungsprozess ist die Vermutung widerlegt, wenn der Be-
klagte (Bund oder Land) das Fehlen eines immateriellen Nachteils darlegt und
beweist, wobei ihm, da es sich um einen Negativbeweis handelt, die Grundsät-
ze der sekundären Behauptungslast zugutekommen können (Hk-ZPO/Saenger,
ZPO, 6. Aufl., § 286 Rn. 93 und § 292 Rn. 10; Zöller/Greger, ZPO, 30. Aufl., Vor
§ 284 Rn. 34 und § 292 Rn. 2). Im Hinblick darauf, dass der EGMR lediglich
eine "ausreichende Begründung" zur Widerlegung verlangt, dürfen an den Be-
weis des Gegenteils keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden. Die
Vermutung eines auf der Verfahrensdauer beruhenden immateriellen Nachteils
ist dann widerlegt, wenn das Entschädigungsgericht unter Berücksichtigung der
vom Kläger gegebenenfalls geltend gemachten Beeinträchtigungen nach einer
Gesamtbewertung der Folgen, die die Verfahrensdauer mit sich gebracht hat,
die Überzeugung gewinnt, dass die (unangemessene) Verfahrensdauer nicht zu
b) Das angefochtene Urteil wird diesen Grundsätzen gerecht. Das Ober-
landesgericht hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender tatrichterlicher
Würdigung der Fallumstände die Überzeugung gewonnen, dass dem Kläger
durch die Dauer der Ausgangsverfahren kein ausgleichspflichtiger immaterieller
Nachteil entstanden ist.
Das Gericht hat dabei zu Recht darauf abgestellt, dass die streitgegen-
ständlichen Verfahren für den Kläger ohne besondere Bedeutung waren. Zum
Zeitpunkt der Klagezustellung sah sich der Kläger im Rahmen des Gesamt-
komplexes "G. Gruppe" bereits 386 Verfahren mit einer Gesamtscha-
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densersatzforderung von 10.777.752, 53 € ausgesetzt. Es kommt hinzu, dass
seine Vermögensverhältnisse zu diesem Zeitpunkt auf Grund nicht beglichener
Steuerforderungen in Millionenhöhe desolat waren. Es stand mithin von vornhe-
rein fest, dass es auf die Vermögenslage des Klägers ohne spürbare Auswir-
kungen bleiben wird, ob er in den von ihm konkret "gegriffenen" zehn Verfahren
obsiegen oder unterliegen wird. Der Kläger hat auch keine konkreten (psychi-
schen oder physischen) Beeinträchtigungen geltend gemacht, die gerade auf
die streitgegenständlichen Verfahren zurückzuführen waren. Seine Ausführun-
gen in der Klageschrift erschöpfen sich darin, die durch den Gesamtkomplex
"G. Gruppe" angeblich hervorgerufenen Belastungen in allgemeiner
Form zu schildern. Macht der Betroffene - wie hier - Entschädigung für einzelne
Verfahren aus einem umfangreichen Verfahrenskomplex geltend, muss er je-
doch die konkreten Nachteile, die gerade durch die Dauer dieser Verfahren
verursacht worden sein sollen, positiv behaupten. Nur dann kann der An-
spruchsgegner den ihm obliegenden Beweis der Unrichtigkeit der aufgestellten
Behauptungen führen (vgl. BGH, Urteil vom 22. Februar 2011 - XI ZR 261/09,
NJW 2011, 2130 Rn. 19 f).
Wie das Oberlandesgericht ferner zutreffend gesehen hat, kann sich der
Kläger auf den im April 2009 erlittenen Herzinfarkt als immaterielle Folge schon
deshalb nicht berufen, weil zu diesem Zeitpunkt die streitgegenständlichen Ver-
fahren überhaupt nicht verzögert waren. Hinsichtlich dieses Nachteils fehlt es
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bereits am Tatbestandsmerkmal der "unangemessenen Dauer" eines Gerichts-
verfahrens.
Schlick
Herrmann
Wöstmann
Seiters
Reiter
Vorinstanz:
OLG Braunschweig, Entscheidung vom 11.04.2014 - 6 SchH 1/13 -