Urteil des BGH vom 30.04.2015

Teststreifen zur Blutzuckerkontrolle Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
I Z R 1 5 3 / 1 3
Verkündet am:
30. April 2015
Bürk
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
Teststreifen zur Blutzuckerkontrolle
Richtlinie 98/79/EG Art. 1 Abs. 2 Buchst. f, Art. 2, 3, 4 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3 und
16 und die Anhänge I und IV bis VII
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung der Art. 1
Abs. 2 Buchst. f, Art. 2, 3, 4 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3 und 16 sowie der Anhänge I
und IV bis VII der Richtlinie 98/79/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 27. Oktober 1998 über In-vitro-Diagnostika (ABl. Nr. L 331 vom
7. Dezember 1998) in der zuletzt durch die Richtlinie 2011/100/EU der Kom-
mission vom 20. Dezember 2011 (ABl. Nr. L 341 vom 22. Dezember 2011,
S. 50) geänderten Fassung folgende Frage zur Vorabentscheidung vorge-
legt:
Muss ein Dritter ein In-vitro-Diagnostikum zur Eigenanwendung für
die Blutzuckerbestimmung, das vom Hersteller in einem Mitglied-
staat A (konkret: im Vereinigten Königreich) einer Konformitätsbe-
wertung nach Art. 9 der Richtlinie 98/79/EG unterzogen worden ist,
das die CE-Kennzeichnung nach Art. 16 der Richtlinie trägt und das
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die grundlegenden Anforderungen gemäß Art. 3 und Anhang I der
Richtlinie erfüllt, einer erneuten oder ergänzenden Konformitätsbe-
wertung nach Art. 9 der Richtlinie unterziehen, bevor er das Produkt
in einem Mitgliedstaat B (konkret: in der Bundesrepublik Deutsch-
land) in Verpackungen in Verkehr bringt, auf denen Hinweise in der
von der Amtssprache des Mitgliedstaats A abweichenden Amtsspra-
che des Mitgliedstaats B angebracht sind (konkret: Deutsch statt
Englisch) und denen Gebrauchsanweisungen in der Amtssprache
des Mitgliedstaats B statt des Mitgliedstaats A beigefügt sind?
Macht es dabei einen Unterschied, ob die von dem Dritten beigefüg-
ten Gebrauchsanweisungen wörtlich den Informationen entsprechen,
die der Hersteller des Produkts im Rahmen des Vertriebs im Mit-
gliedstaat B verwendet?
BGH, Beschluss vom 30. April 2015 - I ZR 153/13 - OLG Frankfurt am Main
LG Frankfurt am Main
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Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhand-
lung vom 22. Januar 2015 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Büscher,
die Richter Prof. Dr. Schaffert, Dr. Kirchhoff, Prof. Dr. Koch und Feddersen
beschlossen:
I.
Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung
der Art. 1 Abs. 2 Buchst. f, Art. 2, 3, 4 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3 und
16 sowie der Anhänge I und IV bis VII der Richtlinie 98/79/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Oktober
1998 über In-vitro-Diagnostika (ABl. Nr. L 331 vom 7. Dezem-
ber 1998) in der zuletzt durch die Richtlinie 2011/100/EU der
Kommission vom 20. Dezember 2011 (ABl. Nr. L 341 vom
22. Dezember 2011, S. 50) geänderten Fassung folgende
Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Muss ein Dritter ein In-vitro-Diagnostikum zur Eigenan-
wendung für die Blutzuckerbestimmung, das vom Her-
steller in einem Mitgliedstaat A (konkret: im Vereinigten
Königreich) einer Konformitätsbewertung nach Art. 9 der
Richtlinie 98/79/EG unterzogen worden ist, das die CE-
Kennzeichnung nach Art. 16 der Richtlinie trägt und das
die grundlegenden Anforderungen gemäß Art. 3 und An-
hang I der Richtlinie erfüllt, einer erneuten oder ergän-
zenden Konformitätsbewertung nach Art. 9 der Richtlinie
unterziehen, bevor er das Produkt in einem Mitglied-
staat B (konkret: in der Bundesrepublik Deutschland) in
Verpackungen in Verkehr bringt, auf denen Hinweise in
der von der Amtssprache des Mitgliedstaats A abwei-
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chenden Amtssprache des Mitgliedstaats B angebracht
sind (konkret: Deutsch statt Englisch) und denen Ge-
brauchsanweisungen in der Amtssprache des Mitglied-
staats B statt des Mitgliedstaats A beigefügt sind?
Macht es dabei einen Unterschied, ob die von dem Drit-
ten beigefügten Gebrauchsanweisungen wörtlich den In-
formationen entsprechen, die der Hersteller des Produkts
im Rahmen des Vertriebs im Mitgliedstaat B verwendet?
Gründe:
I. Die Klägerin ist eine Vertriebsgesellschaft der Roche Diagnostics
GmbH, die ein Tochterunternehmen der Hoffmann-La Roche AG in Basel ist.
Sie vertreibt unter der Bezeichnung "Accu-Chek Aviva" und "Accu-Chek Com-
pact" Teststreifen zur Blutzuckerselbstkontrolle für Diabetiker. Vor dem erstma-
ligen Inverkehrbringen der Teststreifen in der Europäischen Union hat die Ro-
che Diagnostics GmbH für diese beiden Produkte durch eine Benannte Stelle
im Vereinigten Königreich ein Konformitätsbewertungsverfahren in englischer
Sprache durchführen lassen, aufgrund dessen die beiden Produkte eine CE-
Kennzeichnung erhalten haben.
Die Klägerin vertreibt die beiden Produkte in Deutschland mit Angaben in
deutscher Sprache auf der Umverpackung und mit einer in der Verkaufsverpa-
ckung einliegenden Gebrauchsanweisung in deutscher Sprache. In den von der
Klägerin verwendeten Dosen mit Teststreifen befindet sich eine Kontrolllösung,
mit der die Messgenauigkeit des Blutzuckermessgeräts, in dem die Teststreifen
verwendet werden, überprüft werden kann. Dazu wird die Kontrolllösung auf
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einen Teststreifen getropft, der Teststreifen in das Messgerät eingeführt und der
gemessene Wert mit den Werten auf der Dose der Teststreifen verglichen.
Wenn der gemessene Wert außerhalb der Grenzwerte liegt, weist dies auf eine
mangelnde Genauigkeit des Messgeräts hin. Auf dem britischen Markt vertreibt
die Klägerin Blutzuckermessgeräte und Blutzuckerteststreifen ausschließlich mit
den Messeinheiten "mmol/l". Dagegen bietet die Klägerin in Deutschland Blut-
zuckermessgeräte an, die entweder die Messeinheiten "mmol/l" oder "mg/dl"
verwenden. Auf den von der Klägerin in Deutschland abgesetzten Teststreifen-
dosen sind deshalb die Grenzwerte für die Kontrolllösung auf den Teststreifen
sowohl in "mg/dl" als auch in "mmol/l" angegeben.
Die Beklagte ist eine Großhändlerin von Medizinprodukten. Sie vertrieb
von der Roche Diagnostics GmbH für das EU-Ausland hergestellte Teststreifen
zur Blutzuckerselbstkontrolle "Accu-Chek Aviva" und "Accu-Chek Compact" in
Deutschland im Wege des Parallelvertriebs in Umverpackungen, auf denen sie
Aufkleber mit Hinweisen in deutscher Sprache anbrachte. Diese lauteten bei
dem Produkt "Accu-Chek Compact": "Import und Vertrieb servoprax GmbH
- 45485 Wesel Art.-Nr. C2 133 PZN 6404388 1 - C2 133-1-0002.1-0002". Auf
dem weiteren Produkt "Accu-Chek Aviva" enthielt das von der Beklagten ver-
wendete Etikett neben vergleichbaren Angaben den Zusatz "In vitro Diagnosti-
cum Blut 50 Teststreifen, 1 Code-Chip Zur Bestimmung von Blutzucker. Zur
Selbstanwendung geeignet. Nur für Accu-Chek Aviva, Accu-Chek Aviva Nano
und Accu-Chek Aviva Combo. Lagerung +2°C-+32°C. LOT und Verfalldatum
siehe Lasche. Bedienungsanleitung beachten. Plasma referenziert. Zur Selbst-
anwendung geeignet".
Die Beklagte fügte den Verpackungen eine deutsche Sprachfassung der
Herstellerinformationen bei, die wörtlich den Herstellerinformationen entsprach,
die die Roche Diagnostics GmbH bei den von ihr zum Vertrieb in Deutschland
bestimmten Teststreifen verwendete. Auf den Teststreifen des von der Beklag-
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ten vertriebenen Produkts "Accu-Chek Aviva" waren die Grenzwerte in der Zeit
von Juni bis Herbst 2010 allein in "mmol/l" angegeben.
Nach Ansicht der Klägerin waren die von der Beklagten in der beschrie-
benen Weise vertriebenen Teststreifen "Accu-Chek Aviva" und "Accu-Chek
Compact" ohne ein neues oder ergänzendes Konformitätsbewertungsverfahren
in Deutschland nicht verkehrsfähig. Die Klägerin hat die Beklagte wegen des
Vertriebs der Teststreifen abgemahnt. Die Beklagte hat in den Niederlanden für
die fraglichen Blutzuckerteststreifen vor einer Benannten Stelle ein ergänzen-
des Konformitätsbewertungsverfahren durchgeführt und die Zertifizierung am
13. Dezember 2010 erhalten.
Mit ihrer gegen die Beklagte erhobenen Klage hat die Klägerin unter an-
derem beantragt, die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen,
in der Bundesrepublik Deutschland aus Ländern der Europäischen Union und/
oder des Europäischen Wirtschaftsraums eingeführte Blutzuckerteststreifenpa-
ckungen mit der Kennzeichnung "Accu-Chek Aviva" und/oder "Accu-Chek
Compact" mit einer umgestalteten Umverpackung und/oder Gebrauchsanwei-
sung in den Verkehr zu bringen und/oder in den Verkehr bringen zu lassen, oh-
ne dass diese umverpackten In-vitro-Diagnostika zur Eigenanwendung in einem
(erneuten oder ergänzenden) Konformitätsbewertungsverfahren überprüft wor-
den sind.
Diesen Antrag hat die Klägerin nachfolgend für erledigt erklärt und später
zurückgenommen. Dazu hat sie ausgeführt, sie habe erst nach Klageerhebung
erfahren, dass die Beklagte in den Niederlanden ein ergänzendes Konformi-
tätsbewertungsverfahren durchgeführt habe.
Das Landgericht hat die von der Klägerin mit den Anträgen auf Aus-
kunftserteilung, Feststellung der Schadensersatzpflicht und Erstattung von
Rechtsverfolgungskosten weiterverfolgte Klage abgewiesen.
Das Berufungsgericht hat den von der Klägerin in der Berufungsverhand-
lung allein noch hinsichtlich des Vertriebs entsprechender Teststreifen vor dem
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13. Dezember 2010 gestellten Anträgen auf Auskunftserteilung und Schadens-
ersatzfeststellung sowie dem Antrag der Klägerin auf Erstattung von Rechtsver-
folgungskosten stattgegeben (OLG Frankfurt a.M., GRUR-RR 2013, 524).
Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurück-
weisung die Klägerin beantragt, erstrebt die Beklagte weiterhin die Abweisung
der Klage.
II. Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung der im Tenor des
vorliegenden Beschlusses genannten Bestimmungen der Richtlinie 98/79/EG
über In-vitro-Diagnostika vom 27. Oktober 1998 ab. Vor einer Entscheidung ist
deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b und
Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Uni-
on einzuholen.
1. Nach Ansicht des Berufungsgerichts hat die Beklagte durch den Ver-
trieb der parallelimportierten Teststreifen vor dem Zeitpunkt der ergänzenden
Zertifizierung am 13. Dezember 2010 gegen die Kennzeichnungsbestimmungen
für In-vitro-Diagnostika verstoßen. Die Beklagte müsse sich gemäß § 3 Nr. 15
Satz 2 MPG wie ein Hersteller behandeln lassen, da sie auf der Umverpackung
der Teststreifen für den deutschen Markt ein deutschsprachiges Etikett ange-
bracht und der Packung eine deutschsprachige Gebrauchsanweisung beigefügt
habe. Die Gebrauchsanweisung und Etikettierung in deutscher Sprache diene
einer sicheren Anwendung des Produkts und müsse daher in einem erneuten
oder ergänzenden Konformitätsbewertungsverfahren nach dem Medizinpro-
duktegesetz überprüft werden. Die Beklagte habe zwar nicht selbst eine Über-
setzung der Gebrauchsanweisung anfertigen lassen, sondern die deutsche
Sprachfassung der Herstellerinformationen der Roche Diagnostics GmbH über-
nommen. Dieser Umstand ändere aber nichts daran, dass die Gebrauchsan-
weisung erst durch die Beklagte dem vom Hersteller mit einer anderen Sprach-
fassung ausgestatteten Originalprodukt beigefügt worden sei. Die Überprüfung
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einer solchen Veränderung, die stets Fehlerquellen berge und zu Missver-
ständnissen bei der Anwendung der Produkte mit schlimmen Folgen für den
Anwender führen könne, habe aus Gründen des Gesundheitsschutzes der Be-
nannten Stelle im Sinne der Richtlinie 98/79/EG oblegen.
2. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob die Beklagte
ein Konformitätsbewertungsverfahren nach der Richtlinie 98/79/EG durchführen
muss, wenn sie die aus dem EU-Ausland parallelimportierten Blutzuckertest-
streifen "Accu-Chek Aviva" und "Accu-Chek Compact" der Klägerin mit Anga-
ben auf der Umverpackung und der Gebrauchsanweisung in deutscher Sprache
versieht und im Inland vertreibt. Dabei entspricht im Streitfall die deutschspra-
chige Gebrauchsanweisung derjenigen, die die Klägerin im Inland verwendet.
a) Der Klägerin stehen die Ansprüche auf Auskunftserteilung und Erstat-
tung der Rechtsverfolgungskosten sowie dem Grunde nach ein Schadenser-
satzanspruch nach § 242 BGB, §§ 9, 12 Abs. 1 Satz 2 UWG zu, wenn die Be-
klagte mit dem Vertrieb der parallelimportierten Teststreifen in der Zeit vor dem
13. Dezember 2010 gegen eine Marktverhaltensvorschrift im Sinne von § 4
Nr. 11 UWG verstoßen hat. Das ist der Fall, wenn die Beklagte mit dem fragli-
chen Vertrieb ohne Konformitätsbewertungsverfahren nach der Richtlinie
98/79/EG gegen Kennzeichnungsbestimmungen für In-vitro-Diagnostika ver-
stoßen hat (vgl. BGH, Urteil vom 12. Mai 2010 - I ZR 185/07, GRUR 2010, 756
Rn. 8 = WRP 2010, 1020 - One Touch Ultra).
b) Nach der Vorschrift des § 6 Abs. 1 Satz 1 des Medizinproduktegeset-
zes dürfen In-vitro-Diagnostika als Medizinprodukte in Deutschland nur in Ver-
kehr gebracht werden, wenn sie mit einer CE-Kennzeichnung versehen sind.
Nach § 6 Abs. 2 Satz 1 MPG dürfen Medizinprodukte mit der CE-Kenn-
zeichnung nur versehen werden, wenn die auf sie unter Berücksichtigung ihrer
Zweckbestimmung anwendbaren grundlegenden Anforderungen nach § 7 MPG
erfüllt sind und ein für das jeweilige Medizinprodukt vorgeschriebenes Konformi-
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tätsbewertungsverfahren nach Maßgabe der aufgrund des § 37 Abs. 1 MPG
ergangenen Medizinprodukte-Verordnung (MPV) vom 20. Dezember 2001
(BGBl. I 2001, S. 3854) durchgeführt worden ist. Für Produkte zur Blutzucker-
bestimmung, die in Anhang II Liste B 9. Spiegelstrich der Richtlinie 98/79/EG
angeführt sind, sieht § 5 Abs. 2 MPV das Verfahren der EG-Konformitäts-
erklärung nach Anhang IV der Richtlinie 98/79/EG oder das Verfahren der EG-
Baumusterprüfung nach Anhang V in Verbindung mit dem Verfahren der EG-
Prüfung nach Anhang VI oder dem Verfahren der EG-Konformitätserklärung
nach Anhang VII der Richtlinie vor.
c) Die Bestimmungen der §§ 6 und 7 MPG und § 5 Abs. 2 MPV dienen
der Umsetzung der Art. 2, 3 und 16 der Richtlinie 98/79/EG. Nach Art. 2 Satz 1
der Richtlinie treffen die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen, damit
die Produkte nur in den Verkehr gebracht und in Betrieb genommen werden
dürfen, wenn sie bei sachgemäßer Lieferung, Installation, Instandhaltung und
ihrer Zweckbestimmung entsprechender Verwendung die Anforderungen der
Richtlinie erfüllen. Zu den nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 als Produkte bezeichneten
In-vitro-Diagnostika zählen nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie Teststrei-
fen zur Blutzuckerbestimmung. Nach Art. 3 der Richtlinie müssen die Produkte
die für sie unter Berücksichtigung der Zweckbestimmung geltenden grundle-
genden Anforderungen gemäß Anhang I erfüllen. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie
bestimmt, dass alle Produkte, von deren Übereinstimmung mit den grundlegen-
den Anforderungen gemäß Art. 3 auszugehen ist, bei ihrem Inverkehrbringen
mit einer CE-Kennzeichnung versehen werden müssen. Nach Art. 4 Abs. 1 der
Richtlinie behindern die Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet nicht das Inver-
kehrbringen und die Inbetriebnahme von Produkten, die die CE-Kennzeichnung
nach Art. 16 tragen, wenn diese einer Konformitätsbewertung nach Art. 9 der
Richtlinie unterzogen worden sind. Damit die CE-Kennzeichnung angebracht
werden kann, muss der Hersteller für die in der Liste B des Anhangs II genann-
ten Produkte mit Ausnahme der Produkte für Leistungsbewertungszwecke ent-
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weder das Verfahren der EG-Konformitätserklärung gemäß Anhang IV (Art. 9
Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie) oder das Verfahren der EG-Baumusterprüfung
gemäß Anhang V in Verbindung mit dem Verfahren der EG-Prüfung gemäß
Anhang VI (Art. 9 Abs. 3 Buchst. b Ziffer i) oder dem Verfahren der EG-
Konformitätserklärung gemäß Anhang VII (Art. 9 Abs. 3 Buchst. b Ziffer ii) an-
wenden. Die Verfahren nach Art. 9 Abs. 3 Buchst. a und b der Richtlinie dienen
der Überprüfung, ob die für das Produkt geltenden Bestimmungen der Richtlinie
einschließlich der grundlegenden Anforderungen nach ihrem Anhang I einge-
halten sind (vgl. Anhang IV Nr. 2 und Anhang V Nr. 1).
aa) Für das Verfahren der EG-Konformitätserklärung muss der Antrag
nach Anhang IV Nr. 3.1 4. Spiegelstrich die Dokumentation über das Qualitäts-
sicherungssystem enthalten. Nach Nr. 3.2 Unterabs. 2 Buchst. c 3. Spiegel-
strich des Anhangs IV muss die Dokumentation bei Produkten zur Eigenan-
wendung die Angaben gemäß Anhang III Nr. 6.1 enthalten. Dazu rechnen An-
gaben, die auf der Kennzeichnung und in der Gebrauchsanweisung des Pro-
dukts anzubringen sind (Anhang III Nr. 6.1 3. Spiegelstrich).
Nach Nummer 4.2 Satz 2 des Anhangs IV der Richtlinie 98/79/EG muss
es anhand der für die Prüfung der Produktauslegung nach Nr. 3.2 Buchst. c
dieses Anhangs beizubringenden Dokumente möglich sein zu beurteilen, ob
das Produkt den Anforderungen der Richtlinie entspricht.
Nach Nummer 4.3 des Anhangs IV der Richtlinie 98/79/EG prüft die Be-
nannte Stelle den Antrag, wobei sie vom Antragsteller zur Beurteilung der
Übereinstimmung mit den Anforderungen dieser Richtlinie gegebenenfalls die
Durchführung zusätzlicher Tests und Prüfungen verlangen kann. Die von ihr
dann, wenn die Auslegung den einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie ent-
spricht, ausgestellte Bescheinigung enthält die Ergebnisse der Prüfung, die Be-
dingungen für ihre Gültigkeit sowie die zur Identifizierung der genehmigten Aus-
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legung erforderlichen Angaben und gegebenenfalls eine Beschreibung der
Zweckbestimmung des Produkts.
Nach Nummer 4.4 Satz 1 des Anhangs IV der Richtlinie 98/79/EG müs-
sen Änderungen an der genehmigten Auslegung, die die Übereinstimmung des
Produkts mit den grundlegenden Anforderungen dieser Richtlinie oder mit den
vorgeschriebenen Anwendungsbedingungen berühren können, von der Be-
nannten Stelle zusätzlich genehmigt werden, die die EG-Auslegungsprüfbe-
scheinigung ausgestellt hat. Nach Nummer 4.4 Satz 2 des Anhangs IV der
Richtlinie informiert der Hersteller diese Benannte Stelle über solche Änderun-
gen. Die erforderliche Zusatzgenehmigung wird nach Nummer 4.4 Satz 3 des
Anhangs IV der Richtlinie in Form eines Nachtrags zur EG-Auslegungsprüfbe-
scheinigung erteilt.
Zu den grundlegenden Anforderungen gehören nach Teil B Nr. 8.1 Un-
terabsatz 1 des Anhangs I der Richtlinie 98/79/EG die jedem Produkt beizuge-
benden Informationen, die unter Berücksichtigung des Ausbildungs- und Kennt-
nisstandes des vorgesehenen Anwenderkreises die ordnungsgemäße und si-
chere Anwendung des Produkts und die Ermittlung des Herstellers ermögli-
chen. Diese Informationen umfassen nach dem Unterabsatz 2 der genannten
Bestimmung die Angaben in der Kennzeichnung und in der Gebrauchsanwei-
sung. Nach Teil B Nr. 8.1 Unterabsatz 6 des Anhangs I der Richtlinie 98/79/EG
müssen die Gebrauchsanweisung und die Kennzeichnung bei In-vitro-Diagnos-
tika zur Eigenanwendung eine Übersetzung in der/den Amtssprache(n) des
Mitgliedstaats enthalten, in dem der Endverbraucher das Produkt zur Eigenan-
wendung erhält.
bb) Für die EG-Baumusterprüfung enthält der Anhang V der Richtlinie
98/79/EG in seinen Nummern 3 3. Spiegelstrich, 4.1 bis 4.3, 5 und 6.1 entspre-
chende Bestimmungen. Insbesondere muss die gemäß Nummer 2 2. Spiegel-
strich dieses Anhangs mit dem Antrag auf eine EG-Baumusterprüfung einzu-
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reichende Dokumentation bei Produkten zur Eigenanwendung nach Nummer 3
3. Spiegelstrich ebenfalls die in Anhang III Nummer 6.1 der Richtlinie genann-
ten Informationen enthalten.
d) Da die Kennzeichnung (Etikettierung) und die Gebrauchsanweisung
Gegenstand der Prüfung der Verfahren nach den Anhängen IV und V sind und
die Angaben zu den grundlegenden Anforderungen im Sinne des Art. 3 in Ver-
bindung mit Anhang I der Richtlinie zählen, liegt es nahe anzunehmen, dass ein
Parallelimporteur die umetikettierten und mit einer deutschsprachigen Ge-
brauchsanweisung versehenen In-vitro-Diagnostika zur Eigenanwendung für
die Blutzuckerbestimmung nicht ohne entsprechendes zusätzliches Konformi-
tätsbewertungsverfahren in Deutschland in den Verkehr bringen darf (vgl. BGH,
GRUR 2010, 756 Rn. 10 ff. - One Touch Ultra; Hill/Schmitt, Wiko Medizinpro-
dukterecht, 10. Lief., Juli 2011, § 6 MPG Rn. 3; Stallberg, MPR 2010, 113,
114 ff.; Juknat/Klappich/Klages, PharmR 2010, 488, 489 f.; Fulda, MPR 2011,
1, 2 ff.; aA Plöger in Schorn, Medizinprodukterecht, 27. Lief., März 2013, § 6
MPG Rn. 4; Edelhäuser in Prütting, Fachanwaltskommentar Medizinrecht,
3. Aufl., § 6 MPG Rn. 7b; Rehmann in Rehmann/Wagner, MPG, 2. Aufl., Einf.
Rn. 54 f. und 57 sowie § 3 Rn. 20; Schorn, MPJ 2010, 270 ff.).
Nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. f Unterabsatz 2 Satz 1 der Richtlinie 98/79/EG
gelten die dem Hersteller nach dieser Richtlinie obliegenden Verpflichtungen
grundsätzlich auch für natürliche oder juristische Personen, die vorgefertigte
Produkte montieren, abpacken, behandeln, aufbereiten oder kennzeichnen oder
für die Festlegung der Zweckbestimmung als Produkt im Hinblick auf das Inver-
kehrbringen im eigenen Namen verantwortlich sind. Eine Ausnahme besteht
nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. f Unterabsatz 2 Satz 2 der Richtlinie nur für Perso-
nen, die bereits in Verkehr gebrachte Produkte für einen namentlich genannten
Patienten entsprechend ihrer Zweckbestimmung montieren oder anpassen. Ein
solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Einer erweiternden Auslegung der
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Ausnahmebestimmung des Art. 1 Abs. 2 Buchst. f Unterabsatz 2 Satz 2 der
Richtlinie steht entgegen, dass eine nicht von einer Benannten Stelle überprüfte
Übernahme der Kennzeichnung und der Gebrauchsanweisung eines entspre-
chenden Produkts die Gefahr von Fehlern in sich birgt, die zu Gesundheitsge-
fährdungen bis hin zu Schädigungen der Patienten führen können. Dass es sich
dabei nicht um eine zu vernachlässigende Gefahr handelt, zeigt der Streitfall.
Die von der Beklagten vertriebenen Dosen der Teststreifen "Accu-Chek Aviva"
enthielten von Juni bis Herbst 2010 die Grenzwertangaben allein in "mmol/l"
und nicht auch in "mg/dl". Bei diesen Teststreifen ist für die Verwendung in
Messgeräten mit den Messeinheiten "mg/dl" eine Umrechnung erforderlich, die
zu einer fehlerhaften Anwendung durch den Verbraucher führen kann. In die-
sem Zusammenhang ist Erwägungsgrund 19 der Richtlinie von Bedeutung. Da-
nach umfasst der in der Richtlinie angesprochene Herstellungsvorgang auch
die Verpackung der Medizinprodukte, sofern die Verpackung im Zusammen-
hang mit Sicherheitsaspekten des Produkts steht, was der Senat vorliegend
bejahen möchte.
e) Im Streitfall könnte für die Beantwortung der Vorlagefrage weiterhin
von Bedeutung sein, dass die von der Beklagten beigefügte Gebrauchsanwei-
sung wörtlich der Gebrauchsanweisung entspricht, die die Klägerin bei dem
Vertrieb der Produkte in Deutschland verwendet. Darauf bezieht sich die Er-
gänzung der Vorlagefrage.
Nach Ansicht des Senats sollte sich dieser Umstand nicht zu Gunsten
des Parallelimporteurs auswirken. Die Erforderlichkeit der Durchführung eines
Konformitätsbewertungsverfahrens hängt nach den einschlägigen Vorschriften
der Richtlinie 98/79/EG nicht davon ab, dass noch kein Konformitätsbewer-
tungsverfahren durchgeführt worden ist. Der Umstand, dass Letzteres bereits
der Fall war, kann die Durchführung des neuen ergänzenden Konformitätsbe-
wertungsverfahrens erleichtern und beschleunigen. In dem neuen Verfahren
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kann die Prüfung darauf beschränkt werden, ob die jeweiligen Angaben auf der
Verpackung und in der Gebrauchsanweisung - auch unter Berücksichtigung der
weiteren Umstände, unter denen sie erfolgen - tatsächlich mit den Angaben
übereinstimmen, die bereits Gegenstand des vom Hersteller durchgeführten
Konformitätsbewertungsverfahrens waren.
Büscher
Schaffert
Kirchhoff
Koch
Feddersen
Vorinstanzen:
LG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 05.10.2011 - 3-08 O 51/11 -
OLG Frankfurt am Main, Entscheidung vom 27.06.2013 - 6 U 253/11 -