Urteil des BGH vom 06.10.2015

Netzentgeltbefreiung Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
E n V R 3 2 / 1 3
Verkündet am:
6. Oktober 2015
Bürk
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem energiewirtschaftsrechtlichen Verwaltungsverfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
Netzentgeltbefreiung
StromNEV § 19 Abs. 2 Satz 2 idF vom 4. August 2011
§ 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV in der Fassung von Art. 7 des am 4. August 2011
in Kraft getretenen Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher
Vorschriften vom 26. Juli 2011 (BGBl. I S. 1554, 1594) ist nichtig.
BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2015 - EnVR 32/13 - OLG Düsseldorf
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Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 6. Oktober 2015 durch die Präsidentin des Bundesgerichtshofs Limperg
und die Richter Prof. Dr. Strohn, Dr. Grüneberg, Dr. Bacher und Dr. Deichfuß
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den am 8. Mai 2013 verkündeten
Beschluss des 3. Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf
wird zurückgewiesen.
Die Bundesnetzagentur trägt die Kosten des Rechtsbeschwerde-
verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen der Betroffe-
nen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf
753.967 Euro festgesetzt.
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Gründe:
A.
Die Betroffene betreibt ein Verteilernetz für Elektrizität, aus dem
die Antragstellerin von einem dritten Unternehmen auf der Grundlage eines in-
tegrierten Liefervertrags Strom für ihr Reifenwerk in Fürstenwalde bezieht.
Mit Beschluss vom 22. März 2012 hat die Bundesnetzagentur die Befrei-
ung der Antragstellerin von den Netzentgelten für die in Rede stehende Ab-
nahmestelle mit Wirkung ab 1. Januar 2011 unbefristet genehmigt. Auf die Be-
schwerde der Betroffenen hat das Beschwerdegericht diesen Beschluss aufge-
hoben. Dagegen wendet sich die Bundesnetzagentur mit ihrer vom Beschwer-
degericht zugelassenen Rechtsbeschwerde. Die Betroffene tritt dem Rechtsmit-
tel entgegen.
B.
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet.
I.
Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung (OLG Düsseldorf,
Beschluss vom 8. Mai 2013 - 3 Kart 178/12, juris) im Wesentlichen wie folgt
begründet:
Der angefochtene Beschluss sei schon deshalb rechtswidrig, weil die am
4. August 2011 in Kraft getretene Änderung des § 19 Abs. 2 StromNEV nichtig
sei. Der Gesetzgeber sei zwar grundsätzlich zur Änderung von Rechtsverord-
nungen befugt. Die genannte Regelung weise aber nicht den hierfür erforderli-
chen sachlichen Zusammenhang mit weiteren gesetzgeberischen Maßnahmen
auf. Ferner halte sich die vollständige Befreiung von den Netzentgelten nicht in
den Grenzen der Ermächtigungsgrundlage. Die Befreiungsregelung verletze
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zudem das Diskriminierungsverbot des § 21 Abs. 1 EnWG, das die Vorgaben
der Richtlinie 2003/54/EG umsetze.
II.
Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung im Ergebnis
stand.
1.
Zu Recht ist das Beschwerdegericht zu dem Ergebnis gelangt,
dass § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV in der Fassung von Art. 7 des am 4. August
2011 in Kraft getretenen Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtli-
cher Vorschriften vom 26. Juli 2011 (BGBl. I S. 1554, 1594) nichtig ist.
a)
Zutreffend ist das Beschwerdegericht davon ausgegangen, dass
diese Regelung, obwohl sie vom Gesetzgeber erlassen wurde, als Rechtsver-
ordnung zu beurteilen und deshalb uneingeschränkt auf ihre Vereinbarkeit mit
höherrangigem Recht zu überprüfen ist.
Der Gesetzgeber darf Änderungsvorhaben, die sich sowohl auf gesetzli-
che Regelungen als auch auf Verordnungen beziehen, einheitlich durch Gesetz
verwirklichen. Wenn eine bestehende Verordnung durch Gesetz geändert oder
um neue Regelungen ergänzt wird, ist das dadurch entstandene Normgebilde
aus Gründen der Normenklarheit insgesamt als Verordnung zu qualifizieren
(BVerfGE 114, 196, 238). Hierzu bedarf es keiner ausdrücklichen Regelung im
jeweiligen Gesetz. Die in einigen Gesetzen enthaltene so genannte Entsteine-
rungsklausel hat nur klarstellende Bedeutung (BVerfGE 114, 196, 240).
b)
Zu Recht ist das Beschwerdegericht zu dem Ergebnis gelangt,
dass eine Befreiung von den Netzentgelten durch die Ermächtigungsgrundlage
in § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 EnWG nicht gedeckt ist.
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aa)
Die genannten Vorschriften ermächtigen lediglich zu Regelungen
zur näheren Ausgestaltung von Netzentgelten, nicht aber zur Befreiung be-
stimmter Nutzer von solchen Entgelten.
Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnWG darf der Verordnungsgeber unter
anderem Methoden zur Bestimmung der Entgelte für den Netzzugang festle-
gen. Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EnWG darf er ferner regeln, in welchen
Sonderfällen der Netznutzung und unter welchen Voraussetzungen die Regulie-
rungsbehörde im Einzelfall individuelle Entgelte für den Netzzugang genehmi-
gen oder untersagen kann. Hieraus und aus den inhaltlichen Vorgaben, die das
Gesetz für die Bildung von Netzentgelten enthält, ist zu entnehmen, dass der
Verordnungsgeber Regelungen schaffen darf, um unzulässig hohe Netzentgelte
zu vermeiden und um zu gewährleisten, dass die Entgelte den Vorgaben des
§ 21 Abs. 2 EnWG entsprechen und der in § 1 Abs. 1 EnWG vorgegebene
Zweck erreicht wird.
Die damit eröffnete Regelungsbefugnis ist auf Vorschriften beschränkt,
die die Ausgestaltung von Netzentgelten betreffen. Sie umfasst nicht die Befug-
nis zu Regelungen, die eine Befreiung bestimmter Nutzer von Netzentgelten
vorsehen. Zwar hat der Gesetzgeber keine ausdrückliche Untergrenze für die
Vorgabe von Entgeltobergrenzen festgelegt. Entgegen der Auffassung der
Bundesnetzagentur stellt es jedoch nicht nur einen quantitativen, sondern einen
qualitativen Unterschied dar, wenn bestimmten Benutzern nicht nur ein ermä-
ßigtes Entgelt auferlegt, sondern die Nutzung unentgeltlich gewährt wird. Die
Regelung in § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 EnWG beruht auf der Prämisse,
dass ein Netzbetreiber für die Nutzung seiner Netze durch Dritte eine Gegen-
leistung verlangen kann. Diese synallagmatische Beziehung bleibt auch dann
erhalten, wenn einzelnen Nutzern ein ermäßigtes Entgelt einzuräumen ist. Sie
wird aber aufgelöst, wenn der Netzbetreiber seine Leistung in nicht nur unbe-
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deutendem Umfang unentgeltlich erbringen muss. Eine derart weitgehende Re-
gelungsbefugnis ist § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 EnWG nicht zu entnehmen.
bb)
§ 19 Abs. 2 StromNEV in der hier maßgeblichen Fassung sieht ei-
ne unentgeltliche Nutzung durch den in Satz 2 der Regelung definierten Nutzer-
kreis vor.
(1)
Die mit einer intensiven Netznutzung bei hoher Bandlast einher-
gehende Stabilisierung des Netzes kann nicht als Gegenleistung angesehen
werden, die eine Befreiung von der Zahlung eines Netzentgelts rechtfertigt.
Der vom Gesetzgeber als ausschlaggebend für die Entgeltbefreiung an-
gesehene Umstand, dass eine intensive Netznutzung mit hoher Bandlast einen
stabilisierenden Effekt auf das Netz ausübt, ist keine Gegenleistung, sondern
eine bloße Folge der Netznutzung. Diese Folge mag für den Netzbetreiber in
einzelnen Fällen aus technischen Gründen von so hohem Interesse sein, dass
es aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll erscheint, ein geringeres Nutzungsentgelt
zu verlangen. Die hier maßgebliche Fassung von § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV
macht die Befreiung von den Netzentgelten jedoch nicht von solchen Voraus-
setzungen abhängig. Sie stellt allein auf den Umfang der Nutzung ab.
Die abstrakte Möglichkeit, dass eine solche Nutzung einen erwünschten
und geldwerten Stabilisierungseffekt erzielen kann, kann aber, wie das Be-
schwerdegericht zutreffend ausgeführt hat, für sich gesehen nicht als Gegen-
leistung qualifiziert werden, die der Zahlung eines Entgelts gleichsteht. Ob und
in welchem Umfang positive Effekte eintreten, hängt nicht nur vom Umfang der
Nutzung ab, sondern auch vom Nutzungsprofil, insbesondere von dem Beitrag
an der zeitgleichen Jahreshöchstlast (vgl. § 16 Abs. 1 Satz 3 StromNEV). Vor
diesem Hintergrund kann ein großer Nutzungsumfang allein auch bei typisie-
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render Betrachtung nicht als Gegenleistung angesehen werden, die es nahele-
gen könnte, von der Erhebung eines Nutzungsentgelts vollständig abzusehen.
(2)
Die in § 19 Abs. 2 Satz 6 StromNEV vorgesehenen Erstattungs-
leistungen durch Übertragungsnetzbetreiber stellen ebenfalls kein Entgelt im
Sinne von § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 EnWG dar.
Als Entgelt im Sinne dieser Vorschrift kann nach allgemeinen Grundsät-
zen nur eine Leistung angesehen werden, die der Netznutzer erbringt oder die
jedenfalls auf Veranlassung des Netznutzers als Gegenleistung für die Inan-
spruchnahme des Netzes erbracht wird. Die in § 19 Abs. 2 Satz 6 StromNEV
vorgesehene Erstattungsleistung erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Die Be-
treiber von Übertragungsnetzen nehmen die Leistung, um deren Vergütung es
geht, nicht in Anspruch und sie erbringen die Erstattungsleistung nicht auf Ver-
anlassung des Nutzers. Die Erstattung dient vielmehr dem Ausgleich dafür,
dass der Netzbetreiber seine Leistungen gegenüber bestimmten Netznutzern
unentgeltlich erbringen muss, und zwar dergestalt, dass das entgangene Ent-
gelt im wirtschaftlichen Ergebnis von Dritten zu tragen ist.
Der Umstand, dass die Erstattungsleistung auch auf Verbraucher umge-
legt wird, die nach § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV von den Netzentgelten befreit
sind, führt entgegen der Auffassung der Bundesnetzagentur nicht zu einer ab-
weichenden Beurteilung. Dieser Mechanismus hat zwar zur Folge, dass der
vom Netzentgelt befreite Verbraucher in gewissem Umfang Zahlungen erbrin-
gen muss, die mit der Nutzung des Netzes durch ihn in Verbindung stehen. Da-
raus folgt aber nicht, dass die Umlage als Gegenleistung für die Netznutzung
anzusehen ist. Sie stellt vielmehr eine zusätzliche Abgabe dar, die zwar an den
Tatbestand der Netznutzung anknüpft, aber der Kompensation von Mindererlö-
sen dient, die der Gesamtheit der Netzbetreiber aufgrund der Genehmigung
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von individuellen Netzentgelten entstanden sind. Eine Ermächtigung zur Erhe-
bung einer solchen Abgabe ist in § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 3 EnWG nicht
vorgesehen.
2.
Angesichts dessen ist das Beschwerdegericht zu Recht zu dem
Ergebnis gelangt, dass die angefochtene Genehmigung einer ausreichenden
Ermächtigungsgrundlage entbehrt.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 90 Satz 2 EnWG. Ebenso
wie im Beschwerdeverfahren liegen keine Gründe vor, eine Erstattung von au-
ßergerichtlichen Auslagen der Antragstellerin anzuordnen.
IV.
Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 50 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 GKG und § 3 ZPO. Sie entspricht der Festsetzung des Beschwer-
dewerts durch das Beschwerdegericht.
Zu Recht hat sich das Beschwerdegericht bei der Festsetzung des Werts
an der Höhe der Entgelte orientiert, die die Betroffene für Stromlieferungen an
die betroffene Abnahmestelle in Rechnung stellen kann, wenn die angefochtene
Genehmigung aufgehoben wird. Dass die Betroffene bei Fortbestand der Ge-
nehmigung die Möglichkeit hätte, auf anderem Wege Kompensation für die ent-
gangenen Entgelte zu erlangen, führt entgegen der Auffassung der Bundes-
netzagentur nicht zur Annahme eines geringeren Werts. Mittelbare wirtschaftli-
che Folgen einer angefochtenen Entscheidung sind bei der Festsetzung des
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Gegenstandswerts grundsätzlich nicht zu berücksichtigen (BGH, Beschluss
vom 21. Dezember 1989 - VII ZR 152/88, NJW-RR 1990, 958; Beschluss vom
7. Dezember 2000 - V ZR 335/99, MDR 2001, 292, 293).
Limperg
Strohn
Grüneberg
Bacher
Deichfuß
Vorinstanz:
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 08.05.2013 - VI-3 Kart 178/12 (V) -