Urteil des BGH vom 12.07.2016

Unbefristete Genehmigung Leitsatzentscheidung

ECLI:DE:BGH:2016:120716BENVR15.15.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
Verkündet am:
12. Juli 2016
Bürk
Amtsinspektorin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem energiewirtschaftsrechtlichen Verwaltungsverfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
Unbefristete Genehmigung
EnWG § 29 Abs. 2; StromNEV § 19 Abs. 2
a) § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG ermächtigt nicht nur zu einer "substitutiven" Än-
derung, sondern auch zur ersatzlosen Aufhebung einer vorangegangenen
Entscheidung.
b) Eine Änderung nach § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG setzt nicht voraus, dass zu-
gleich der Tatbestand von § 48 oder § 49 VwVfG erfüllt ist.
c) Eine Änderung gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG ist auch dann zulässig,
wenn die einschlägigen Rechtsvorschriften unverändert geblieben sind, sich
nach dem Erlass der betroffenen Regelung aber neue Erkenntnisse erge-
ben haben, die zu der Beurteilung führen, dass die bisherige Regelung den
Anforderungen dieser Rechtsvorschriften nicht genügt.
BGH, Beschluss vom 12. Juli 2016 - EnVR 15/15 - OLG Düsseldorf
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Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 12. Juli 2016 durch die Präsidentin des Bundesgerichtshofs Limperg, den
Vorsitzenden Richter Dr. Raum und die Richter Dr. Kirchhoff, Dr. Grüneberg
und Dr. Bacher
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 3. Kartellsenats
des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 4. Februar 2015 wird zu-
rückgewiesen.
Der Betroffene trägt die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens
einschließlich der notwendigen Auslagen der Bundesnetzagentur.
Die weitere Beteiligte trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf
10.306,06 Euro festgesetzt.
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Gründe:
A. Der Betroffene betreibt Einrichtungen zur Wasserversorgung, die
über das von der Beteiligten betriebene Netz mit Elektrizität versorgt werden.
Im Oktober und November 2012 erteilte die Bundesnetzagentur auf An-
trag des Betroffenen drei Genehmigungen zur Vereinbarung reduzierter Netz-
entgelte für ein Wasserwerk, ein Haupt- und ein Zwischenpumpwerk. Die Prü-
fung der Vereinbarungen erfolgte auf der Grundlage des von der Bundesnetz-
agentur herausgegebenen Leitfadens zur Genehmigung von individuellen Netz-
entgelten mit Stand von September 2011 (nachfolgend: Leitfaden 2011).
Im Jahr 2013 hob die Bundesnetzagentur im Hinblick auf die am
5. Dezember 2012 getroffene Festlegung zur sachgerechten Ermittlung indivi-
dueller Entgelte nach § 19 Abs. 2 Satz 1 StromNEV (BK4-12-1656) alle auf der
Grundlage des Leitfadens 2011 erteilten Genehmigungen für die Zeit ab
1. Januar 2015 auf. Die Beschwerde des Betroffenen gegen die mit drei Be-
scheiden vom 13. September 2013 verfügte Aufhebung der ihm erteilten Ge-
nehmigungen ist erfolglos geblieben. Dagegen wendet sich der Betroffene mit
der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde, der die Bun-
desnetzagentur entgegentritt.
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B. Das zulässige Rechtsmittel ist unbegründet.
I.
Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung (OLG Düsseldorf,
RdE 2015, 200) im Wesentlichen wie folgt begründet:
Die Bundesnetzagentur sei nach § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG zur Aufhe-
bung der Genehmigungen befugt gewesen.
Nach § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG sei die Änderung einer Genehmigung
auch dann zulässig, wenn sich die Einschätzung der Regulierungsbehörde ge-
ändert habe, etwa weil neue Erkenntnisse über die Möglichkeiten eines effizien-
ten Netzbetriebs vorlägen. Dies ergebe sich auch aus dem Zweck der Norm.
Diese solle der Regulierungsbehörde in Umsetzung der Vorgaben aus Art. 23
Abs. 4 der Richtlinien 2003/54/EG und 2003/55/EG ausreichende Flexibilität
einräumen, um die Effektivität der Regulierung zu sichern. Die Änderungsbe-
fugnis ermögliche nicht nur eine substitutive Änderung, sondern auch eine Auf-
hebung. Sie erfasse bestandskräftige Entscheidungen, und zwar unabhängig
davon, ob die Voraussetzungen der §§ 48, 49 VwVfG vorlägen.
Den angegriffenen Bescheiden liege eine Änderung der Einschätzung
zugrunde. Durch die Aufhebung werde die Möglichkeit geschaffen, die den Ge-
nehmigungen zugrunde liegende Methodik an die in der Festlegung vom
5. Dezember 2012 erfolgte Neubestimmung anzupassen. Dass diese Festle-
gung nur Genehmigungsanträge für Vereinbarungen mit einer Laufzeit ab
1. Januar 2013 betreffe, führe nicht zu einer abweichenden Beurteilung.
Die Bundesnetzagentur habe das ihr eingeräumte Ermessen fehlerfrei
ausgeübt. Sie sei nicht gehalten gewesen, erteilte Genehmigungen nur in Fäl-
len aufzuheben, in denen eine erneute Genehmigung auf der Grundlage der
neuen Festlegung nicht in Betracht komme. Die Rechtmäßigkeit der Aufhebung
hänge auch nicht davon ab, ob diese Festlegung rechtmäßig sei.
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II. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung stand.
1. Das Beschwerdegericht hat § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG zutreffend
ausgelegt.
a) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ist die in § 29
Abs. 2 Satz 1 EnWG vorgesehene Befugnis der Regulierungsbehörde nicht auf
die Änderung von "nachrangigen" Bedingungen oder Methoden innerhalb des
durch eine Festlegung oder Genehmigung vorgegebenen Rahmens beschränkt.
Soweit die Voraussetzungen der Vorschrift erfüllt sind, ist die Regulierungsbe-
hörde vielmehr befugt, getroffene Festlegungen und erteilte Genehmigungen zu
ändern (im Ergebnis ebenso Britz/Herzmann in Britz/Hellermann/Hermes,
3. Auflage, § 29 EnWG Rn. 18; Wahlhäuser in Kment, § 29 EnWG Rn. 33; für
substitutive Änderungen auch Schmidt-Preuß in Berliner Kommentar zum
Energierecht, 3. Auflage, § 29 EnWG Rn. 69 f.).
aa) Schon aus dem Wortlaut und dem systematischen Zusammenhang
von § 29 Abs. 1 und 2 EnWG ergibt sich, dass eine Änderung in der Form der
Festlegung oder Genehmigung zu erfolgen hat und dass hierbei bereits erfolgte
Festlegungen oder erteilte Genehmigungen geändert werden dürfen.
Gemäß § 29 Abs. 1 EnWG trifft die Regulierungsbehörde unter anderem
Entscheidungen über die Bedingungen und Methoden für den Netzanschluss
oder den Netzzugang nach bestimmten Rechtsverordnungen durch Festlegung
oder durch Genehmigung. § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG sieht insoweit nichts Ab-
weichendes vor. Hieraus ist zu folgern, dass auch eine Änderungsentscheidung
in der in § 29 Abs. 1 EnWG vorgesehenen Form zu treffen ist, also durch Fest-
legung oder Genehmigung.
Gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG darf die Regulierungsbehörde festge-
legte oder genehmigte Bedingungen oder Methoden ändern, also solche, die
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bereits Gegenstand einer vorangegangenen Entscheidung waren. Daraus
ergibt sich, dass die Änderungsentscheidung nicht nur "nachrangige" Fragen
regeln darf, sondern auch - und gerade - solche Fragen, die bereits in der
vorangegangenen Entscheidung eine Regelung gefunden haben.
bb) Dies steht mit dem Zweck der Vorschrift in Einklang.
§ 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG soll sicherstellen, dass die festgelegten oder
genehmigten Bedingungen angemessen sind und nichtdiskriminierend ange-
wendet werden (BT-Drucks. 15/3917 S. 62). Um diesen Zweck zu erreichen,
kann es erforderlich sein, bereits getroffene Regelungen zu ändern.
b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ermächtigt § 29
Abs. 2 Satz 1 EnWG nicht nur zu einer "substitutiven" Änderung, d.h. zum voll-
ständigen oder teilweisen Ersatz einer ergangenen Regelung durch eine neue
Regelung, sondern auch zur ersatzlosen Aufhebung einer vorangegangenen
Entscheidung (im Ergebnis ebenso Wahlhäuser in Kment, § 29 EnWG Rn. 32
und wohl auch Britz/Herzmann in Britz/Hellermann/Hermes, 3. Auflage, § 29
EnWG Rn. 18 und 24; abweichend Schmidt-Preuß in Berliner Kommentar zum
Energierecht, 3. Auflage, § 29 EnWG Rn. 65).
aa) Aus dem Wortlaut der Vorschrift lassen sich insoweit keine zwingen-
den Schlussfolgerungen ziehen.
Im allgemeinen Verwaltungsrecht wird allerdings verschiedentlich zwi-
schen der Aufhebung und der Änderung von Verwaltungsakten unterschieden.
So stellt § 51 Abs. 1 VwVfG die beiden Begriffe als mögliche Ziele eines An-
trags auf Wiederaufgreifen eines Verfahrens nebeneinander. Im Verwaltungs-
prozessrecht ist die Unterscheidung von Bedeutung, weil ein Gericht einen
Verwaltungsakt auf eine Anfechtungsklage oder -beschwerde hin grundsätzlich
nur aufheben, nicht aber durch eine eigene Verfügung ersetzen darf. Selbst die
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teilweise Aufhebung eines Verwaltungsakts ist unzulässig, wenn die angefoch-
tene Verfügung dadurch in ihrem Wesen verändert würde (vgl. nur BGH, Be-
schluss vom 14. Juli 2015 - KVR 77/13, WuW/E DE-R 4871 Rn. 11 - Wasser-
preise Calw II).
Hieraus ergeben sich im vorliegenden Zusammenhang indes keine zwin-
genden Schlussfolgerungen. Aus der aufgezeigten Unterscheidung ist lediglich
zu entnehmen, dass eine Befugnis zur Aufhebung einer Entscheidung weniger
weit reicht als eine Befugnis zu deren inhaltlicher Änderung. § 29 Abs. 2 Satz 1
EnWG sieht zugunsten der Regulierungsbehörde insoweit aber die weiter rei-
chende Befugnis vor.
bb) Dem bereits oben aufgezeigten Zweck der Vorschrift ist zu entneh-
men, dass § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG die Befugnis zur ersatzlosen Aufhebung
einer vorangegangenen Entscheidung umfasst.
Um zu gewährleisten, dass Bedingungen und Methoden für den Netzan-
schluss oder den Netzzugang weiterhin angemessen sind und nichtdiskriminie-
rend angewendet werden, mag es zwar häufig geboten sein, eine getroffene
Regelung ganz oder teilweise durch eine neue Regelung zu ersetzen. Je nach
Konstellation kann es aber ausreichen, eine getroffene Regelung aufzuheben,
etwa deswegen, weil die einschlägigen Gesetze und Verordnungen sowie even-
tuell bereits erlassene andere Festlegungen hinreichende Vorgaben für das zu
regelnde Sachgebiet enthalten. Angesichts dessen erscheint es im vorliegen-
den Zusammenhang folgerichtig, nicht zwischen den beiden Konstellationen zu
unterscheiden, sondern beide unter den seinem Wortlaut nach offenen Begriff
der Änderung zu subsumieren.
c) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ergibt sich aus der
Regelung in § 29 Abs. 2 Satz 2 EnWG, wonach die allgemeinen Vorschriften in
§§ 48 und 49 VwVfG unberührt bleiben, nicht die Schlussfolgerung, dass eine
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Änderung nach § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG nur dann zulässig ist, wenn zugleich
der Tatbestand von § 48 oder § 49 VwVfG erfüllt ist. § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG
normiert vielmehr einen eigenständigen Tatbestand (im Ergebnis ebenso
Britz/Herzmann in Britz/Hellermann/Hermes, 3. Auflage, § 29 EnWG Rn. 18;
Britz N&R 2006, 6, 8; Wahlhäuser in Kment, § 29 EnWG Rn. 38; für substitutive
Änderungen auch Schmidt-Preuß in Berliner Kommentar zum Energierecht,
3. Auflage, § 29 EnWG Rn. 70).
aa) Der Wortlaut des § 29 Abs. 2 Satz 2 EnWG, wonach die §§ 48 und
49 VwVfG unberührt bleiben, lässt allerdings offen, ob die Voraussetzungen
einer dieser Vorschriften zusätzlich zu denjenigen der Sondervorschrift erfüllt
sein müssen.
bb) Eine Kumulation der Tatbestandsvoraussetzungen stünde indes in
Widerspruch zum Sinn und Zweck der Regelung.
Die Beurteilung der Frage, ob Bedingungen und Methoden für den Netz-
anschluss oder den Netzzugang angemessen sind und nichtdiskriminierend
angewendet werden, kann von zahlreichen Faktoren abhängen, die aufgrund
der komplexen Strukturen des Netzbetriebs häufig schwer zu beurteilen sind
und raschem zeitlichem Wandel unterliegen können. Angesichts dessen ist, wie
das Beschwerdegericht zutreffend ausgeführt hat, ein möglichst flexibles In-
strumentarium erforderlich, das es der Regulierungsbehörde ermöglicht, auch in
Situationen angemessen zu reagieren, die mit den in §§ 48 und 49 VwVfG vor-
gesehenen Mitteln nur schwer zu bewältigen wären. Dieses Instrumentarium
hat der Gesetzgeber mit § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG zur Verfügung gestellt.
Dieser Zielsetzung würde es widersprechen, wenn die Voraussetzungen
für die Änderung einer getroffenen Festlegung oder einer erteilten Genehmi-
gung im Vergleich zu den allgemeinen Vorschriften durch zusätzliche Tatbe-
standsmerkmale sogar noch verschärft würden. Aus dem Umstand, dass § 29
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Abs. 2 Satz 1 EnWG eigenständige Tatbestandsmerkmale enthält, ist ange-
sichts dessen zu folgern, dass eine Änderung schon dann zulässig ist, wenn
diese Tatbestandsmerkmale erfüllt sind. Daneben bleiben eine Aufhebung nach
§ 48 VwVfG und ein Widerruf nach § 49 VwVfG zulässig, sofern die Vorausset-
zungen dieser Vorschriften vorliegen.
cc) Der Umstand, dass § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG - anders als § 48
Abs. 2 und 3 sowie § 49 Abs. 2 und 3 VwVfG - keine ausdrücklichen Regelun-
gen zum Vertrauensschutz enthält, führt nicht zu einer abweichenden Beurtei-
lung.
(1) Aus dem Anwendungsbereich und dem Zweck von § 29 Abs. 2
Satz 1 EnWG ergibt sich, dass Änderungen nach dieser Vorschrift in der Regel
nur mit Wirkung für die Zukunft angeordnet werden. Solche Anpassungen sind
unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes grundsätzlich als weniger
kritisch anzusehen.
Zwar kann auch von einer mit Wirkung für die Zukunft angeordneten Än-
derung eine "unechte" Rückwirkung ausgehen, die selbst bei Gesetzen und
Verordnungen unter bestimmten Voraussetzungen mit den Grundsätzen grund-
rechtlichen und rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes nicht vereinbar ist (vgl.
dazu BVerfGE 127, 1, 16 ff.; BGH, Beschluss vom 30. April 2013 - EnVR 22/12,
RdE 2013, 321 Rn. 56 - Regionalwerk Bodensee GmbH & Co. KG). Um solche
Belastungen zu vermeiden, bedarf es im Zusammenhang mit § 29 Abs. 2
Satz 1 EnWG jedoch keiner ausdrücklichen gesetzlichen Regelung. Die Vor-
aussetzungen, unter denen eine "unechte" Rückwirkung unzulässig ist, sind
verfassungsrechtlich hinreichend geklärt.
Diese Grundsätze sind bei Änderungsentscheidungen der Regulierungs-
behörde in der Regel entsprechend heranzuziehen. Solche Entscheidungen
beruhen - auch wenn es um die Änderung von Genehmigungen gegenüber ein-
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zelnen Antragstellern geht - schon wegen des damit verfolgten Zwecks, Diskri-
minierungen zu vermeiden, regelmäßig auf einem allgemeineren Regelungs-
konzept. Ihre Wirkungen kommen deshalb in ihrer Gesamtheit denjenigen einer
Rechtsnorm häufig nahe. Angesichts dessen muss den Erfordernissen des Ver-
trauensschutzes bei der Ausübung des der Regulierungsbehörde in § 29 Abs. 2
Satz 1 EnWG eingeräumten Ermessens sorgfältig Rechnung getragen werden
(im Ergebnis ebenso Britz/Herzmann in Britz/Hellermann/Hermes, 3. Auflage,
§ 29 EnWG Rn. 23; Britz N&R 2006, 6, 8; Wahlhäuser in Kment, § 29 EnWG
Rn. 39). Für einen ergänzenden Rückgriff auf einzelne Regelungen aus § 48
oder § 49 VwVfG besteht vor diesem Hintergrund weder eine ausreichende
Grundlage noch ein Bedürfnis (im Ergebnis ebenso Britz/Herzmann, aaO, § 29
EnWG Rn. 22; Britz N&R 2006, 6, 8; Wahlhäuser, aaO, § 29 EnWG Rn. 38).
(2) Ob § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG darüber hinaus Änderungen mit Wir-
kung für die Vergangenheit ermöglicht (verneinend Britz/Herzmann in
Britz/Hellermann/Hermes, 3. Auflage, § 29 EnWG Rn. 24; Wahlhäuser in
Kment, § 29 EnWG Rn. 40 und wohl auch Schmidt-Preuß in Berliner Kommen-
tar zum Energierecht, 3. Auflage, § 29 EnWG Rn. 71 ff.), bedarf im Streitfall
ebenfalls keiner Entscheidung. Die angefochtenen Verfügungen ordnen eine
Änderung nur für Zeiträume nach deren Erlass an.
(3) Ebenfalls dahingestellt bleiben kann, ob es in Ausnahmefällen einer
entsprechenden Anwendung der Entschädigungsregel in § 49 Abs. 6 VwVfG
bedarf (dafür Schmidt-Preuß in Berliner Kommentar zum Energierecht,
3. Auflage, § 29 EnWG Rn. 76). Die angefochtenen Verfügungen begegnen,
wie noch näher darzulegen sein wird, unter dem Gesichtspunkt des Vertrau-
ensschutzes keinen Bedenken.
d) Eine Änderung gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG ist auch dann zu-
lässig, wenn die einschlägigen Rechtsvorschriften unverändert geblieben sind,
sich nach dem Erlass der betroffenen Regelung aber neue Erkenntnisse erge-
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ben haben, die zu der Beurteilung führen, dass die bisherige Regelung den An-
forderungen dieser Rechtsvorschriften nicht genügt (im Ergebnis ebenso
Britz/Herzmann in Britz/Hellermann/Hermes, 3. Auflage, § 29 EnWG Rn. 20;
abweichend Schmidt-Preuß in Berliner Kommentar zum Energierecht,
3. Auflage, § 29 EnWG Rn. 64 und wohl auch Wahlhäuser in Kment, § 29
EnWG Rn. 33).
aa) Der Umstand, dass die Regulierungsbehörde in der Regel mit einem
komplexen Sachverhalt konfrontiert ist und ihre Entscheidungen häufig auf
Prognoseelemente stützen muss, kann es mit sich bringen, dass sich eine Ein-
schätzung, auf deren Grundlage eine Festlegung oder Genehmigung ergangen
ist, aufgrund späterer Entwicklungen oder aufgrund später gewonnener Er-
kenntnisse über technische, wirtschaftliche oder sonstige relevante Verhältnisse
des Netzbetriebs nachträglich als unzutreffend erweist. Bei dieser Ausgangsla-
ge muss es angesichts der Zielsetzung von § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG möglich
sein, zumindest für die Zukunft auch dann einen mit dem Gesetz in Einklang
stehenden Zustand herbeizuführen, wenn die maßgeblichen Rechtsvorschriften
unverändert geblieben sind.
Entgegen der vom Beschwerdegericht (im Anschluss an Britz/Herzmann,
aaO, § 29 EnWG Rn. 20) verwendeten Formulierung dürfte eine Änderungsbe-
fugnis allerdings nicht schon dann bestehen, wenn die Regulierungsbehörde
auf der Grundlage der bisherigen Erkenntnisse nachträglich zu einer anderen
Einschätzung oder Bewertung gelangt. Sie besteht aber jedenfalls dann, wenn
die neue Einschätzung auf technischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Gege-
benheiten des Netzbetriebs beruht, die erst nachträglich zutage getreten sind
und deshalb bei der ursprünglichen Entscheidung nicht berücksichtigt worden
sind.
bb) Wenn diese Voraussetzung vorliegt, besteht die Änderungsbefugnis
unabhängig davon, ob sich im Lichte der neuen Erkenntnisse bereits die ur-
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sprüngliche Entscheidung nachträglich als rechtswidrig erweist (im Ergebnis
ebenso Britz/Herzmann in Britz/Hellermann/Hermes, 3. Auflage, § 29 EnWG
Rn. 21; Wahlhäuser in Kment, § 29 EnWG Rn. 35; abweichend auch insoweit
Schmidt-Preuß in Berliner Kommentar zum Energierecht, 3. Auflage, § 29
EnWG Rn. 72).
Das in § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG normierte Erfordernis, wonach die Än-
derung erforderlich sein muss, damit die festgelegten oder genehmigten Bedin-
gungen und Methoden "weiterhin" den einschlägigen Voraussetzungen ent-
sprechen, könnte bei isolierter Betrachtung zwar dafür sprechen, dass nur an-
fänglich rechtmäßige Entscheidungen geändert werden dürfen. Die damit ver-
bundene Privilegierung anfänglich rechtswidriger Entscheidungen wäre vor dem
aufgezeigten Hintergrund aber mit dem Zweck von § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG
nicht vereinbar.
§ 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG dient auch der Korrektur von früheren Ein-
schätzungen, die sich im Lichte neuer Erkenntnisse als unzutreffend erwiesen
haben. Angesichts dessen muss es ausreichen, wenn die Regulierungsbehörde
beim Erlass der ursprünglichen Entscheidung von deren Rechtmäßigkeit aus-
gegangen ist und die Änderung dem Ziel dient, auch im Lichte der neu gewon-
nenen Erkenntnisse weiterhin rechtmäßige Verhältnisse zu gewährleisten.
2. Rechtsfehlerfrei ist das Beschwerdegericht zu dem Ergebnis gelangt,
dass die Voraussetzungen von § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG im Streitfall erfüllt
sind.
a) Die auf Antrag des Betroffenen im Jahr 2012 erteilten Genehmigun-
gen sind Entscheidungen im Sinne von § 29 Abs. 1 EnWG.
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Die Genehmigungen sind auf der Grundlage von § 19 Abs. 2 Satz 1
StromNEV ergangen. Die Stromnetzentgeltverordnung beruht auf § 24 EnWG
und gehört damit zu den in § 29 Abs. 1 EnWG aufgeführten Verordnungen.
b) Zu Recht hat das Beschwerdegericht die Aufhebung der Genehmi-
gungen als erforderlich angesehen, um sicherzustellen, dass die Bedingungen
und Methoden zur Berechnung des vom Betroffenen zu zahlenden Netzentgelts
weiterhin den einschlägigen rechtlichen Anforderungen genügen.
aa) Zu den Voraussetzungen für eine zulässige Vereinbarung individuel-
ler Netzentgelte gehörten seit dem Inkrafttreten der Festlegung vom
5. Dezember 2012 (BK4-12-1656) die darin normierten Anforderungen, die
durch die Festlegung vom 11. Dezember 2013 (BK-4-739) mit Wirkung vom
1. Januar 2014 nochmals geändert worden sind.
Beide Regelungen sehen vor, dass ein individuelles Netzentgelt nur dann
vereinbart werden darf, wenn die Differenz zwischen der vom Letztverbraucher
in Anspruch genommenen Höchstlast und der höchsten Last innerhalb des re-
levanten Hochlastzeitfensters mindestens 100 Kilowatt beträgt. Der zuvor her-
angezogene Leitfaden 2011 sah demgegenüber nur vor, dass die genannte
Differenz mindestens einen bestimmten Prozentwert der Jahreshöchstlast er-
reicht, der (insoweit unverändert) für die Umspannebene von Mittel- auf Nieder-
spannung und für die Netzebene der Niederspannung jeweils 30 % beträgt.
Bei den drei Abnahmestellen des Betroffenen ist ausweislich der Ge-
nehmigungsbescheide lediglich die prozentuale Erheblichkeitsschwelle über-
schritten, nicht aber der Mindestwert von 100 Kilowatt. Damit liegen auf der
Grundlage der damals getroffenen tatsächlichen Feststellungen die Vorausset-
zungen für die Vereinbarung eines individuellen Netzentgelts nicht mehr vor.
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bb) Der Umstand, dass die Festlegung vom 5. Dezember 2012 nur für
Genehmigungsanträge gilt, die Netzentgeltvereinbarungen mit einer Laufzeit ab
dem 1. Januar 2013 oder später zum Gegenstand haben, führt entgegen der
Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht zu einer abweichenden Beurteilung.
Die vom Betroffenen im Jahr 2012 gestellten Anträge fallen damit zwar
nicht in den Anwendungsbereich der Festlegung, denn nach deren Begründung
(S. 10 unter 4) ist hierfür der Beginn der Vertragslaufzeit maßgeblich. Dies steht
einer Aufhebung der auf Grundlage des früher herangezogenen Leitfadens er-
teilten Genehmigungen jedoch nicht entgegen. Mit der Aufhebung wird die
Grundlage dafür geschaffen, dass die mit dem Betroffenen geschlossenen Ent-
geltvereinbarungen ab 1. Januar 2015 den neuen Kriterien unterfallen. Dies
ermöglicht eine einheitliche Anwendung der neuen Kriterien für alle Netzbetrei-
ber und Letztverbraucher und steht deshalb in Einklang mit dem Zweck des
§ 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG.
cc) Zu Recht hat das Beschwerdegericht entschieden, dass die Bundes-
netzagentur nicht gehalten war, vor einer Aufhebung der erteilten Genehmigun-
gen zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung
auf der Grundlage der Festlegung vom 5. Dezember 2012 weiterhin gegeben
sind.
Wie bereits oben dargelegt wurde, umfasst die in § 29 Abs. 2 Satz 1
EnWG normierte Änderungsbefugnis die ersatzlose Aufhebung einer früher ge-
troffenen Regelung, sofern eine solche Entscheidung geeignet und erforderlich
ist, um sicherzustellen, dass die zur Prüfung stehenden Bedingungen oder Me-
thoden für den Netzanschluss oder den Netzzugang weiterhin den einschlägi-
gen rechtlichen Anforderungen genügen. Diese Voraussetzungen sind im Streit-
fall erfüllt.
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(1) Die Aufhebung der erteilten Genehmigungen ist geeignet, die Kon-
formität der mit dem Betroffenen geschlossenen Entgeltvereinbarungen auch
für die Zukunft zu gewährleisten.
Sie eröffnet die Möglichkeit, die Vereinbarung einer erneuten inhaltlichen
Überprüfung zu unterziehen, hierbei die neuen Anforderungen aus der Festle-
gung vom 5. Dezember 2012 - nunmehr einschließlich der Änderungen aus der
nachfolgenden Festlegung vom 11. Dezember 2013 (BK-4-13-739) - zugrunde
zu legen, und damit zu gewährleisten, dass auch in Zukunft alle Vereinbarun-
gen über individuelle Netzentgelte nach einheitlichen Kriterien beurteilt werden.
(2) Ob dieses Ziel in gleicher Weise auch dadurch zu erreichen gewesen
wäre, dass die Entscheidung über die Aufhebung der erteilten Genehmigungen
und die Entscheidung über eine Genehmigung für die Folgezeit zusammenge-
fasst werden, hat das Beschwerdegericht zu Recht offen gelassen. Eine solche
Vorgehensweise wäre im Vergleich zu separaten Entscheidungen über die bei-
den Fragenkomplexe jedenfalls nicht als milderes Mittel anzusehen.
Dabei kann offen bleiben, ob diese Beurteilung auf den Umstand gestützt
werden kann, dass die abweichende Vorgehensweise zu höherem Aufwand für
die Bundesnetzagentur geführt hätte. Dem höheren Aufwand auf Verwaltungs-
seite hätte jedenfalls kein erkennbarer Vorteil für den Betroffenen gegenüber-
gestanden. Hierbei ist unerheblich, ob bei Erlass der Aufhebungsverfügungen
noch eine Genehmigung erforderlich war oder ob bereits damals die in der seit
22. August 2013 geltenden Fassung von § 19 Abs. 2 StromNEV (seit 1. Januar
2014: § 19 Abs. 2 Satz 7 StromNEV) normierten Voraussetzungen erfüllt waren,
unter denen eine schriftliche Anzeige der getroffenen Vereinbarung genügt. Im
einen wie im anderen Fall war die Bundesnetzagentur gehalten, die Rechtmä-
ßigkeit der getroffenen Vereinbarung zu überprüfen. Hierzu durfte sie sich nicht
damit begnügen, die im Jahr 2012 festgestellten Nutzungsdaten zugrunde zu
legen. Vielmehr musste sie die im Zeitpunkt der erneuten Prüfung relevanten
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Daten ermitteln. Die damit verbundenen Belastungen für den Betroffenen wären
im Falle einer kombinierten Entscheidung nicht geringer gewesen als bei der
von der Bundesnetzagentur gewählten Vorgehensweise.
dd) Ebenfalls rechtsfehlerfrei hat das Beschwerdegericht nicht geprüft,
ob die in der Festlegung vom 5. Dezember 2012 erstmals vorgenommene Nor-
mierung eines absoluten Schwellenwerts von 100 Kilowatt rechtmäßig ist.
Der Betroffene hat weder diese Festlegung noch die inhaltsgleiche Rege-
lung in der Festlegung vom 11. Dezember 2013 mit Rechtsmitteln angegriffen.
Die darin getroffene Entscheidung ist deshalb für ihn bindend, weil die Be-
standskraft von Allgemeinverfügungen grundsätzlich für jeden Betroffenen ge-
sondert zu beurteilen ist. Etwas anderes gälte nur dann, wenn die getroffenen
Regelungen und Regelungsbestandteile einen untrennbaren Zusammenhang
bildeten, so dass nicht einzelne Elemente von ihnen isoliert angefochten wer-
den könnten (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2014 - EnVR 54/13, RdE
2015, 183 Rn. 20 ff. - Festlegung Tagesneuwerte II). Diese Voraussetzung ist
im Streitfall nicht erfüllt.
3. Zu Recht ist das Beschwerdegericht zu dem Ergebnis gelangt, dass
die Bundesnetzagentur das ihr in § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG eingeräumte Er-
messen fehlerfrei ausgeübt hat.
a) Die Bundesnetzagentur hat ihre Entscheidung maßgeblich auf die
Erwägung gestützt, die Aufhebung der erteilten Genehmigungen eröffne die
Möglichkeit, die Vereinbarkeit der nach der bisherigen Ermittlungsmethode ge-
nehmigten Altfälle mit der zwischenzeitlich festgelegten neuen Ermittlungsme-
thode zu überprüfen.
Diese Erwägung steht in Einklang mit dem Zweck der Ermächtigungs-
grundlage und lässt auch im Übrigen keinen Ermessensfehler erkennen.
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b) Zutreffend hat das Berufungsgericht entschieden, dass die Bundes-
netzagentur nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes gehalten war, von der
Aufhebung der Genehmigungen zum 31. Dezember 2014 abzusehen.
Wie bereits oben dargelegt wurde, kann dem Aspekt des Vertrauens-
schutzes bei der Ausübung des in § 29 Abs. 2 Satz 1 EnWG eröffneten Ermes-
sens je nach Konstellation allerdings ausschlaggebende Bedeutung zukommen.
Im Streitfall hat die Bundesnetzagentur dem Betroffenen jedoch eine Über-
gangsfrist von mehr als einem Jahr eingeräumt. Dieser Zeitraum gab dem Be-
troffenen ausreichend Gelegenheit, sich auf die geänderte Situation einzustel-
len und gegebenenfalls auf die Genehmigung oder Anzeige einer Entgeltver-
einbarung für die Zeit ab 1. Januar 2015 hinzuwirken. Die ursprüngliche Ge-
nehmigung war zwar nicht befristet. Hieraus konnte der Betroffene aber nicht
die berechtigte Erwartung ableiten, dass sie auf unabsehbare Zeit Bestand ha-
ben könnte. Gerade weil es an einer Befristung fehlte, musste er vielmehr damit
rechnen, dass sie bei Änderung von maßgeblichen Umständen mit Wirkung für
die Zukunft geändert wird.
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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 90 Satz 2 EnWG, die Festset-
zung des Gegenstandswerts auf § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 GKG und § 3 ZPO.
Limperg
Raum
Kirchhoff
Grüneberg
Bacher
Vorinstanz:
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 04.02.2015 - VI-3 Kart 96/13 (V) -
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