Urteil des BGH vom 17.11.2009

Individuelles Netzentgelt Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
EnVR 15/09 Verkündet
am:
17. November 2009
Bürk
Justizhauptsekretärin
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in der energiewirtschaftsrechtlichen Verwaltungssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Individuelles
Netzentgelt
StromNEV § 19 Abs. 2 Satz 2
Unter dem letzten Kalenderjahr im Sinne des § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV ist
das letzte abgeschlossene Kalenderjahr vor dem Angebot eines individuellen
Netzentgelts zu verstehen.
BGH, Beschluss vom 17. November 2009 - EnVR 15/09 - OLG Düsseldorf
- 2 -
Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 17. November 2009 durch den Präsidenten des Bundesgerichtshofs
Prof. Dr. Tolksdorf und die Richter Dr. Raum, Dr. Strohn, Dr. Grüneberg und
Dr. Bacher
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss
des 3.
Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom
14. Januar 2009 aufgehoben und wie folgt neu gefasst:
Auf die Beschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der Be-
schlusskammer 4 der Bundesnetzagentur vom 18. August 2008
aufgehoben. Die Bundesnetzagentur wird verpflichtet, den Antrag
der Beigeladenen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Se-
nats neu zu bescheiden.
Die Kosten des Beschwerde- und des Rechtsbeschwerdeverfah-
rens werden der Bundesnetzagentur auferlegt. Die außergerichtli-
chen Kosten der Beigeladenen trägt diese selbst.
Der Wert des Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeverfahrens
wird auf 500.000 € festgesetzt.
- 3 -
Gründe:
1
I. Die Betroffene begehrt die Genehmigung eines zwischen ihr und der
Beigeladenen, der Antragstellerin des Verwaltungsverfahrens, individuell verein-
barten Netzentgelts nach § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV.
Die Betroffene betreibt die Raffinerie G.
, die über die
Umspannanlage Ge. mit elektrischer Energie versorgt wird; die Um-
spannanlage gehört zum Netz der Beigeladenen und versorgt ausschließlich die
Raffinerie. Deren Stromverbrauch bewegte sich in den Jahren 1999 bis 2007
zwischen 300 und 350 GWh/a, die Betriebsstundenzahl lag in diesem Zeitraum
mit Ausnahme der Jahre 2001 und 2007 über 7.500 Stunden. Ursächlich für die
beiden Unterschreitungen war jeweils die Durchführung der nach der Dampf-
kesselverordnung vorgeschriebenen Wartungsarbeiten, währenddessen die An-
lage stillzustehen hatte.
2
Am 17./20. Dezember 2007 schlossen die Betroffene mit der Beigelade-
nen eine Vereinbarung über ein individuelles Netzentgelt für das Jahr 2008, für
das eine Betriebsstundenzahl von über 8.000 Stunden angenommen wurde. Die
mit Schreiben der Beigeladenen vom 20. Dezember 2007 beantragte Genehmi-
gung dieser Vereinbarung lehnte die Bundesnetzagentur mit Beschluss vom
18. August 2008 ab. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen hat
das Beschwerdegericht zurückgewiesen. Mit der - zugelassenen - Rechtsbe-
schwerde verfolgt die Betroffene ihr Begehren weiter.
3
II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der ange-
fochtenen Beschlüsse des Beschwerdegerichts und der Bundesnetzagentur und
zu deren Verpflichtung zur Neubescheidung.
4
- 4 -
5
1. Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie
folgt begründet:
6
Die Versagung der Genehmigung eines individuellen Netzentgelts für das
Jahr 2008 sei rechtmäßig. Das Angebot eines individuellen Netzentgelts setze
gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV unter anderem voraus, dass im letzten
Kalenderjahr eine Benutzungsstundenzahl von mindestens 7.500 Stunden er-
reicht worden sei. Unter dem letzten Kalenderjahr sei nicht das letzte abge-
schlossene Kalenderjahr vor dem Angebot des individuellen Netzentgelts, son-
dern das Kalenderjahr vor dem Genehmigungszeitraum zu verstehen. Dies er-
gebe sich aus dem Gesamtzusammenhang und dem Sinn und Zweck des § 19
Abs. 2 StromNEV. So spreche etwa die in § 19 Abs. 2 Satz 8 StromNEV für das
Genehmigungsverfahren vorgegebene Bearbeitungszeit von vier Wochen dafür,
dass der Verordnungsgeber von einem unmittelbar vor dem Genehmigungszeit-
raum liegenden Referenzzeitraum ausgegangen sei. Ferner sei gemäß § 19
Abs. 2 Satz 10 StromNEV die Genehmigung unter dem Vorbehalt zu erteilen,
dass ihre Voraussetzungen auch tatsächlich einträten; dies beziehe sich aber
auf die Zeit nach der Genehmigung und sei daher von dem Zeitraum des letzten
Kalenderjahres zu unterscheiden, so dass entsprechend der Intention des Ver-
ordnungsgebers ein überjähriger Zeitraum mit der Folge zugrunde zu legen sei,
dass das letzte Kalenderjahr i.S. des § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV dasjenige
vor dem Genehmigungszeitraum sei. Im somit maßgeblichen Jahr 2007 habe
die Betroffene lediglich eine Benutzungsstundenzahl von 6.870 Stunden er-
reicht, so dass die entsprechende Genehmigungsvoraussetzung nicht erfüllt
gewesen sei.
2. Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
7
- 5 -
a) Schon der Wortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV und die Syste-
matik der Norm legen nahe, dass unter dem letzten Kalenderjahr im Sinne die-
ser Vorschrift das letzte abgeschlossene Kalenderjahr vor dem Angebot eines
individuellen Netzentgelts zu verstehen ist. § 19 Abs. 2 Satz 2 begründet - wie
auch § 19 Abs. 2 Satz 1 StromNEV - einen Anspruch des Letztverbrauchers
gegenüber dem Netzbetreiber auf Abgabe des Angebots eines individuellen
Netzentgelts. Die Norm richtet sich daher an den Netzbetreiber. Dieser muss
prüfen, ob die Anspruchsvoraussetzungen - das Erreichen bestimmter Schwel-
lenwerte „im letzten Kalenderjahr“ - erfüllt sind. Da es sich hierbei nicht um künf-
tige, sondern um tatsächlich eingetretene Verbrauchsdaten handelt, muss der
maßgebliche Referenzzeitraum der Angebotsabgabe zeitlich vorangehen. Nur
dann kann der Netzbetreiber seiner Verpflichtung zur Prüfung der Anspruchs-
voraussetzungen nachkommen. Auf den noch ungewissen Zeitpunkt der Ge-
nehmigung der Entgeltvereinbarung kann der Netzbetreiber dagegen bei der
Ermittlung des Referenzjahres nicht abstellen.
8
b) Diese Auslegung steht auch in Einklang mit der im Wortlaut ähnlichen
Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 5 StromNEV, nach der die Ermittlung der Kosten
und Netzentgelte auf der Basis der Daten des letzten abgeschlossenen Ge-
schäftsjahres erfolgt. Insoweit geht auch die Bundesnetzagentur in ihrer ständi-
gen Genehmigungspraxis zu Recht davon aus, dass es sich hierbei um das letz-
te Geschäftsjahr vor der Antragstellung handelt, während für dessen Bestim-
mung dem Genehmigungszeitraum keine Bedeutung zukommt.
9
c) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts spricht auch der
Gesamtzusammenhang der Regelungen in § 19 Abs. 2 StromNEV dafür, dass
das letzte Kalenderjahr im Sinne von Satz 2 als das letzte abgeschlossene Ka-
lenderjahr vor dem Angebot des individuellen Netzentgelts anzunehmen ist.
10
- 6 -
Gemäß § 19 Abs. 2 Satz 8 StromNEV a.F. hat die Regulierungsbehörde
bei Vorliegen der Voraussetzungen ein individuelles Netzentgelt innerhalb von
vier Wochen nach Eingang der vollständigen Unterlagen zu genehmigen. Hier-
durch wird ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Referenzjahr, Abgabe
eines Angebots, Abschluss der Entgeltvereinbarung und Genehmigung herge-
stellt. Durch die Umgestaltung des § 19 Abs. 2 Satz 8 StromNEV in eine Soll-
Vorschrift aufgrund des Gesetzes zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchst-
spannungsnetze vom 21. August 2009 (BGBl. I S. 2870) hat sich hieran im
Grundsatz nichts geändert, weil hierdurch der Regulierungsbehörde lediglich in
begründeten Einzelfällen eine verlängerte Bearbeitungszeit ermöglicht werden
sollte (vgl. BT-Drs. 16/12898, S. 21). Reicht der Netzbetreiber einen genehmi-
gungsfähigen Genehmigungsantrag in den ersten elf Monaten eines Jahres für
das Folgejahr ein, muss die Regulierungsbehörde hierüber noch im Laufe des
Jahres entscheiden, in dem der Antrag gestellt wurde. Referenzjahr i.S. des
§ 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV kann dann nur das Vorjahr sein, weil für das lau-
fende Jahr noch keine endgültigen Verbrauchsdaten vorliegen. Daher kann sich
lediglich für Genehmigungsanträge aus dem Monat Dezember die Frage nach
dem maßgeblichen Referenzjahr stellen; aus Gründen der Gleichbehandlung
muss sich aber auch hier das Referenzjahr nach dem Zeitpunkt des Angebots
eines individuellen Netzentgelts oder - falls der Netzbetreiber seiner Verpflich-
tung nicht nachkommt - der Aufforderung des Letztverbrauchers zur Abgabe
eines solchen Angebots richten.
11
Etwas anderes ergibt sich, anders als das Beschwerdegericht meint,
auch nicht aus § 19 Abs. 2 Satz 10 StromNEV. Danach erfolgt die Vereinbarung
eines individuellen Netzentgelts unter dem Vorbehalt, dass seine jeweiligen
Voraussetzungen nach den Sätzen 1 bis 4 tatsächlich eintreten. Diese sich un-
mittelbar aus der Stromnetzentgeltverordnung ergebende Regelung, die von
den Vertragsparteien auch dann zu beachten ist, wenn sie nicht ausdrücklich in
12
- 7 -
die Vereinbarung des individuellen Netzentgelts aufgenommen worden ist, hat
zur Folge, dass die Abrechnung der Netznutzung trotz erteilter Genehmigung
nach den allgemein gültigen Netzentgelten vorzunehmen ist, wenn entgegen
der Erwartung der Vertragsparteien die Mindestvoraussetzungen nach § 19
Abs. 2 Satz 2 StromNEV im Genehmigungszeitraum nicht eintreten. Die Vor-
schrift legt fest, dass die Privilegierung der stromintensiven Letztverbraucher
einen entsprechenden tatsächlichen Energieverbrauch auch im Genehmigungs-
zeitraum voraussetzt und es insoweit nicht lediglich auf die der Genehmigungs-
entscheidung zugrunde liegenden und auf den Verbrauchsdaten des zurücklie-
genden Referenzjahres fußenden Prognose ankommt, sondern diese Entschei-
dung sogar zurücktritt. Aufgrund dessen besagt diese Norm auch nichts zu der
Frage nach dem maßgeblichen Referenzjahr und insbesondere nichts dazu, ob
das Referenzjahr dem Genehmigungszeitraum unmittelbar vorauszugehen hat.
d) Schließlich sprechen auch der Sinn und Zweck des § 19 Abs. 2 Satz 2
StromNEV für die Auslegung, unter dem letzten Kalenderjahr im Sinne dieser
Vorschrift das letzte abgeschlossene Kalenderjahr vor dem Angebot des indivi-
duellen Netzentgelts zu verstehen. Die Kostenreduktion für den stromintensiven
Letztverbraucher findet ihre Rechtfertigung darin, dass dieser - wie aus der wei-
teren Voraussetzung nach § 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV hervorgeht - zu einer
Senkung oder zu einer Vermeidung der Erhöhung der Netzkosten beiträgt, in-
dem er auf den Anschluss an eine höhere Netzebene verzichtet. Um diese Ent-
scheidung nach § 17 EnWG in wirtschaftlich vernünftiger Weise treffen zu kön-
nen, muss sich der Letztverbraucher darauf verlassen können, dass das Refe-
renzjahr, das dem Angebot des Netzbetreibers nach § 19 Abs. 2 Satz 2
StromNEV oder seiner eigenen Prüfung eines möglichen Anspruchs auf Abgabe
eines solchen Angebots zugrunde liegt, auch noch im Genehmigungsverfahren
Geltung hat. In diesem Zusammenhang ist auch die vom Verordnungsgeber in
§ 19 Abs. 2 Satz 8 StromNEV bestimmte Bearbeitungsfrist zu sehen.
13
- 8 -
14
e) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerdeerwiderung führt die-
se Auslegung auch nicht zu einer vom Verordnungsgeber nicht beabsichtigten
unterschiedlichen Genehmigungspraxis. Eine solche ließe sich nur vermeiden,
wenn die Regulierungsbehörde alle Genehmigungsanträge, die sich auf densel-
ben Genehmigungszeitraum beziehen, frühestens zu Beginn dieses Zeitraums
bescheiden würde, weil erst dann die Verbrauchsdaten für das Vorjahr festste-
hen. Eine solche Genehmigungspraxis widerspräche aber der vom Verord-
nungsgeber in § 19 Abs. 2 Satz 8 StromNEV vorgegebenen Bearbeitungsdauer
(hierzu siehe oben II 2 c).
III. Die angefochtenen Entscheidungen sind danach aufzuheben. Die
Bundesnetzagentur ist zur Neubescheidung der Beigeladenen unter Beachtung
der Rechtsauffassung des Senats zu verpflichten. Zu einer eigenen Sachent-
scheidung ist der Senat - schon im Hinblick auf fehlende Feststellungen zu den
weiteren Voraussetzungen des § 19 Abs. 2 Satz 3 und 4 StromNEV - nicht be-
fugt.
15
- 9 -
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 90 EnWG.
16
Tolksdorf Raum Strohn
Grüneberg
Bacher
Vorinstanz:
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 14.01.2009 - VI-3 Kart 44/08 (V) -