Urteil des BGH vom 01.10.2015

Irak, Staat, Syrien, Untersuchungshaft

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
A K 3 1 / 1 5
vom
1. Oktober 2015
in dem Strafverfahren
gegen
wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung u.a.
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-
desanwalts sowie des Angeschuldigten und seiner Verteidiger am 1. Oktober
2015 gemäß §§ 121, 122 StPO beschlossen:
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundes-
gerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandes-
gericht Düsseldorf übertragen.
Gründe:
I.
Der Angeschuldigte, der deutscher und türkischer Staatsangehöriger ist,
wurde am 4. März 2015 vorläufig festgenommen und befindet sich seit diesem
Tag aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs
vom 20. Januar 2015 (2 BGs 24/15), der am 5. März 2015 ergänzt wurde
(2 BGs 142/15), ununterbrochen in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haft-
befehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe sich spätestens seit 15. Okto-
ber 2013 als Mitglied an der ausländischen terroristischen Vereinigung "Islami-
scher Staat im Irak und Großsyrien (ISIG)" beteiligt und tateinheitlich eine
schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet (§ 89a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1
und 2, Abs. 3, Abs. 4 Satz 1, § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2, § 129b Abs. 1
Satz 1 und 2, § 52 StGB). Der Generalbundesanwalt hat unter dem 11. Juni
2015 Anklage vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf erhoben; mit dieser wirft
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er dem Angeschuldigten außerdem vor, aus niedrigen Beweggründen einen
Menschen getötet zu haben.
II.
Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft und ihrer Fortdauer über
sechs Monate hinaus sind gegeben. Der Senat stützt seine Entscheidung allein
auf die dem Angeschuldigten in den Haftbefehlen vorgeworfene Beteiligung an
einer terroristischen Vereinigung im Ausland. Im Einzelnen:
1. Nach den bisherigen Ermittlungen ist im Sinne eines dringenden Tat-
verdachts im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt auszugehen:
a) Die Vereinigung Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien (ISIG)
bzw. Islamischer Staat (IS):
aa) Beim Islamischen Staat im Irak und in Großsyrien (im Folgenden:
ISIG) handelte es sich um eine Organisation mit militant-fundamentalistischer
islamischer Ausrichtung, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, einen das Gebiet
des heutigen Irak und die historische Region "ash-Sham" - die heutigen Staa-
ten Syrien, Libanon und Jordanien sowie Palästina - umfassenden und auf ihrer
Ideologie gründenden "Gottesstaat" zu errichten. Wer sich den Ansprüchen
dieser Vereinigung entgegensetzte, wurde begriffen als "Feind des Islam"; die
Tötung solcher "Feinde" oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte hielt sie
für ein legitimes Mittel des Kampfes.
Die Organisation geht zurück auf die von Abu Musab al-Zarqawi Anfang
2004 als Widerstandsgruppe gegen die US-Präsenz im Irak gegründete "Ja-
ma'at at-Tauhid wal-Dschihad" ("Gemeinschaft der göttlichen Einheit und des
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Kampfes"). Im Oktober 2004 leistete al-Zarqawi den Treueeid auf Osama bin
Laden und dessen Al-Qaida, worauf sich die Gruppierung umbenannte in "Tan-
zim Qa'idat al-Jihad fi Bilad ar-Rafidain" ("Organisation der Basis des Jihad im
Zweistromland") und bekannt wurde als "Al-Qaida im Irak (AQI)". Im Dezember
2005 ernannte bin Laden al-Zarqawi zu seinem Stellvertreter im Irak. Die AQI
trat zunächst hervor mit Angriffen auf zivile Angehörige westlicher Staaten im
Irak, die Opfer von Anschlägen, Entführungen und - auf sodann verbreiteten
Videofilmen festgehaltenen - Hinrichtungen wurden. Ab Herbst 2005 verlegte
sie sich auf medienwirksame Sprengstoffanschläge, vornehmlich in Bagdad
und im Nordwestirak, aber am 9. November 2005 auch auf mehrere Hotels in
Amman/Jordanien.
Anfang 2006 schloss sich die AQI zunächst unter der Dachorganisation
"Schura-Rat der Mudschaheddin im Irak" mit weiteren Gruppierungen zusam-
men. Nach al-Zarqawis Tod im Juni 2006 rief dessen Nachfolger Abu Ayyub al-
Masri im Oktober 2006 einen das Gebiet von Bagdad und mehrere Nordwest-
provinzen des Irak umfassenden islamischen Staat aus und benannte den Zu-
sammenschluss um in "ad-Dawlat al-Islamiya fil-Iraq" ("Islamischer Staat im
Irak", ISI oder auch IStI). Ziel der hierarchisch strukturierten, über eine straffe
militärische Organisation verfügenden Vereinigung war der Schutz der Sunniten
im Irak, die Vernichtung der "abtrünnigen Verräter" und das "Niedermetzeln"
der feindlichen "Kreuzfahrer". Der ISI sah sich als selbständiger Zweig der Al-
Qaida und teilte deren Ziele und Zwecke, die er mit Anschlägen gegen Politiker,
irakische Einrichtungen und Sicherheitskräfte, die im Irak stationierten westli-
chen Truppen, aber auch gegen die Zivilbevölkerung zu erreichen suchte.
bb) Nach der Tötung al-Masris wurde Abu Bakr al-Baghdadi sein Nach-
folger. Unter dessen Führung beteiligte sich der ISI auch am syrischen Bürger-
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krieg; er sah darin die Gelegenheit, seinen Einfluss nach Syrien auszudehnen,
wo die Vereinigung aufgrund der vielen aus Syrien stammenden, im Irak einge-
setzten Kämpfer über eine gut ausgebaute Infrastruktur verfügte. Dabei koope-
rierte der ISI unter anderem mit der 2011 in seinem Auftrag und mit seiner Un-
terstützung in Syrien gegründeten, vom Syrer Muhammad al-Jawlani angeführ-
ten Jabhat al-Nusra (im Folgenden: JaN), deren Aktionen sich vornehmlich ge-
gen Einrichtungen und Angehörige der Assad-Armee richteten. Nach dem Wil-
len al-Baghdadis sollte die JaN unmittelbar dem Einfluss des ISI unterstehen;
der wachsende Einfluss der JaN in Syrien führte indes innerhalb dieser Verei-
nigung zu wachsenden Bestrebungen nach Selbständigkeit. Als al-Baghdadi
als Reaktion darauf im April 2013 die Vereinigung von ISI und Jabhat al-Nusra
zum "Islamischen Staat im Irak und in Großsyrien (ISIG)" verkündete, wider-
sprach al-Jawlani dem und leistete seinerseits den Treueeid auf al-Zawahiri,
worauf dieser den Zusammenschluss annullierte und beide Parteien zur Beile-
gung ihrer Streitigkeiten auf der Grundlage einer Gebietsabgrenzung - ISIG im
Irak, Jabhat al-Nusra in Syrien - aufrief. Dies führte zum Bruch al-Baghdadis
sowohl mit Al-Qaida als auch mit der Jabhat al-Nusra. Anfang des Jahres 2014
kam es zu auch militärischen Auseinandersetzungen mit anderen syrischen
Oppositionsgruppen, innerhalb derer der ISIG zwischenzeitlich weitgehend iso-
liert ist.
cc) Gleichwohl gelang es ihm, sich in einigen Regionen Nordsyriens als
Ordnungsmacht festzusetzen. Aus dem Kampf gegen das Assad-Regime zog
sich die Organisation in der Folge weitgehend zurück und konzentrierte sich in
Syrien auf die Machterhaltung in den von ihr beherrschten Gebieten. Angehöri-
ge anderer Oppositionsgruppen sowie die Teile der Zivilbevölkerung, die den
Herrschaftsanspruch des ISIG in Frage stellten, sahen sich Verhaftung, Folter
und Hinrichtung ausgesetzt. In der Folge verlagerte der ISIG seine kämpferi-
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schen Aktivitäten zunehmend in den Irak, wo es ihm Anfang Juni 2014 u.a. ge-
lang, die Stadt Mossul in seine Gewalt zu bringen.
Am 29. Juni 2014 verkündete ein Sprecher des ISIG in einer Audiobot-
schaft die Ernennung des "Emirs" Abu Bakr al-Baghdadi zum "Khalifen" (Nach-
folger des Propheten) und die Umbenennung des ISIG in "ad-Dawlat al-
Islamiya/Islamischer Staat (IS)". Gleichzeitig rief er die Muslime weltweit auf,
dem Khalifen Gehorsam zu leisten. Dies verdeutlicht - bei Beibehaltung der
bisherigen ideologischen Ausrichtung - eine Abkehr von der regionalen Selbst-
beschränkung auf ein "Großsyrien" und die Erhebung eines Führungs- und
Herrschaftsanspruchs in Bezug auf das gesamte "Haus des Islam".
b) Die Tathandlungen des Beschuldigten:
Der Angeschuldigte, der sich seit 2010 mit islamistischem Gedankengut
befasste, entschied sich spätestens Anfang 2013, sich kämpfend am Bürger-
krieg in Syrien zu beteiligen. Zu diesem Zweck reiste er am 3. März 2013 nach
Syrien, wo er sich im Umgang mit Schusswaffen ausbilden ließ. Spätestens im
September 2013 schloss er sich dort der terroristischen Vereinigung "Islami-
scher Staat im Irak und Großsyrien (ISIG)" an. Er unterwarf sich der Befehls-
gewalt der Terrormiliz, legte gegenüber dem Befehlshaber seiner Kampfeinheit
den Treueeid auf den Anführer des "ISIG" ab und nahm ab Oktober 2013
mehrfach an Kampfeinsätzen teil. Außerdem leistete er als Kämpfer Wach-
dienste. Vom 25. Januar 2014 bis zum 1. Juli 2014 hielt er sich vorübergehend
in Deutschland auf, um sich zur Wiederherstellung seiner Kampffähigkeit ärzt-
lich behandeln zu lassen. Danach reiste er erneut nach Syrien, wo er wiederum
an Kampfhandlungen des "ISIG" bzw. "IS" teilnahm. Am 13. Januar 2015 wur-
de er in der Türkei festgenommen und in der Folge nach Deutschland ausgelie-
fert.
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2. Der dringende Tatverdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO
bezüglich der Vereinigung "Islamischer Staat im Irak und Großsyrien (ISIG)"
ergibt sich insbesondere aus einem Gutachten des Sachverständigen
Dr. S. vom 7. März 2015 sowie einem Auswertebericht des Bun-
deskriminalamts vom 6. März 2014. Der Angeschuldigte hat sich zu den gegen
ihn erhobenen Vorwürfen bisher nicht eingelassen. Der dringende Verdacht
folgt insoweit unter anderem aus den aus der Telekommunikationsüberwa-
chung und der Durchsuchung der Wohnung der Lebensgefährtin des Ange-
schuldigten am 31. Juli 2014 gewonnenen Erkenntnissen, insbesondere dem
Inhalt der Protokolle über die Chatkommunikation des Angeschuldigten mit sei-
ner Mutter, B. , mit seiner Lebensgefährtin, J. ,
und mit O. . Er gründet zudem auf den Zeugenaussagen der
J. , K. , G. und Ö.
sowie der Auswertung zahlreicher Asservate. Hinsichtlich der weiteren Einzel-
heiten wird auf die ausführlichen Darlegungen im Haftbefehl vom 20. Januar
2015 sowie der Anklageschrift Bezug genommen.
Danach ist eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür gegeben, dass der Ange-
schuldigte sich wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen
Vereinigung im Ausland nach § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2, § 129a Abs. 1 Nr. 1,
Abs. 2 Nr. 2 StGB strafbar gemacht hat.
Die gemäß § 129b Abs. 1 Satz 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur
strafrechtlichen Verfolgung von Mitgliedern oder Unterstützern der ausländi-
schen terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat im Irak und Großsyrien
(ISIG)", die deutsche Staatsangehörige sind, sich in der Bundesrepublik
Deutschland aufhalten oder hier tätig werden, hat das Bundesministerium der
Justiz und für Verbraucherschutz am 6. Januar 2014 erteilt. Seit dem 11. April
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2014 liegt darüber hinaus eine Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung
des Angeschuldigten vor.
Angesichts des dringenden Tatverdachts in dem aufgezeigten Umfang
kann im Rahmen dieser Haftprüfung offen bleiben, ob der Angeschuldigte - wie
ihm im Haftbefehl vom 20. Januar 2015 vorgeworfen wird - mit hoher Wahr-
scheinlichkeit auch die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorbereitung
einer staatsgefährdenden Gewalttat nach § 89a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 2,
Abs. 3, Abs. 4 Satz 1 StGB erfüllt hat und wie gegebenenfalls das Konkurrenz-
verhältnis zwischen diesem Straftatbestand und den §§ 129a, 129b StGB zu
beurteilen wäre.
3. Es besteht aus den in den Haftbefehlen dargestellten Gründen der
Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) sowie der Haftgrund der
Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO). Die zu erwartende Strafe übt einen
hohen Fluchtanreiz auf den Angeschuldigten aus. Ausreichend tragfähige sozi-
ale oder berufliche Bindungen im Inland, die geeignet sind, diesem Anreiz
maßgeblich entgegen zu wirken, bestehen nicht. Es ist deshalb zu erwarten,
dass der Angeschuldigte, in Freiheit belassen, sich dem Verfahren entziehen
würde. Der Zweck der Untersuchungshaft kann nicht durch weniger einschnei-
dende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO).
4. Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über
sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben. Die besondere
Schwierigkeit und der Umfang des Verfahrens haben ein Urteil noch nicht zuge-
lassen.
Nach der Festnahme des Angeschuldigten am 12. Februar 2015 waren
u.a. noch die durch umfangreiche Telekommunikationsüberwachungsmaß-
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nahmen gewonnene Erkenntnisse auszuwerten. Gleichwohl hat der General-
bundesanwalt bereits am 11. Juni 2015 Anklage zum Oberlandesgericht Düs-
seldorf erhoben. Am 17. Juni 2015 hat der Vorsitzende des zuständigen Straf-
senats deren Zustellung verfügt. Nach Ablauf der - auf Antrag des Verteidigers
verlängerten - Erklärungsfrist nach § 201 Abs. 1 Satz 1 StPO soll nach Aus-
kunft des Oberlandesgerichts zeitnah über die Eröffnung des Hauptverfahrens
entschieden werden. Für den Fall der Zulassung der Anklage ist ein Beginn der
Hauptverhandlung im Oktober oder November 2015 in Aussicht gestellt.
5. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht zu dem gegen den
Angeschuldigten erhobenen Tatvorwurf der mitgliedschaftlichen Beteiligung an
einer terroristischen Vereinigung im Ausland, der diese Entscheidung trägt, und
der hierfür zu erwartenden Strafe nicht außer Verhältnis (§ 112 Abs. 1 Satz 2
StPO).
Becker Schäfer Spaniol
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